Wenn das Erdgas knapp wird
Argentiniens Energiekrise zwingt die Regierung zum Handeln
Zunächst die gute Nachricht: Argentiniens Wirtschaft wächst wieder, schneller und stärker als in den kühnsten Visionen angenommen. Über zehn Prozent Wirtschaftswachstum wird für dieses Jahr vorhergesagt. Nun die Schlechte: Ein solches Wachstum benötigt Energie. Die aber ist knapp geworden. Der argentinische Energiesektor war in den 1990er Jahren privatisiert worden, und seit dem wurde kaum noch investiert, schon gar nicht in Alternativquellen, die die Probleme mit der Hauptenergiequelle, dem Erdgas, ausgleichen könnten. Gestiegene Erzeugungspreise, denen per Gesetz eingefrorene Tarife für die Privathaushalte gegenüberstanden, waren den Energiekonzernen zufolge der Hauptgrund für ihre Zurückhaltung. Dass es infolgedessen zu Engpässen bei der Versorgung mit Erdgas kommen würde, war absehbar. Schon im letzten Winter mussten Industriebetriebe Kürzungen hinnehmen. Doch hatte die Regierung erst in zwei bis drei Jahren mit ernsthafteren Konsequenzen gerechnet und darüber hinaus dem Energiesektor – als einem von vielen dringenden Problemen im Land – wenig Beachtung geschenkt. Die Rechnung dafür könnte teuer werden, denn der Energiemangel kann schätzungsweise bis zu 2,5 Prozent des Wirtschaftswachstums kosten.
Wirtschaftsfaktor Energieversorgung
Die Krise bei der Erdgasversorgung betrifft jedoch nicht nur Argentinien, sondern auch die Nachbarländer Chile und Uruguay. Allein Chile importiert 90 Prozent seines Gases aus Argentinien und muss nun Importkürzungen hinnehmen, die dem Andenland schon Stromausfälle und Tariferhöhungen von zwei bis drei Prozent einbrachten. Eingesprungen sind Bolivien und Venezuela, die aus dieser Krise Gewinn ziehen. Täglich vier Millionen Kubikmeter Gas fließen allein aus Bolivien nach Argentinien. Dabei wurde das Erdgas zu politischem Zündstoff für die Region, die nur knapp einem diplomatischen Debakel entging. Vor kurzem drohte Bolivien erneut mit Lieferstopp, sollte Argentinien das Gas an Chile weiter exportieren. Bolivien und Chile entzweit eine über hundert Jahre alte Feindschaft.
Inzwischen sind in Argentinien aufgrund der Gasknappheit die Industriepreise für den Energieträger um 15 bis 36 Prozent gestiegen. Vor allem sehr energieaufwändige Bereiche wie die Aluminiumindustrie bekommen den Mangel zu spüren. Für diesen Winter (Mai bis September) rechnet die Regierung mit Versorgungsunterbrechungen für die Industrie von mindestens 70 Tagen. Alleine im Mai waren mehr als 200 Betriebe betroffen. Einige Fabriken können auf Versorgung mit Erdöl umstellen. In anderen wird die Produktion geändert. So wurde zum Beispiel die Herstellung von Milchpulver, für welche die Milch erhitzt werden muss, aufgegeben und statt dessen Käse daraus gemacht.
Konsequenzen in der Politik
Von der Krise getrieben verabschiedete die Regierung unter Präsident Néstor Kirchner einen Plan zur Sanierung des Energiesystems. In den nächsten fünf Jahren sollen über 11 Milliarden Pesos (circa drei Milliarden Euro) in den Ausbau und die Verbesserung der Infrastruktur fließen – wobei auch das Atomkraftwerk Atucha II und das Wasserkraftwerk Yacyretá berücksichtigt werden sollen. Ein neu zu gründendes nationales Energieunternehmen soll kontrollierend wirken. In verschiedenen Provinzen des Landes wurden zudem die Uhren zurückgestellt, da man sich von der anderen Nutzung der Tageszeit Einsparungen erhoffte. Der Effekt blieb jedoch so gering, dass die Maßnahme wieder zurück genommen wurde.Auch der Bonusplan zum Strom- und Gassparen für Privathaushalte und Gewerbe brachte bisher nicht den erwarteten Erfolg. Wer unter dem Verbrauch des Vorjahres bleibt, erhält Geld gutgeschrieben. Wer ihn überschreitet, muss eine Strafe zahlen. Mit einem ähnlichen Plan konnten in Brasilien im letzten Jahr 20 Prozent des Energiebedarfs eingespart werden. Die Auswirkungen in Argentinien sind bislang jedoch gering. Von diesen Massnahmen erhoffte sich die Regierung, auch weiterhin in der Lage zu sein, die Tarife der Privathaushalte konstant halten zu können, um soziale Härten zu vermeiden. Unfreiwilliger Nebeneffekt der Krise: Der Energiemangel könnte einen Beitrag zum Umweltschutz leisten. Inzwischen wird in Argentinien nicht mehr nur verstärkt recycelt, weil der Import von Rohstoffen seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zu teuer geworden ist. Das fehlende Erdgas führt nun möglicherweise auch zu einem größeren Bewusstsein im Umgang mit nicht erneuerbaren Energien.