“Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”
Nichts Neues für die neuen Zeiten
Vor gut fünf Jahren geschah etwas bis dahin Einmaliges: Eine Militärdiktatur wurde abgewählt. Was nicht so einmalig war: Das Konzept kam aus den USA. Unter dem Druck, sein Regime formal zu stabilisieren, rief General Pinochet die ChilenInnen 1988 zu einem Plebiszit auf. Es gab eine klare Alternative: Entweder acht weitere Jahre Diktatur oder Neuwahlen. Trotz der mächtigen staatlichen Propagandamaschinerie und massiver Einschüchterung der Bevölkerung stimmte eine knappe Mehrheit für die zweite Option. Sein Junta-Kollege, Luftwaffenchef Matthei, durchkreuzte rechtzeitig Pinochets Plan, das Ergebnis der Volksabstimmung zu fälschen. Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr siegte die bürgerliche Mitte-Links-Koalition um den scheidenden Präsidenten Patricio Aylwin.
Eine Strategie geht auf
Damit triumphierte letztlich eine CIA-Strategie, die 1986 entwickelt wurde, um möglichst reibungslos die politischen Folgen einer weniger reibungslosen CIA-Intervention zu beseitigen, ohne dabei die Wirtschaftpolitik zu gefährden. Nach Gesprächen mit US-Vertretern scherte die chilenische Christdemokratie damals aus dem breiten Oppositionsbündnis gegen die Militärdiktatur aus, an dem auch die marxistische Linke beteiligt war. Unter Ausschluß von Kommunisten und Sozialisten sollte ein Arrangement mit der Diktatur getroffen werden, um deren “Errungenschaften” ein demokratisches Gewand überstülpen zu können.
Eduardo Frei stand damals voll hinter der Position der Christdemokraten. In dem Institut Blas Cañas forderte er 1986 einen Pakt der Opposition mit den Streitkräften: “Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen: Wenn wir beim Übergang zur Demokratie Erfolg haben wollen, brauchen wir dringend einen Pakt. Ich spreche dabei in erster Linie von einem Pakt zwischen der Opposition und der Armee.” Nicht zuletzt in der Person von Eduardo Frei wird deutlich, wie erfolgreich die vor sieben Jahren entwickelte Strategie bisher gewesen ist. Daher ist es nicht überraschend, wenn er nach der Wahl betonte, daß sich seine Regierung um ein gutes Verhältnis zu den Uniformierten bemühen werde. Auch wenn BeobachterInnen von ihm eine etwas härtere Haltung in Formalfragen erwarten, wird er die offene Konfrontation mit der Armee vermeiden. Auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden von dem neuen Präsidenten keine entscheidenden Änderungen erwartet. Das Wirtschaftsmodell blüht unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie, und das Gespenst des Kommunismus, das in Chile vor 20 Jahren konkrete Gestalt angenommen hatte, ist erfolgreich vertrieben worden.
“Der Niedergang der Kommunistischen Partei begann nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Pinochet im September 1986,” erklärt der jahrelange Verbindungsmann der Parteispitze. “Die Führung setzte damals auf den bewaffneten Kampf zum Sturz der Militärdiktatur. Das Plebiszit von 1988 über die Fortsetzung des Pinochet-Regimes wurde als Farce der Diktatur abgelehnt und boykottiert, erst im letzten Augenblick schwenkte die Partei auf das immer mächtiger werdende NEIN zu Pinochet um. Bei der anschließenden Präsidentschaftswahl im Dezember 1989 kämpfte sie lange Zeit gegen das bürgerliche Mitte-Links-Bündnis Concertación. Wiederum in letzter Minute änderte die Partei ihre Linie und akzeptierte das JA zu deren Kandidat Patricio Aylwin als NEIN zu Pinochet. Da kommt doch keiner mehr mit!” Die Führung der Kommunistischen Partei hatte sich im Untergrund immer weiter vom wirklichen Leben enfernt. Die streng hierarchischen Entscheidungsstrukturen führten zwangsläufig zu Fehleinschätzungen, die Glaubwürdigkeit der Partei ging verloren. Und nun hält der Spaltpilz Einzug in der einst monolithischen Partei, die bei den Wahlen 1970 und ’73 noch jeweils rund 15% der Stimmen erreicht hatte. Der größte Flügel der Partei hat sich dem linken Parteienbündnis MIDA angeschlossen, das die marxistisch-leninistische Tradition hochhält und nun bei den Wahlen am 11. Dezember 1993 kläglich scheiterte: Kein einziger Kandidat wurde in eine der beiden Parlamentskammern gewählt; beim letzten Mal hatte diese Gruppierung noch 2 Abgeordnete gestellt. Eine kleine Gruppe um den ehemaligen PC-Vorsitzenden José Sanfuentes schloß sich den HumanistInnen an und unterstützte deren aussichtslosen Präsidentschaftskandidaten Cristián Reitze. Die PragmatikerInnen in den Reihen der KommunistInnen gründeten kurzerhand die Unabhängige Demokratische Partei (PDI) und kandidierten auf einer gemeinsamen Liste mit der regierenden Concertación. Ihr Realitätssinn wurde belohnt: Als einzige aus dem ehemaligen PC-Spektrum zogen die PDI mit zwei Abgeordneten in das Parlament ein. Die populäre Rechtsanwältin Fanny Pollarollo gewann in ihrem Wahlkreis Calama-Tocopilla, zu dem auch die Kupfermine Chuquicamata gehört, sogar haushoch. Davon konnte der kommunistische Anwärter auf den Präsidentensessel, Eugenio Pizarro, nur träumen. Der politisch unerfahrene katholische Priester war von der Parteiführung auserkoren worden, um die Stimmen der befreiungstheologisch engagierten und der linken Christen in Chile zu gewinnen. Dieses Kalkül entpuppte sich als Schlag ins Wasser, Pizarro gab allerorten eine peinliche Figur ab, wurde einmal sogar fast aus einer Gewerkschaftsversammlung herausgeprügelt und konzentrierte sich im wesentlichen darauf, seine eher fortschrittlicheren Konkurrenten zu diffamieren. Der Stimmenanteil von nur 5% ist wohl mehr das Ergebnis einer Traditionswahl als seiner Überzeugungskraft.
Rundumerneuerte SozialistInnen
Ganz anders ist es den langjährigen Verbündeten der PC, den SozialistInnen, ergangen. Sie haben dem Marxismus abgeschworen und sich als rundumerneuerte Partei auf die Seite der mächtigen Christdemokratie geschlagen. Zusammen mit der nach wie vor größten Partei Chiles, der sozialdemokratisch orientierten PPD (Partei für die Demokratie) und den Radikalen stellten die “socialistas renovados” die erste Übergangsregierung. Nun konnten sie landesweit sogar ihren Stimmenanteil ausbauen; aufgrund des pinochetistischen Wahlrechts bleibt es aber bei ihren vier Sitzen im Senat, im Abgeordnetenhaus verlieren sie sogar zwei Parlamentarier. Größter Wahlgewinner war die PPD, die mit zwei Senatoren in das Oberhaus einzieht und die Zahl ihrer Abgeordneten von 7 auf 16 mehr als verdoppeln konnte.
Während deren Vorsitzender Ricardo Lagos, der ehemalige Erziehungsminister, mit ungebremsten Ambitionen auf den Sessel des Regierungschefs, mit dem unbedeutenden Ministerium für Öffentliche Aufgaben abgespeist wurde, honorierte der neugewählte Präsident Eduardo Frei den Wahlerfolg der SozialistInnen und ernannte deren Parteichef Germán Correa zum neuen Innenminister. Ein Aufschrei kam daraufhin aus den Reihen der Rechten – ein sozialistischer Innenminister ließ die Erinnerungen an die Unidad-Popular-Regierung von 1970-73 wieder wach werden. Doch der management-erfahrene neue Präsident ließ sich nicht beirren und hielt an Correa fest. Dahinter könnte nicht so sehr Sympathie, wie ein kühles Konzept stehen. Der Sozialistenchef hatte sich nicht ohne Grund lange vor dem Ministerposten geziert. Schließlich war es in erster Linie sein Verdienst, die verschiedenen Strömungen der Partei unter einen Hut zu bringen. Sein Ausscheiden aus der Parteiführung bringt die Gefahr mit sich, daß die verschiedenen Parteiflügel wieder auseinanderfallen. In Anbetracht einer zu erwartenden Zunahme der sozialen Spannungen, die auch der scheidende Präsident Patricio Aylwin vorausgesagt hat, wird der Innenminister zwangsläufig zu unpopulären Maßnahmen gezwungen sein. Damit sind Spannungen mit der linken Opposition innerhalb wie außerhalb der Sozialistischen Partei vorprogrammiert. Bricht die Partei auseinander, werden ihre einzelnen Fraktionen als Koalitionspartner uninteressant und der Weg wäre frei für eine große Koalition der Christdemokraten mit der rechten Renovación Nacional (RN – Nationale Erneuerung). Und damit könnte Eduardo Frei wunderbar leben und regieren.
Verluste auch bei der Rechten
Auch wenn die RN vier Abgeordnete und zwei Senatoren eingebüßt hat, bleibt sie die zweitstärkste Fraktion in beiden Kammern. Deren smarter Parteivorsitzender Andrés Allamand ist zwar unter der Diktatur politisch groß geworden, verließ jedoch rechtzeitig das sinkende Schiff von General Pinochet und baute seine “Nationale Erneuerung” als bürgerliche Rechtspartei auf. Das hat ihm zwar schon wiederholt Schelte von der faschistischen UDI eingebracht, die sich nach seiner Kritik am unsozialen und nicht auf die Zukunft ausgerichteten Verhalten der chilenischen UnternehmerInnen zu einer regelrechten Diffamierungskampagne auswuchs. Das hielt die RN allerdings letztlich nicht von ihrem strategischen Bündnis mit der UDI ab, im Santiagoer Reichenviertel Vitacura wurde der Doppelerfolg von Allamnad und seines UDI-Kollegen Bombal begeistert gefeiert. Insgesamt konnte die Partei der PinochetistInnen trotz leichten Stimmenzuwachses die Verluste der RN nicht ganz ausgleichen, so daß die rechten Parteien insgesamt hinter ihrem historischen Stimmenanteil zurückgeblieben sind. Der konservative Präsidentschaftskandidat Arturo Alessandri erreichte nicht einmal 25% der Stimmen. Weitere 6% entfielen auf José Piñera, den ehemaligen Arbeitsminister der Diktatur und Urheber des repressiven Arbeitsrechts `Plan Laboral’. Dieses Gesetz, das die ArbeitnehmerInnen- und Gewerkschaftsrechte massiv einschränkt, ist im übrigen bis heute unverändert in Kraft. Ohne hemmungslose Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen ist das chilenische Wirtschaftswunder offenbar immer noch nicht nicht zu schaffen.
Warten auf die “neuen Zeiten”
“Für die neuen Zeiten” lautete der Wahlspruch des Christdemokraten Eduardo Frei. Inhaltslos symbolisiert er den Zeitgeist in dem Land Südamerikas, das die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten aufweist und in dem die Politik zweitrangig geworden ist. Unübersehbar ist der Hang zur politischen Mitte. Und zur Mittelmäßigkeit. Niemand regt sich heute mehr auf, wenn ehemalige Pinochet-Minister, die noch vom Diktator als Senatoren eingesetzt wurden, im Fernsehen auf ihre demokratischen Rechte pochen und ihre politischen GegnerInnen zur Einhaltung der demokratischen Spielregeln auffordern. An Rücktritt als einzigen wirklich demokratischen Schritt denkt keiner von ihnen, und – was noch schlimmer ist – niemand fordert sie dazu auf. Die neue Regierung wird sich mit den Hinterlassenschaften der Militärdiktatur arrangieren und deren Verfassung nicht antasten. “Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”, versicherte Präsident Frei kurz nach seiner Wahl gegenüber in- und ausländischen JournalistInnen, “und wenn wir bestimmte Änderungen der Verfassung im Senat nicht durchbekommen, müssen wir damit bis 1997 warten.”
In vier Jahren scheidet nämlich die Sperrminorität der von Pinochet eingesetzten Senatoren aus. Bei den Nachwahlen dürften sich dann die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Concertación ändern. Gleichzeitig tritt Pinochet als Oberbefehlshaber des Heeres zurück und geht in den Ruhestand. Doch schon jetzt wird der ehemalige Diktator in Chile selbst viel weniger ernst genommen als im Ausland. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppositionszeitschrift análisis, schreibt dem alternden General sogar eine systemstabilisierende Funktion zu: “Pinochet ist eigentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der gemeinsame Feind vereinigt die Regierungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Opposition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der bestehende Konsens verloren.” Vielleicht wird die Politik in Chile dann wieder etwas spannender…
Altlasten aus der Diktatur
Bis dahin wird wohl alles seinen gewohnten Gang gehen. Nur ab und zu kommt die jüngere chilenische Vergangenheit zum Vorschein. So bei der Verurteilung der Mörder des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier (vgl. LN 235). Auch der Mord an Carmelo Soria, einem spanischen CEPAL-Mitarbeiter mit Kontakten zur PC, wird auf Druck aus Madrid weiter untersucht. Und nun ist ein als sicher gehandelter Minister der neuen Regierung über seine Machenschaften unter der Diktatur gestolpert. Der Unternehmer Juan Villarzú, ein enger Freund von Präsident Frei, verzichtete plötzlich und unerwartet auf den Job des Finanzministers, angeblich wegen eines Kredits seiner Firma aus dem Jahr 1992. InsiderInnen munkeln aber, daß der jähe Abbruch seiner beginnenden politischen Laufbahn vielmehr mit der Rolle zu tun hat, die er in der großen Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre gespielt hatte. Damals war er Direktor der Banco de Chile, der wichtigsten Bank des Vial-Konzerns, dessen Unternehmen hemmungslos Kredite bei eben dieser konzerneigenen Bank aufgenommen hatten. Das System der unkontrollierten Kreditvergabe, das damals von allen Unternehmensgruppen angewendet wurde, war jedoch bald überreizt. Der chilenische Staat mußte für die Schulden aufkommen, um einen völligen Zusammenbruch des Finanzwesens zu verhindern. Damit wurde nicht nur die neoliberale Ideologie widerlegt, die ein Heraushalten des Staates aus dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte fordert, sondern eben dieser Staat mußte sieben Milliarden US-$ zur Rettung der maroden Banken ausgeben.
Eduardo Frei, der bis vor kurzem nichts von den Machenschaften Villarzús gewußt haben will, kann natürlich keinen Finanzminister gebrauchen, der sich so unverfroren an der Staatsbank bereichert hat. So ernannte er kurzerhand den unter chilenischen ÖkonomInnen anerkannten parteilosen Eduardo Aninat, dessen Wirtschaftsforschungsinstitut seit Jahren einen monatlichen Bericht herausgibt, der von den 80 wichtigsten Unternehmen des Landes bezogen und analysiert wird. Ebenso wie sein Vorgänger Alejandro Foxley geht er bei allen internationalen Finanzinstitutionen ein und aus, zwischen 1991 und `92 leitete er die Umschuldungsverhandlungen Chiles mit Weltbank und IWF. Nennenswerte Änderungen der bisherigen Wirtschaftspolitik sind von ihm auf keinen Fall zu erwarten, er wird die international gerühmte Foxley-Linie fortsetzen und kann auf weitere Auslandsinvestitionen und Kredite setzen.
Zwei weitere enge Vertraute von Eduardo Frei junior bleiben allem Anschein nach seiner Regierung erhalten. Der langjährige Chef der ChristdemokratenInnen, Genaro Arriagada, wird das dem Kanzleramtsministerium vergleichbare Amt des “Secretario General de la Presidencia” übernehmen, und Edmundo Pérez gilt als sicherer zukünftiger Verteidigungsminister. Lange Zeit war der Wahlkampfleiter des neugewählten Präsidenten der Favorit für das Innenministerium, aber das wäre der historischen Parallelen wohl zu viel gewesen. Sein Vater, Edmundo Pérez senior war nämlich Innenminister unter Eduardo Frei senior. Durch die Massaker von Puerto Montt und El Salvador hatte er sich durch sein repressives Vorgehen einen unrühmlichen Namen gemacht und fiel 1971 einem Attentat zum Opfer. Der entscheidende Verdienst von Edmundo Pérez junior ist es, der Sohn seines Vaters zu sein, politisch ist er bisher noch nicht hervorgetreten. Daher wird er von vielen als unberechenbar eingeschätzt, und SkeptikerInnen meinen, im Verteidigungsministerium könnte er weniger Schaden anrichten als im Innenressort. An seinem guten Auskommen mit der Armeeführung wird nicht gezweifelt.
Das Außenministerium wird von der Radikalen auf die Christdemokratie übergehen, Carlos Figueroa heißt der zukünftige Chef der chilenischen Diplomatie. Die Radikale Partei erhält dafür das Bergbauministerium, der Amtsinhaber heißt Benjamín Teplisky. Erstmalig übernimmt eine Frau ein nicht frauenspezifisches Ministerium: Soledad Alvear wird Justizministerin. Ein weiteres innen- und sozialpolitisch wichtiges Ministerium gab Frei den mitregierenden SozialistInnen: Luis Maira, ehemaliger Vorsitzender der Christlichen Linken, übernimmt das Planungsministerium. Insgesamt zeigt die Zusammensetzung des Kabinetts den politischen Willen des neuen Präsidenten, mit einem breiten Bündnis zu regieren und die linken Parteien seiner Koalition in die politische Verantwortung einzuspannen. Die Stabilität dieser Regierung wird sich sicherlich in der ersten Hälfte der sechsjährigen Legislaturperiode zeigen.