Film | Nummer 296 - Februar 1999

Wovon man so in Ohnmacht fällt

Interview mit dem kubanischen Regisseur Fernando Pérez über seinen Film „Das Leben ist Pfeifen“ und die Suche nach dem Glück

Bettina Bremme

Fernando, pfeifst du gerne?

Ja (lacht). Ich empfinde Pfeifen als Ausdruck von Freiheit, von Glück, davon, die eigene Melodie zu Gehör zu bringen. Andererseits denke ich natürlich auch, daß das Leben nicht nur aus Pfeifen besteht. Das Leben ist mehr. Es enthält Bestandteile von Schmerz und von Freude. Es gibt Leiden und es gibt Glück. Man muß als Mensch darauf gefaßt sein, sich all dem in einer harmonischen Weise zu stellen.

Wenn ich mir „Das Leben ist Pfeifen“ so ansehe, steckt hinter dem Pfeifen noch eine andere Bedeutung.

Pfeifen steht für mich für das Recht jedes Menschen, sich frei auszudrücken. Es ist ein Ausdruck von Freiheit, von Authentizität, von Spontaneität und von Kommunikation. Es ist eine Art, sich dem anderen anzunähern und zu versuchen, ihn zu verstehen. Ja – ein Ausdruck von Freiheit.

Wie ist die Idee für den Film entstanden?

Die Idee kam mir 1995 in den Sinn, als ich gerade in Chile eine Fernsehserie drehte. Das war eine gute Erfahrung, aber gleichzeitig hatte ich auch das starke Bedürfnis, wieder einen Film zu drehen. Ich begann, mich an verschiedene Anekdoten zu erinnern, die mir schon seit längerem durch den Kopf gingen oder von denen ich gehört und gelesen hatte. Einen Tag vor der Abreise fing meine Tochter Bebe – die auch in dem Film mitspielt – aus Spaß an, gleichzeitig zu reden und zu pfeifen. Das gefiel mit ziemlich, und spontan dachte ich, daß dies die Idee für einen Film sein könnte. Um diesen Leitfaden herum entwickelte ich zusammen mit dem Drehbuchautor Eduardo del Llano die drei Geschichten. In den sechs Monaten, die ich 1996 mit einem DAAD-Stipendium in Berlin verbrachte, arbeitete ich sie weiter aus. Das fertige Drehbuch bekam beim Filmfestival in Sundance (dem wichtigsten unabhängigen Filmfestival in den USA, Anm. d. Red.) einen Preis. Und mit dieser Unterstützung konnten wir im Februar ’98 die Dreharbeiten beginnen.

Warum habt ihr euch entschieden, nicht nur eine, sondern mehrere Geschichten parallel zu erzählen?

Das Thema des Films ist die Suche nach dem Glück. Und Glück bedeutet nicht für alle dasselbe. Daher erschien es mir weniger vielfältig, weniger offen, diese Suche nach dem Glück nur anhand einer Geschichte zu erzählen, als vielmehr verschiedene Personen und Konflikte zu nehmen.

In etlichen lateinamerikanischen Filmen spielen Waisenkinder eine zentrale Rolle. Warum auch in diesem Film?

Der Film beginnt in einem Waisenhaus, und die Mehrheit der Charaktere hat nie ihre Eltern kennengelernt. Alle sind in irgendeiner Weise verwaist. Ich glaube – und da liegt die Metapher –, daß jeder von uns Waise von etwas ist. Ganz gleich, wie glücklich man ist, es wird immer irgendeinen Leerraum geben, den man nicht kennt. In diese Richtung deutet die Metapher. Es geht also nicht nur um eine gesellschaftliche Reflexion. Diejenige Geschichte, wo unsere gegenwärtige Realität auf Kuba sich verdichtet, ist die von Euripidio. Denn Euripidio hat eine Mutter, die ihn allerdings verlassen hat. Seine Mutter heißt Kuba – ein weiteres Symbol. Und er befindet sich auf der Suche nach seinen Wurzeln, seiner Identität, seiner Mutter.

In deinen Film „Madagascar“ von 1994 flüchten sich die Leute auf die Dächer und in eine Phantasiewelt. In „Das Leben ist Pfeifen“ tritt ein anderes Massenphänomen auf: die Leute fallen in Ohnmacht, wenn sie bestimmte Worte hören.

(lacht) Das ist ein Syndrom, das heute weit verbreitet ist, wie auch der Psychiater Doktor Fernando im Film sagt. Das ist, denke ich, weniger ein Symbol als eine Metapher für etwas, was allen Menschen passieren kann. Es bezieht sich nicht nur auf die kubanische Realität, sondern ist universell. Jeder Mensch kann ohnmächtig werden, wenn er nicht der Wahrheit über sein Leben und seine Probleme ins Auge sieht – aus Angst vor den Gedanken und Ideen. Bei der Suche nach dem Glück muß man sich manchmal schmerzlichen, schrecklichen Realitäten und Wahrheiten gegenüberstellen. Man kann ihnen nicht ausweichen oder einfach ohnmächtig werden. Man muß wachsen. Alles andere wäre, wie Doktor Fernando sagt, Doppelmoral, Heuchelei, Opportunismus, Simulation. Und da findet der Kampf der Charaktere statt.

In dem Video eines europäischen Filmemachers, das die Dreharbeiten dokumentiert, konnte man sehen, daß immer eine Reihe von Schaulustigen in der Nähe war. Wie reagierten die Passanten in den Straßen von Havanna, als sie die Stichworte für die Ohnmachtsanfälle hörten:“Sex“, „Doppelmoral“ oder „Du bist frei“?

Sie wußten natürlich, daß es sich um die Dreharbeiten für einen Spielfilm handelte. Es gab aber keine größeren Lachanfälle oder andere stärkere Reaktionen. Natürlich wurden sie sehr neugierig, als sie sahen, daß Leute auf bestimmte Worte hin mitten auf der Straße in Ohnmacht fallen. Ich habe schon schwierigere Dreharbeiten erlebt, wo das Publikum unruhiger oder lästiger war und einen fast am Drehen hinderte. Es gab zum Beispiel auch keine Probleme mit der Szene, wo die nackten Männer über die Straße in Prado laufen. Wir haben früh morgens gedreht. Die Passanten kamen vorbei und erblickten unvermittelt einen nackten Mann. Es gab aber keine Äußerungen von Erstaunen oder Bestürzung. – Das zeigt mir, daß das kubanische Volk auf jegliche Art von Wunder gefaßt ist (lacht).

Apropos Wunder: Unter den gegenwärtigen Umständen in Kuba Filme zu drehen, erscheint mir auch wie eine Art Wunder. Wie habt ihr es realisiert? Standen genügend Ressourcen zur Verfügung?

Die gegenwärtige Existenz des kubanischen Kinos ist ein Wunder angesichts der Rahmenbedingungen, der Wirtschaftskrise, die wir durchleben. In einem anderen Land, mit einem anderen gesellschaftlichen und politischen System (lacht schmunzelnd), wäre das Kino schon längst von der Bildfläche verschwunden. Das Kino in Kuba hält sich: Wir produzieren ein oder zwei Filme pro Jahr. Wir suchen nach neuen Formeln, neuen Wegen. Klar, nicht alle von uns können Filme realisieren, es gibt viele junge Leute, denen diese Möglichkeit verschlossen bleibt. Auch aus meiner Generation ist es nicht möglich, daß jeder, so wie früher, alle zwei Jahre einen Film macht. Mittlerweile müssen wir drei oder vier Jahre warten. Es ist auf jeden Fall heutzutage ein Wunder, Filme machen zu können. Ich glaube, jeder kubanische Film stellt eine Hoffnung dar, daß das kubanische Kino sich hält und weiterentwickelt.

Das angesprochene Dokumentarvideo über die Dreharbeiten zu „Das Leben ist Pfeifen“ heißt „Das Leben ist Filmen“. Was hältst du von diesem Motto?

Für mich ist das Leben Filmen, ganz sicher. Es gibt viele Dinge, die ich begehre, und ich glaube, daß das Leben bisher sehr großzügig zu mir gewesen ist. Es hat mir allerdings auch viele Schmerzen bereitet. Aber unter all den vielen Dingen im Leben, die ich will, gibt es drei, ohne die ich nicht leben könnte. Wenn mir eines davon fehlt, fühle ich mich unvollständig.

Und welche sind diese drei? Was bedeutet Glück für dich?

Diese drei sind – ohne Rangfolge – das Kino, meine drei Kinder, und Kuba – das Leben auf Kuba. Genauer gesagt, das Leben in Havanna. Diese drei Dinge sind für mich unentbehrlich. Das Leben ist also Filmen in Kuba und meine Kinder bei den Dreharbeiten dabei haben – das ist für mich das Leben oder eine Art, glücklich zu sein.

“La Vida es silbar“ ist auf der Berlinale im Internationalen Forum des jungen Films zu sehen.
„La Vida es silbar“; Regie: Fernando Pérez; Cuba 1998; Farbe, 110 Minuten.

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