„Wir sind auf alles vorbereitet“
Bericht aus einem Friedenscamp im Lakandonischen Urwald
Als ich am Morgen des 24. Dezember 1996 von San Cristóbal aus aufbrach, um drei Wochen in einem „Campamento por la Paz“ zu verbringen, hatte ich keinerlei Grund zur Annahme, daß etwas Außergewöhnliches vorfallen könnte. Der Dialog zwischen Regierung und EZLN war zwar bereits seit Monaten abgebrochen, doch die Lage war ruhig.
Auch bei meiner Ankunft im Dorf, einer Gemeinde nahe La Garrucha, schien sich dieser Eindruck zu bestätigen. Die Leute kannten mich bereits von vorherigen Aufenthalten und freuten sich, daß jemand die Hütte auf dem Dorfplatz, die aufgrund fehlender BesucherInnen mehrere Wochen leergestanden hatte, mit Leben füllte. Wie jeder Neuankömmling wurde auch ich als erstes nach Neuigkeiten vom Friedensprozeß befragt, denn Zeitschriften und Zeitungen gelangen nur selten in die entlegenen Gemeinden. Ich hatte mir eine La Jornada (linke Tageszeitung aus Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) mitgebracht, deren Erscheinungsdatum zwar schon einige Zeit zurücklag, in der jedoch der Brief vom EZLN-Sprecher Marcos an Präsident Ernesto Zedillo in voller Länge abgedruckt war. In diesem Brief forderte der Sup, mittlerweile zum Range eines comandante avanciert, den mexikanischen Regierungschef auf, die indigene Bevölkerung in Chiapas nicht mehr länger warten zu lassen, einen Schritt in Richtung eines dauerhaften Friedens zu tun und endlich auf die von der EZLN aufgestellten Mindestforderungen zur Wiederaufnahme des Dialogs einzugehen. Außerdem betonte er die Dringlichkeit und Notwendigkeit, daß die ausgearbeitete Gesetzesinitiative zum Schutz der Indigenen Rechte und Kultur vom Staatsoberhaupt unterschrieben werden muß. Eine Woche zuvor hatte der Präsident die endgültige Fassung dieses Abkommens kurz vor ihrer Unterzeichnung abgelehnt, sich eine Frist von zehn Tagen auserbeten und an deren Ende erklärt, daß der nach zähen Verhandlungen von beiden Delegationen unterzeichnete Kompromiß noch einmal von Grund auf überarbeitet werden müsse.
Frustration nach 3 Jahren Krieg
Der dritte Jahrestag des Aufstands wurde in vielen Orten der Selva Lacandona festlich begangen. Über tausend Menschen kamen aus allen Siedlungen der Umgebung zusammen, um drei Tage und Nächte lang zu feiern und zu den Klängen einer in Ocosingo angeheuerten mariachi-Kapelle zu tanzen.
Überraschenderweise waren die indígenas fast unter sich. Nur wenige Menschen aus anderen Teilen Mexikos oder InternationalistInnen waren anwesend. Die sonst immer eingetroffene Karawane „Todo para Todos“ aus Mexiko-Stadt war diesmal nicht nach Chiapas aufgebrochen und auch BeobachterInnen aus anderen Nationen der Welt waren zu Hause geblieben.
Einer der Höhepunkte des Festes war sicherlich die Ansprache des Sup in den ersten Minuten des neuen Jahres. Die Band stoppte und ein tiefbewegter Repräsentant der Gemeinde hielt ein Transistorradio ans Mikrofon, damit alle Versammelten live das von atmosphärischem Prasseln untermalte Kommuniqué des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkommandantur der EZLN vernehmen konnten.
Die Worte des EZLN-Sprechers drückten Besorgnis und Anspannung aus: Nach drei Jahren Krieg in Chiapas stünden die Dinge schlecht, die Regierung hätte 12 Tage Zeit, um ein Entgegenkommen zu signalisieren und bis dahin hieße es Abwarten. Am Ende der Nachricht waren alle Versammelten totenstill. Nach einer Minute rief einer mit sich überschlagender Stimme in die Menge: „Drei Jahre haben wir jetzt ausgehalten und was haben wir erreicht ?“ „Nichts!“ antworteten hunderte indígenas aus dem Dunkel der Nacht.
Die Regierung zeigt ihre Krallen
Das Jahr 1997 hatte schlecht begonnen. Die Stimmung in den Ortschaften verschlechterte sich von Tag zu Tag. Je näher der 11. Januar rückte, ohne daß irgendein Entgegenkommen von der Regierungsseite erkennbar wurde, desto mehr verdüsterten sich die Mienen in den Gesichtern. „Wenn bis zum Zwölften keine Antwort kommt, wird es wieder Krieg geben,“ erzählten mir sowohl ältere als auch jüngere Männer. Und: „Wir haben drei Jahre Zeit gehabt, uns im ganzen Land auszubreiten. In Oaxaca, in México, in Veracruz. Überall gibt es jetzt zapatistas. Wir sind auf alles vorbereitet.“
Vorboten der Aggression
Auch die Regierungstruppen schienen sich auf etwas vorzubereiten. Tag für Tag nahm die Anzahl von Aufklärungsflügen über den Schluchten und Tälern zu. Fast alle 20 Minuten erfüllte das Brummen von großen Hubschraubern den Himmel, die in mehreren hundert Metern Höhe die Dörfer überflogen. Am dritten Januar kam es dann zu einem dramatischen Zwischenfall: Nur wenige hundert Meter vom Friedenscamp entfernt stürzte ein Helikopter der mexikanischen Luftwaffe ab und zerschellte am Boden. Alle BewohnerInnen im Dorf schienen ihren Atem anzuhalten, bis zwei Tage später, nachdem die Leichen der Soldaten geborgen worden waren, ein Abschuß durch die Guerilla von offizieller Seite ausgeschlossen wurde.
Am 11. Januar fand die Einschüchterungskampagne der Bundesarmee ihren vorläufigen Höhepunkt: Gegen Mittag donnerte ein Hubschrauber im Tiefflug über die Stroh- und Wellblechdächer der Holzhäuser hinweg. Eine klare Verletzung einer der in San Andrés getroffenen Vereinbarungen, die der mexikanischen Armee Tiefflüge und Stops in den Gemeinden untersagen. Einige Stunden später wurde das Dorf von einer ängstlichen Aufregung ergriffen. Unzählige indígenas liefen auf dem Dorfplatz zusammen, redeten laut und wild gestikulierend durcheinander und deuteten auf den Himmel: Es war kein Motorengeräusch zu hören und doch war da ein Düsenflugzeug zu erkennen, das in einigen hundert Metern Höhe das Tal überflog. Von einer Frau erfuhr ich den Grund für die Aufregung. Das da oben war eines jener Flugzeuge, die sowohl in den ersten Januartagen 1994 Dörfer und Menschen bombardiert hatten, als auch Vorboten der Regierungsoffensive vom Februar 1995 gewesen waren: Pilatus C-7, mit Bordkanonen und Luft-Bodenraketen bestückte Aufklärungsflugzeuge aus der Schweiz.
Nichts wirklich Neues auf 107.1
Der 11. Januar war ein Samstag. An diesem Tag um sieben Uhr abends ist es Zeit in der Selva Lacandona, das Radio einzuschalten, denn das ist die einzige Stunde in der Woche, in der auf UKW 107.1 „Radio Insurgentes“, der revolutionäre Sender der EZLN, zu empfangen ist. Zwischen Revolutionsliedern aus allen Ecken und Zeiten Lateinamerikas meldet sich ab und zu eine ruhige Indígenastimme, sagt die Zeit an oder grüßt die zuhörenden ZivilistInnen und Milizen. An jenem Abend jedoch kündigte die Stimme schon nach dem ersten Lied eine Botschaft der EZLN-Kommandantur an. Dionicio, einer der Kirchenältesten, saß bei mir am Tisch und spielte voller Enthusiasmus „Schnipp-Schnapp“ mit einem Kind, während sich die Gemeinde draußen allmählich zum Gottesdienst versammelte. Sobald klar wurde, was da über den Äther kommen sollte, strömten mehr und mehr Menschen in meine Hütte, um der lange erwarteten Nachricht zu lauschen. Mit starken Worten wies Marcos die Vorschläge der Regierung zurück und bezeichnete sie als Verspottung der zapatistischen Forderungen. Das Verhalten der Regierung sei eine Provokation zum Krieg. Den indígenas, die in den ersten Januartagen des Jahres 1994 im Kampf um Land und Freiheit ihr Leben gelassen hatten und all jenen Dorfgemeinden, die den Kampf der EZLN unterstützten, sei es geschuldet, den Kampf um die Erfüllung der Forderungen fortzuführen und sich nicht mit einem faulen Kompromiß zufriedenzugeben.
Ein mißverstandenes Erdbeben
Nach Ende der Übertragung war es erst einmal eine Minute lang still, dann kamen die ersten Reaktionen. Niemand schien überrascht. „Was soll’s“, war der Tenor, „dann gibt es halt Krieg. Was haben wir zu verlieren.“ Allgemeines Achselzucken gefolgt von einer gedämpften Diskussion, die in ein erleichtertes Lachen mündete. Schon wurden wieder die ersten Witze gemacht. Dann richtete sich die Aufmerksamkeit auf mich: „Hast du etwa Angst, Nico? Du hast doch Angst, oder?“
Zwar hatte Marcos der Regierung einen Tag Zeit gegeben, dennoch herrschte unter den DorfbewohnerInnen an jenem Abend Nervosität. Wenige Stunden nach dem Kommuniqué kam in den Nachrichten eine Meldung über Stromausfälle in der Hauptstadt und in den westlichen Teilen des Landes. Die Anwesenden zogen sofort den Schluß, daß eine Kampagne der EZLN bereits begonnen habe. Da die Vorstellung, ein Großteil der mexikanischen Bevölkerung sei auf ihrer Seite, bei den DorfbewohnerInnen sehr verbreitet ist, paßte die Idee von den sie unterstützenden Massen, die bereits mit der Lahmlegung des Elektrizitätsnetzes begonnen hätten, genau ins Bild. Doch schon bald erfuhren wir von einem anderen Sender, daß es sich bei den Stromausfällen um die Folgen eines Erdbebens gehandelt hatte.
Am nächsten Morgen verließen 30 bewaffnete junge Männer das Dorf, um die Aufständischen in den Bergen zu verstärken. Auch wenn der Frieden vorläufig gewahrt bleibt, so ist die Lage noch längst nicht entschärft. Es steht in den Sternen, wann die Milizionäre in die Dörfer zurückkehren und bis dahin ist davon auszugehen, daß sich die Zahl der kampfbereiten Guerilleros in den Bergen von Chiapas im Vergleich zu den Wochen davor vervielfacht.