El Salvador | Nummer 343 - Januar 2003

Weiße Flüsse in den Straßen

Seit über achtzig Tagen wird im Gesundheitswesen gestreikt

Seit September 2002 dauert der Streik im salvadorianischen Gesundheitswesen an. Sah es zwischenzeitlich so aus, als sei der Streik gewonnen, der Privatisierung ein Riegel vorgeschoben und das Ende des Ausstandes nur mehr eine Formsache, so ist mittlerweile klar geworden, dass die Regierungspartei ARENA nicht gewillt ist, die Niederlage hinzunehmen. Der Ausgang dieses Konfliktes ist nach wie vor ungewiss.

Franco Weiss

Das hat es in El Salvador seit Anfang der Achtzigerjahre nicht mehr gegeben: Gleich mehrmals verwandelten zehntausende Menschen die Hauptstraßen von San Salvador in “weiße Flüsse”, wie selbst die ansonsten mit Zahlen von linken Demonstrationen eher konservativ umgehende Tageszeitung La Prensa Gráfica zu berichten wusste. Viermal sind die Menschen durch die Hauptstadt defiliert, um ihrer Solidarität mit dem Streik des Gesundheitspersonals Ausdruck zu verleihen, der vor allem von den ÄrztInnen getragen wird. Neben schätzungsweise 5.000 der 7.000 im Land existierenden ÄrztInnen demonstrierten Angestellte aus dem Gesundheitsbereich, Gemeindeangestellte, Staatsangestellte, Angehörige von Basisorganisationen und sogar Busfahrer und -besitzer gegen die beabsichtigte Privatisierung des Gesundheitswesens. Die nationale Universität setzte den Vorlesungsbetrieb weitgehend aus und forderte Studis und DozentInnen zur Demonstrationsteilnahme auf. In mehreren Provinzhauptstädten kam es zu Demonstrationen, ein lange nicht gesehenes Phänomen in einem Land, in dem sich alles in der Hauptstadt konzentriert. Zwar sind die Leute alles andere als glücklich über die kilometerlangen Fußmärsche und Verspätungen wegen Verkehrszusammenbrüchen, aber außer den Industriellen, die über Produktionsausfälle klagen, sind kaum negative Stimmen zu hören.

Bevölkerungsdruck bewegt

Es war dieser Druck von breiten Bevölkerungsschichten, der im Parlament zu einem sonst seltenen “alle gegen ARENA” geführt hat. Um einer Ablehnung seines nicht abgestimmten Vorschlages zuvorzukommen, bat der Präsident diesen doch bitte für die kommenden sechs Monate ins Archiv zu versenken. Aber es kam noch dicker. Ein Antiprivatisierungsdekret wurde mit Zweidrittelmehrheit und gegen die Stimmen der Regierungspartei verabschiedet und vom Präsidenten mit Anmerkungen versehen ans Parlament zurückgegeben. Unter massivem sozialen Druck waren auch die eher auf Mauscheleien bedachten Rechtsparteien gezwungen das Dekret in seiner ursprünglichen Form zu bestätigen. Somit dürfen Leistungen, die von der Sozialversicherung und dem Gesundheitsministerium selbst erbracht werden können, nicht mehr privat vergeben werden. Da die Verträge zum Jahresende auslaufen, bedeutet dies ein vorläufiges Ende der scheibchenweisen Privatisierungen von Wäscherei, Verpflegung, La-bortests, Untersuchungen, Abfallentsorgung bis hin zu chirurgischen Operationen.
Es war der Druck der Straße, der die Regierung dazu gebracht hat, schließlich direkte Verhandlungen auf höchster Ebene mit den ÄrztInnen aufzunehmen. Der Präsident sah sich gezwungen mehrere Stunden am Verhandlungstisch zu verbringen, nachdem er sich wochenlang geweigert hatte überhaupt zu verhandeln.
In diesem Sinne hatte die Antiprivatisierungsbewegung einen Sieg auf der ganzen Linie erfochten. Sofort wurden Stimmen laut, welche ähnliches Vorgehen im Fall der Privatisierung der Trinkwassersysteme, der Elektrizitätsübertragung und Förderung mittels Wasserenergie (der Rest ist bereits privatisiert) forderten und auch eine erneute Verstaatlichung von Teilbereichen nicht ausschließen.

Versuch der Gewalteskalation

Nach der Annahme des besagten Dekrets Mitte November schien der Weg frei zu sein für ein Ende der Arbeitsniederlegung. Aber die Weigerung der Regierung, alle Kündigungen zurückzunehmen und die zurückgehaltenen Löhne auszubezahlen, fachte das Feuer erneut an. Waren die Proteste wochenlang ohne Auseinandersetzungen mit der Polizei verlaufen, schien diese trotz internationaler Medienpräsenz anlässlich der Zentralamerikanischen und Karibischen “Olympiade”, ihre Zurückhaltung aufzugeben. Mehrere kleine Demonstrationen und Straßensperren wurden angegriffen. Aber die vierte “weiße” Demonstration – alle TeilnehmerInnen kommen in Weiß und es wird zum Verzicht auf jegliche Gewalt aufgerufen – zeigte erneut: ohne Polizei kein Krawall. Zeitgleich mit dem Marathon als Schlussveranstaltung der Sportspiele defilierten Zehntausende durch die Hauptstadt und demonstrierten eindrucksvoll, dass der Versuch der sozialen und politischen Isolation der Bewegung durch die Regierung zumindest bislang gescheitert ist.

Aufwind für die Linke

Zwar haben sowohl die Regierung als auch die ARENA in diesem Konflikt an Popularität eingebüßt und den Zorn von traditionell gar nicht als progressiv bekannten Sektoren, wie den ÄrztInnen, auf sich gezogen. Ebenso hat die linke FMLN gezeigt, was von ihr ohnehin erwartet wurde: aktive Solidarität und Unterstützung der Protestbewegung. Dass dies ohne die traditionelle Instrumentalisierung gelungen ist, stellt einen bemerkenswerten Erfolg für die Partei dar. Angesichts der für März angesetzten Gemeinde- und Parlamentswahlen könnte dies der FMLN dringend notwendigen Sauerstoff zuführen, um die kontinuierliche Schwächung der letzten Jahre wegen interner Streitigkeiten auszugleichen. Eine soziale Bewegung dieses Ausmaßes hat es der FMLN ermöglicht, im Parlament als Sprachrohr derselben aufzutreten und deren Anliegen mit enormem Rückhalt zu vertreten, anstatt, wie nur all zu oft, alleine gegen die neoliberalen Vorlagen zu wettern. Allerdings wird die dadurch vertiefte Polarisierung im Land der Linken kaum mehr Stimmen zuführen, die – irrationale und gezielt geschürte – Angst vor einer Neuauflage des vor elf Jahren beigelegten Konfliktes sitzt bei vielen Menschen nach wie vor sehr tief.

FMLN mit lachendem und blauem Auge

Dazu kommt der Abgang des wahltaktischen Paradepferdchens der FMLN. Der seit 1997 die Hauptstadt mit großer Popularität regierende Bürgermeister Hector Silva ließ sich noch im September als Kandidat für die kommenden Wahlen bestätigen und unterstrich somit seine Präsidentschaftsabsichten für den Urnengang 2004. Ende Oktober besann er sich dann eines Besseren. Gegen den erklärten Willen seiner Partei und der Ärzt-Innen und nach Gesprächen unter vier Augen mit dem Präsidenten bot er sich als Vermittler des Konfliktes an, was vom Präsidenten umgehend akzeptiert wurde, unter der Bedingung, dass er seine Kandidatur niederlege. Der seine Autonomie als „Privatperson” reklamierende Silva scheint dies akzeptiert zu haben, handelte sich umgehend einen Rüffel seiner Partei ein und wurde als Bürgermeisterkandidat für die Hauptstadt abgesetzt. Die Su-che nach einem Ersatz für ihn, der auch für die anderen Bündnispartner der bisherigen Koalition tragbar wäre, ist noch im Gange.
Über die Motive von Silva sich derart aus der Affäre zu ziehen, wurde viel spekuliert. Da waren einerseits Umfrageresultate, die ihm eine Niederlage gegen die Rechtskandidatin, die ehemalige Erziehungsministerin und vormals linke Aktivistin Evelyn Jacir prophezeiten. Als gesichert gilt, dass die Handlungsweise von Silva von Botschaftern der kolonialen und neokolonialen Mächte, sprich Spanien und USA, wärmstens empfohlen wurde.

Streik ohne Ende?

Auch nach 80 Tagen zeigt der Streik noch keine Schwäche, sind die Proteste in den Krankenhäusern solide verankert, obwohl die Mittel in vielen kommunalen Haushalten knapp werden. Die Regierung scheint einen Kollaps des Gesundheitssystems in Kauf zu nehmen, hofft auf eine soziale Isolation des Ausstandes, um diesen danach zerschlagen zu können. Bislang hat das Wissensmonopol der ÄrztInnen massive Kündigungen verhindert und der soziale Druck das Parlament bewegen können. Diese beiden Faktoren, zusammen mit der Geschlossenheit der Bewegung, werden es sein, die die Auseinandersetzung schlussendlich trotz Versuchen von Gewalteskalation und juristischen Winkelzügen durch die Regierung entscheiden werden.

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