Brasilien | Nummer 330 - Dezember 2001

“Wir sollten die Gerechtigkeit globalisieren“

Ein Gespräch mit dem MST-Vertreter José Batista de Oliveira

Im Rahmen des ATTAC-Kongresses vom 19.-21.Oktober weilte José Batista de Oliveira als Vertreter der brasilianischen Landlosenbewegung MST in Berlin. Nach dem Kongress sprachen LN mit ihm über seinen Werdegang, die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft in Brasilien sowie seine Einschätzung der globalisierungskritischen Bewegung.

Marianne Koch, Sara Ferraro

José, im MST bist du Mitglied der bundesstaatlichen Leitung von São Paulo sowie der nationalen Koordination. Wie ist es dazu gekommen?

Seit meiner Kindheit macht die Zugehörigkeit zur Landlosenbewegung einen Teil meiner Identität aus. Mit meinen Eltern, die Kleinbauern waren, und meinen neun Geschwistern wuchs ich im Landesinneren des Bundesstaat São Paulo auf. Mein Vater war in der Landarbeitergewerkschaft aktiv. Als ich neun Jahre alt war, gab es in unserer Gegend die erste Besetzung eines Großgrundbesitzes. Zwei Jahre später nahm ich mit meinem Onkel an einer Besetzung teil. Ich war sehr gerne dort; mir gefielen die Stimmung und die Feste. Später besetzten auch meine Brüder Land, und seit 1996 mache ich aktiv mit. Ich besuchte dann eine vom MST organisierte zweijährige Ausbildung zum Agrartechniker und begann 1998 für den MST zu arbeiten. Seit über einem Jahr wohne ich jetzt in der Stadt São Paulo und bin beim MST in den Bereichen Koordination und Öffentlichkeitsarbeit tätig.

Welche Rolle spielen die Landwirtschaft und die Landreform in Brasilien?

Seit der Eroberung und Kolonialisierung Brasiliens spielte die Landfrage eine wichtige Rolle. Der koloniale Großgrundbesitz zerstörte die indigenen Formen der Landnutzung. Der große Reichtum Brasiliens steht jedoch eigentlich allen BewohnerInnen dieses Landes zu, genauso wie die genetische Vielfalt und die natürlichen Ressourcen. Deshalb sind wir auch gegen Patente auf Pflanzen und Tiere. Wir wollen ein Brasilien schaffen, in dem niemand vom Zugang zu Land und Nahrung ausgeschlossen wird.

Man hört jedoch gelegentlich den Einwand, in einem Industriestaat wie Brasilien sei die Landverteilung nicht mehr das vordringliche Problem.

Von der brasilianischen Elite wird uns tatsächlich oft vorgeworfen, wir würden uns für etwas einsetzen, das längst keine große Bedeutung mehr hat. Aber man muss bedenken, dass sich die Industrialisierung auf wenige Regionen des Staates konzentriert. Weil es auf dem Land für viele Menschen kaum Überlebensmöglichkeiten gibt, sind viele in diese Zentren gezogen. Heute leben nur noch rund 20 Prozent der BrasilianerInnen auf dem Land. Doch viele dieser neuen StadtbewohnerInnen sind inzwischen arbeitslos geworden und leben an der Peripherie der Städte. Viele würden gerne wieder auf dem Land wohnen, wenn sie die Möglichkeit hätten.

Was erwartet der MST von der brasilianischen Regierung?

Die jetzige Regierung erklärt uns zum Staatsfeind Nummer Eins. Doch um Brasilien vom Übel der Landkonzentration und der Verschuldung zu befreien, wären grundsätzliche Änderungen nötig, die selbst eine linke Regierung nicht ohne öffentlichen Druck bewerkstelligen könnte. Was wir von der Regierung außer der Landreform erwarten, die die unproduktive Landkonzentration beseitigen soll, ist auch eine Verbesserung der ländlichen Infrastruktur. Die Agrarindustrie sollte aufs Land verlegt werden, und außerdem benötigen wir Investitionen in den Bereichen Bildung und Gesundheit.

Du hast als Vertreter des MST am ATTAC-Kongress teilgenommen. Was waren deine Eindrücke?

Ich war vor allem beeindruckt von der Größe der Veranstaltung. Der Kongress war trotz seines Ausmaßes und der bescheidenen finanziellen Mittel sehr gut organisiert. Außerdem ist mir aufgefallen, dass viele sehr erfahrene Leute dabei waren, die sich sehr besonnen und überlegt mit der neuen Bewegung und ihren Möglichkeiten auseinandergesetzt haben.

Wie schätzt du die Bedeutung der globalisierungskritischen Bewegung für die Landlosenbewegung ein?

Die internationale Linke war in den letzten Jahren relativ schwach. In Brasilien waren die Gewerkschaften vor allem in den Achtziger Jahren sehr stark, schlossen sich jedoch nach deren Gründung der Arbeiterpartei PT an und verloren an Radikalität. Die heutige globalisierungskritische Bewegung ist hingegen parteiunabhängig und in ihrer Gestalt sehr vielfältig. Dennoch muss es ihr gelingen, ihre Kräfte zu bündeln, da die Globalisierung die Welt in ein einziges Kasino zu verwandeln droht und uns noch stärker in die Misere reißen wird. Die neue Bewegung ist jedoch nicht gegen die Globalisierung an sich. So ist beispielsweise die Globalisierung des technologischen Wissens oder der Gerechtigkeit durchaus wünschenswert. Unsere Aufgabe ist es nun, zu klären, welche Form der Globalisierung wir wollen. Dazu ist es nötig, zu diskutieren und verschiedene Visionen zu entwickeln. Ich glaube, dass das brasilianische Volk duch seine kulturelle Vielfalt viel dazu beitragen kann.

KASTEN

Kleine Geschichte des Landkonflikts in Brasilien und des MST

Landlosen- und Bauernbewegungen gehören zu den ältesten sozialen Bewegungen Lateinamerikas. Die Landverteilung ist in Brasilien wie auch anderen Ländern Lateinamerikas seit der Kolonialzeit von großen Ungleichheiten geprägt. Hohe Bodenkonzentration auf Seiten der Großgrundbesitzer einerseits und Landknappheit auf Seiten der armen Bauern andererseits sind die charakteristischen Merkmale der brasilianischen Agrarstruktur. Die Großgrundbesitze (Latifundien) sind durch eine extensive, auf Export ausgerichtete Bewirtschaftung mit vielen brach liegenden Flächen gekennzeichnet. Die Bewirtschaftungsmethoden reichen vom traditionellen Familienbesitz (fazenda) bis zum relativ modernen kapitalistischen Großbetrieb.
Die Kleinbetriebe (Minifundien) erzielen dem gegenüber durch intensive Bewirtschaftung eine hohe Bodenproduktivität und richteten sich vor allem bis in die 60er Jahre nicht auf den Weltmarkt aus, sondern produzierten vorwiegend für den Eigenbedarf oder den lokalen Markt. Die Kleinbauern haben kaum Zugang zu Bildung oder zu Agrarkrediten und leben meist am Rande des Existenzminimums.
In den 60er Jahren geriet diese Agrarstruktur in Brasilien unter Veränderungsdruck. Bevölkerungswachstum und relative Stagnation der Agrarproduktion führten zu verstärkter Verelendung der Landbevölkerung, zu Landflucht und demzufolge zu erhöhter Arbeitslosigkeit in den Städten. In den 50er Jahren entstanden daher in Brasilien neue Agrarbewegungen. Die größten unter ihnen waren die „Ligas Camponesas“. Diese wurden mit der Etablierung der Militärdiktatur 1964 zerschlagen und verboten. Die Militärregierung beschloss dann allerdings selbst eine Landreform, weil auch sie den neuen lateinamerikanischen Konsens teilte, dass eine gerechtere Verteilung des Bodens Voraussetzung für den ökonomischen Fortschritt sei und die unproduktiven Latifundien mit ihrem hohen Anteil an Brachland ein Entwicklungshindernis darstellten. Außerdem sollten soziale Gegensätze auf dem Land entschärft und den radikalen Bauernbewegungen der Boden entzogen werden. Die Umverteilung scheiterte jedoch an der Macht der Großgrundbesitzer, die alle tief greifenden Enteignungspläne verhindern konnten. Stattdessen sollten landlose Bauernfamilien in einem großen Besiedlungsprojekt in der Amazonasregion angesiedelt werden. Parallel dazu fand in Südbrasilien eine Modernisierung der Landwirtschaft mit Schaffung von agroindustriellen Komplexen statt, für die sich die Landkonzentration als förderlich erwies. Diese sogenannte „konservative Modernisierung“ vermochte das Problem der sozialen Ungleichheit jedoch nicht zu lösen.
Ende der 70er Jahre entstand in ganz Brasilien eine breitere Oppositionsbewegung. Große Streiks der Metallarbeiter in São Paulo und der Zuckerrohrarbeiter in Pernambuco markierten 1979 den neuen Aufbruch der sozialen Bewegungen. Neben den Landlosen (re-)organisierte sich in dieser Zeit eine Vielzahl anderer ländlicher Bewegungen wie die LandarbeiterInnengewerkschaften, die Vereinigungen der Kautschukzapfer, indigene Gruppen sowie die Opfer von Staudammprojekten.
Ab 1971 häuften sich in den südlichen Bundesstaaten Brasiliens Landbesetzungen. Die AkteurInnen waren diejenigen, die von der konservativen Modernisierung nicht profitierten oder gar durch diese Nachteile zu erleiden hatten wie beispielsweise Landlose, KleinpächterInnen oder in Folge des Staudammprojekts ITAIPU vertriebene Bauern und Bäuerinnen. An der ersten Besetzung der Landlosenbewegung MST 1979 in Rio Grande do Sul nahmen rund 8000 Familien teil. Politisch und logistisch wurden sie von der progressiven katholischen Landgemeindenkommission CPT und später auch von der der Arbeiterpartei PT unterstützt. Anfang der 80er Jahre breitete sich die Bewegung unter den rund acht Millionen landarmen und landlosen Bauern und Bäuerinnen schnell aus, wobei zwei Drittel der MST-Mitglieder im Nordosten und im Süden des Landes lebten. Nach dem Fall der Diktatur 1985 hielt der MST seinen ersten nationalen Kongress ab.
Obwohl der MST weniger Mitglieder als andere oppositionelle ländliche Organisationen hat, zählt er heute zu den wichtigsten sozialen Bewegungen Brasiliens und macht mitunter auch durch spektakuläre Aktionen wie etwa das Verbrennen von Gentech-Feldern auf sich aufmerksam.

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