Wirtschaftsförderung auf Kosten der Menschenrechte
Kolumbianische Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften kritisieren das EU-Freihandelsabkommen mit Kolumbien
„Mit einem Land, das Gewerkschaftsrechte mit Füßen tritt, in dem ein bewaffneter Konflikt herrscht, enge Verstrickungen zwischen Paramilitärs und der Regierung bestehen und Vertreibungen in großem Stil an der Tagesordnung sind, darf kein Freihandelsabkommen geschlossen werden.“ In diesem Punkt sind María del Pilar Silva, Mitglied des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo, und Nohora Tovar, Vizepräsidentin der Metaller-Gewerkschaft Fetramecol, unmissverständlich. Die beiden Kolumbianerinnen waren im März im Rahmen einer europaweiten Speakers Tour auch in Deutschland, um Politik und Zivilgesellschaft auf die befürchteten sozialen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Folgen des Abkommens aufmerksam zu machen.
María del Pilar Silva ist überzeugt, dass nur die multinationalen Unternehmen und Eliten aus Politik und Wirtschaft von der Umsetzung des Abkommens profitieren werden. „Die Bevölkerung hingegen wird darunter zu leiden haben. Wir gehen davon aus, dass es zu einer weiteren Zerschlagung der Gewerkschaften und einem zunehmenden Verlust der Rechte von indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden kommt“, betont sie. Die Anwältin befürchtet außerdem, dass der soziale und bewaffnete Konflikt verschärft wird.
Durch den Abbau von Handelsbeschränkungen und die Verbesserung der Rechtslage für InvestorInnen sollen vor allem Investitionen im Bergbau, Agrar- und Energiesektor gefördert werden – Wirtschaftszweige, die bereits in der Vergangenheit vielfach zu sozialen und Landkonflikten geführt haben. „In Kolumbien existieren bereits jetzt mehr als fünf Millionen von Paramilitärs und Armee vertriebene Binnenflüchtlinge, das heißt neun Prozent der KolumbianerInnen sind Opfer von Vertreibungen. Ein Großteil von ihnen lebte zuvor auf Gebieten, die von wirtschaftlichem Interesse für die genannten Industriezweige sind“, so María del Pilar Silva. Die Konkurrenz um Besitz und Bewirtschaftung von Land war seit jeher ein Faktor, der den Konflikt angeheizt hat. Regionen von strategischem wirtschaftlichen Interesse sind vom bewaffneten Konflikt und massiven Menschenrechtsverletzungen am stärksten betroffen. Die für eine Ausweitung der Bergbau- und Exportlandwirtschaft benötigten Flächen liegen häufig auf den Territorien indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften. „Von den derzeit 33 Bergbaudistrikten befinden sich 16 auf indigenen Territorien“, so María del Pilar Silva. Sie befürchtet, dass das Freihandelsabkommen daher zu einer Zunahme der Vertreibungen und der bewaffneten Konflikte führen wird.
Doch nicht nur um die Situation der ländlichen Gemeinschaften machen die Kolumbianerinnen sich Sorgen. Nohora Tovar geht davon aus, dass mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens auch die Lage der Gewerkschafts- und Arbeitsrechte weiter verschärft wird. Kolumbien ist für GewerkschafterInnen das gefährlichste Land der Welt. Alleine im letzten Jahr wurden 51 GewerkschafterInnen getötet. In den ersten drei Monaten diesen Jahres sind bereits elf Gewerkschaftsmorde zu verzeichnen. 98 Prozent dieser Verbrechen blieben straflos. „In Kolumbien herrscht auch unter dem neuen Präsidenten Santos eine antigewerkschaftliche Politik”, betont Nohora Tovar. Streikrecht und Versammlungsrecht würden systematisch missachtet. „Wer sich gewerkschaftlich betätigt, wird oft umgehend entlassen”, erklärt die Gewerkschafterin. Streiks und Proteste würden von den Streitkräften mit Repression beantwortet. Auf die inzwischen 39 Verwarnungen durch die Internationale Arbeitsorganisation ILO habe die Regierung nicht reagiert.
Nohora Tovar befürchtet außerdem eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen durch das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens. Bereits jetzt seien knapp 60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor tätig, nur 39 Prozent der Beschäftigten krankenversichert. „Viele ausländische Investoren lagern Jobs in sog. Cooperativas de Trabajo Asociado, also Pseudo-Kooperativen aus, in denen die Bezahlung unter dem Mindestlohn liegt”, erklärt sie. Arbeitskleidung, Werkzeug und Sozialversicherungsbeiträge müssten von den Beschäftigten selbst bezahlt werden. Zudem fördere das Freihandelsabkommen die Ausweitung von Wirtschaftsbereichen, in denen ohnehin prekäre Arbeitsbedingungen herrschen, wie Bergbau, der Anbau von Palmöl, Bananen oder Zuckerrohr.
Auf die von der EU-Kommission viel beschworenen Menschenrechts- und Sozialklauseln des Abkommens geben María del Pilar Silva und Nohora Tovar nicht viel. Diese stellen keine verbindlichen Regeln auf und sind mit keinerlei effektiven Sanktionsmechanismen versehen. Dass das Abkommen wegen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt werden könnte, hält Nohora Tovar für utopisch. Dazu kam es bislang auch nicht, obwohl das derzeit noch geltende Zollpräferenzabkommen GSP+ stärkere Menschenrechts- und Arbeitsstandards enthält.
In den bestehenden wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen der EU und Kolumbien sehen María del Pilar Silva und Nohora Tovar eine große Gefahr. „Die kolumbianische Industrie und Landwirtschaft sind schlicht nicht wettbewerbsfähig gegenüber der EU“, so Nohora Tovar. Kleine und mittelständische Unternehmen würden durch das Abkommen in den Ruin getrieben. Viele Menschen wären somit vom Verlust ihrer Arbeit bedroht, ob neue Arbeitsplätze entstünden und wenn ja, zu welchen Bedingungen, sei fragwürdig.
Auch mit der hochsubventionierten Landwirtschaft der EU können kolumbianische Kleinbäuerinnen und -bauern nicht mithalten. María del Pilar Silva führt als Beispiel den Milchsektor an: „Laut der FAO stellt Milch eines der wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte in Kolumbien dar“. Dieser Sektor laufe nun jedoch Gefahr, durch das Freihandelsabkommen ruiniert zu werden. Milch werde im Gegensatz zur EU nämlich hauptsächlich in kleinbäuerlicher Landwirtschaft produziert. Staatliche Subventionen existieren nicht. Mehr als 400.000 kolumbianische Familien, die Milch produzieren, würden durch Freihandelsabkommen in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet.
So sind die beiden Kolumbianerinnen davon überzeugt, dass durch das Inkrafttreten des Abkommens Armut und Ungleichheit zunehmen werden. „Die soziale Kluft wird sich weiter vergrößern, in einem Land, das bereits jetzt durch enorme Ungleichheit gekennzeichnet ist. Kolumbien verfügt über eine enorme Ressourcenvielfalt, dennoch lebt über die Hälfte der Menschen in Armut“, betont María del Pilar Silva. Durch das Abkommen würden multinationale Unternehmen und Großgrundbesitzer profitieren und weiter an Einfluss gewinnen, während die Bevölkerung das Nachsehen hat, ist auch Nohora Tovar überzeugt.
Vom kolumbianischen Kongress sei nicht zu erwarten, dass er gegen das Handelsabkommen mit der EU votiert. „Er besteht zu einem Großteil aus Abgeordneten, die aus Unternehmerfamilien stammen und zu der kleinen Elite gehören, die von einem Freihandelsabkommen profitieren werden“, erklärt María del Pilar Silva. Auch wenn die Proteste der kolumbianische Zivilgesellschaft immer stärker werden, sind sie noch eher verhalten, verglichen mit dem Widerstand, der gegen das geplante Freihandelsabkommen mit den USA geleistet wurde. Das mag daran liegen, dass die EU in Kolumbien ein positiveres Bild besitzt und eher mit Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechten als mit knallharten Wirtschaftsinteressen in Verbindung gebracht wird.
Daher richten María del Pilar Silva und Nohora Tovar ihre Hoffnung auf die Unterstützung der Politik und Zivilgesellschaft in Europa, um die Ratifizierung des Abkommens zu verhindern.
KASTEN: Das EU-Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru, das im Mai 2010 unterzeichnet wurde, enthält Regelungen über weitreichende Liberalisierungen in vielen Bereichen wie Investitionen, öffentliche Beschaffungsmärkte, Industriegüter und Landwirtschaft. Von vielen Organisationen wird, neben der mangelnden Berücksichtigung der wirtschaftlichen Asymmetrien im Abkommen, kritisiert, dass soziale Konflikte geschürt und die regionale Integration der Andenländer gefährdet werden. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Einschränkung der Möglichkeiten für Kolumbien oder Peru in Zukunft nachhaltigere Entwicklungsstrategien zu fördern sowie Umwelt- oder Sozialstandards zu erhöhen. Dies wird durch die Investitionsschutzbestimmungen deutlich erschwert. Schließlich wird in Zusammenhang mit den weit reichenden Regelungen zum geistigen Eigentum befürchtet, dass diese den freien Zugang zu Medikamenten und Saatgut erschweren und Biopiraterie Vorschub leisten könnten. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus den Andenländern und Europa (über 200 Organisationen) gaben deshalb eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie die Nichtratifizierung der ausgehandelten Vereinbarungen fordern: www2.weed-online.org/uploads/nein_zur_ratifizierung_ftas_la_februar2011.pdf
Damit es in Kraft treten kann, muss das Abkommen in alle Amtssprachen der EU übersetzt und anschließend vom EU-Parlament sowie dem kolumbianischen und peruanischen Kongress ratifiziert werden. Ob auch die 27 EU-Mitgliedsstaaten das Abkommen ratifizieren müssen, ist indes noch nicht endgültig entschieden. Verschiedene Rechtsgutachten deuten jedoch darauf hin. Die EU-Kommission hat allerdings noch nicht offiziell bekanntgegeben, ob sie das Abkommen als gemischtes (was die Zustimmung der EU Mitgliedsstaaten erforderlich machen würde) oder als reines Handelsabkommen (was lediglich die Ratifizierung durch das EU-Parlament voraussetzen würde) einschätzt. Sollte das Abkommen die Ratifizierung aller Mitgliedsstaaten erfordern, würde dies vermutlich mehrere Jahre dauern. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass die EU-Kommission vorschlagen wird, das Abkommen vorläufig umzusetzen. Mit einem (vorläufigen oder endgültigen) Inkrafttreten wird frühestens in der ersten Jahreshälfte 2012 gerechnet.