Brasilien | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

Wie Shakespeares Hamlet zum Bahiano wurde

Straßenkinder spielen Theater

Shakespeares Hamlet im Straßenkindermilieu Brasiliens: Geht das? Zwi­schen Shakespeares Universum und der brasilianischen Wirklichkeit liegen doch Welten – und Jahrhunderte! Diese Frage stellte sich Volker Quandt, langjähriger Leiter des Tübinger Kinder- und Jugendtheaters, als er zusammen mit der Dramaturgin Vera Achatkin im November 1992 nach Salvador da Ba­hia reiste. Dort sollten sie auf Einladung des Goethe-Instituts an ei­nem deutsch – brasilianischen Kooperationsprojekt über die Situation von Stra­ßenkindern mitarbeiten.

Jutta Bangel

Gemeinsam mit der Theatermacherin und Psychologin Maria Eugenia Milet und Streetworkern des mittlerweile internatio­nal bekannten Straßenkinderprojektes “Projeto Axé” planten sie einen theater­pädagogischen Workshop für etwa 50 Kinder aus allen sozialen Schichten, dar­unter mehrheitlich “KlientInnen” von “Projeto Axé” und einigen Mitgliedern der Jugendtheatergruppe NOSSA CARA. Vier Monate lang wollten die Workshop-TeilnehmerInnen das Thema Gewalt in Improvisations- und Rollenspielen bear­beiten. Damit sollte den Kindern die Möglichkeit gegeben werden, ihre trau­matischen Erfahrungen des Straßenlebens spielerisch auszudrücken und aufzuarbei­ten. Als künstlerisches Ergebnis dieses gemeinsamen Lernprozesses war von An­fang an eine Theaterproduktion über das Leben der “meninos da rua” (Str­aßen­kinder) angepeilt. Eine mögliche Vorlage für ein solches Theaterstück hatte Volker Quandt im Reisegepäck: das Ma­nuskript von Shakespeares Hamlet. Außer einer guten Story – so schreibt Quandt in einem Bericht über seine brasilianischen Erfahrungen – reizten ihn am HAMLET die klassischen Motive wie Macht, Verrat, Liebe und Tod und deren Übertragbarkeit auf die aktuelle Situation eine Straßenkin­derbande. Da die HAMLET-Idee jedoch auf keinen Fall die theaterpädagogische Arbeit beeinflussen sollte, blieb Shake­speares Klassiker wochenlang in Quandts Reisegepack vergraben, aber natürlich er­hoffte sich das Dreiergespann Quandt/ Achatkin/Milet aus der Work­shoparbeit Inspirationen für die spätere Theater­produktion.
Grünes Licht für Hamlet
Tatsächlich förderten die intensiven Im­provisationsarbeiten mit den Kindern und Jugendlichen reichlich “Material” zu Tage: Da wurden zerrüttete Familienver­hältnisse und die Konfrontationen mit der Polizei dramatisiert, Überfälle und erlebte Vergewaltigungen nachinszeniert und das Verhältnis zu Drogen problematisiert. Immer wieder – so erzählt Quandt – erga­ben sich erstaunliche Parallelen zur HAMLET-Geschichte: “Ein 17-jähriger improvisiert einen seiner immer wieder­kehrenden Träume. Sein bester Freund ist vor kurzem von der Polizei erschossen worden. Nun erscheint ihm im Traum der Geist seines Freundes und fordert Ra­che…Hamlets Geist! Bei Rollenspielen über die Machtstruktur in einer Stra­ßen­bande kristallisiert sich schnell ein “An­führerpärchen” heraus. Die Kinder ge­ben ihm den Namen Cabeça (Kopf), sie heißt Rainha (Königin)….Claudius und Gertrud! Immer wieder stehen die Schick­sale der Mädchen im Mittelpunkt der Im­provi­sa­tionen: wie sie auf der Straße “gelandet” sind, welche Rolle sie in den Kinder­banden spielen und ihr Verhältnis zur Se­xualität, das fast immer als gestört dar­gestellt wird. Einige Mädchen spielen ihre kollektive Vergewaltigung durch … Ham­lets Ofelia!”
Für den Tübinger Theaterregisseur reichen diese Parallelen aus, um grünes Licht für das HAMLET-Experiment zu geben: Zu­sammen mit der Theatergruppe NOSSA CARA unter der Leitung von Maria Eu­genia Milet machen sich Quandt und Achatkin an die zweimonatigen Probenar­beiten, um die szenischen Ergebnisse des pädagogischen Workshops in den drama­tischen Handlungsablauf von Shakespea­res HAMLET einzupassen. Im folgenden “Bahianisierungsprozeß” mußte sich dann der europäische Klassiker etliche Verän­derung gefallen lassen: Figuren wurden umbenannt, andere hinzugefügt, aktuelle Bezüge aus dem Alltagsleben Salvadors eingefügt und mit afro-bahianischer Mu­sik unterlegt. Ob beim dumpfen Trauer­marsch zu Beginn des “Straßenhamlet” (so der deutsche Titel des Theaterstücks) oder beim Samba-Reggae, der eine Kampf-szene innerhalb der Straßenbande unter­malt, den Rhythmus der Aufführung ge­ben die Trommeln an, wichtigstes Instru­ment der afro-bahianischen Musik Salva­dors.
Auch an Shakespeares Textvorlage und Sprache wurde ganz gehörig herumgefeilt. Wochenlang arbeitete die Dramaturgin Vera Achatkin mit Jamerson Felix und Fabio Tobias, um die Subsprache der Straßenkinder Salvadors mit ihren eigenen Wortschöpfungen, die nicht einmal der “Normalbahiano” kennt, so authentisch wie möglich wiederzugeben, ohne dabei gänzlich die Poesie der Originalfassung zu zerstören. Die beiden Jungs hatten selbst Jahre ihres Lebens auf den Straßen Salva­dors verbracht und galten deshalb den 14- bis 19-jährigen LaienschauspielerInnen von NOSSA CARA als unentbehrliche Referenz bei der Erarbeitung von Sprache und Gestik.
Hamlet – Medium der Aufarbeitung
Sein schauspielerisches Naturtalent ver­half Fabio Tobias schließlich zur Hauptrolle des Stücks. Im Spiel des 17-jährigen Brasilianers gewinnt die Frage nach Sein oder Nichtsein eine völlig neue Dramatik; liegen doch der bahianischen Version des klassischen Hamlet-Mono­logs der ganze Erfahrungsschatz von fünf Jahren Leben auf der Straße zugrunde. Fabio Tobias beginnt den selbstent­wickelten Monolog über seine erste Be­gegnung mit Gewalt und Elend auf den Straßen Salvadors immer mit den gleichen Worten. Doch was dann folgt, ist meistens improvisiert. Immer fallen ihm neue Ge­schichten aus seinem Leben ein, oft sehr tragische und brutale Episoden. Er erzählt sie auf eine tragisch-komische Art, so daß die Zuschauer nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen. Außerhalb der Bühne auf seine Vergangenheit als “menino de rua” angesprochen, winkt er nur unwirsch ab. Über diese Zeit mag er heute nicht mehr reden. Wer etwas über das Leben der Straßenkinder Salvadors wissen wolle, solle sich doch einfach das Stück ansehen oder die anderen Mitglieder von NOSSA CARA fragen. Die wüßten schließlich ge­nauso gut wie er, was es heißt, als Kind in den Straßen der brasilianischen Groß­städte sein Überleben sichern zu müssen. Für Fabio Tobias ist der Hamlet zum alter ego geworden, zum Sprachrohr seiner ei­genen, verdrängten Geschichte.
Nach einer sehr erfolgreichen Premiere in Salvador da Bahia im Mai letzten Jahres und sich anschließenden Gastspielen in Rio, Sáo Paulo und Minas Gerais, stellen NOSSA CARA ihren Straßenhamlet im September zum erstenmal dem deutschen Publikum vor. Befragt, was sie sich von der Deutschlandtournee erhofft, antwortet Amaranta (im Stück spielt sie Horatia, die Kaffeeverkäuferin und fester Bezugspunkt der Straßenkinderbande): “Hier in Brasi­lien unterscheidet die Gesellschaft kaum noch zwischen den Straßenkindern und dem Müll, in dem die Kinder leben müs­sen. Ich möchte gern wissen, ob es in Deutschland auch Kinder gibt, die auf der Straße leben und wie die Deutschen damit umgehen.”

Kasten:

Tourneedaten von StraßenHamlet/O rei do trono de barro

Termin Stadt Veranstaltungsort

22.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
23.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
24.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
25.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
26.09. Potsdam Lindenpark
29.09. Kieselbronn Stadthalle
01.10. Stuttgart Treffpunkt Rotebühlplatz
02.10. Tübingen Foyer
03.10. Tübingen Foyer
06.10. Frankfurt Künstlerhaus Mousonturm
07.10. Frankfurt Künstlerhaus Mousonturm
10.10. Hannover Theater am Aegi
11.10. Hannover Theater am Aegi
13.10. München Stadthalle Germering
14.10. München Stadthalle Germering
15.10. Nürnberg Wilhelm-Löwe-Schule
16.10. Nürnberg Wilhelm-Löwe-Schule
19.10. Bochum Bahnhof Langendreer
20.10. Osnabrück Lagerhalle
21.10. Köln Alte Feuerwache

Tourneeplanung: Pachanga Promotions, Tel. 030 – 694 78 32

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