Zeitenwende – nur wohin?
Hans-Jürgen Burchardt über die Krise des Neoliberalismus
In einem ersten Schritt richtet Hans-Jürgen Burchardt in seinem Buch „Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus“ den Blick auf die Vergangenheit und zeichnet die Entwicklung des Liberalismus bis hin zum Neoliberalismus ebenso nach wie das Scheitern alternativer Politikmodelle. Bei einem Kuba-Spezialisten wenig überaschend, dass er sich hier besonders dem realexistierenden Sozialismus auf der Insel widmet. Dabei geht es dem Autor wesentlich um die Analyse der Entwicklung und Besetzung von Begriffen, in anderen Worten, um den „Kampf um die Köpfe“, den die neoliberale Ideenwelt in den 90er Jahren vermeintlich schon gewonnen hatte.
Daran anschließend ist es nur konsequent, sich auch in Bezug auf die Gegenwart damit auseinanderzusetzen, welche Begrifflichkeiten die Debatte dominieren. Von „Globalisierung“ über „Demokratie“ und „Partizipation“ bis „Zivilgesellschaft“ analysiert Burchardt, wie Begriffe von einzelnen Akteuren interessegeleitet konstruiert, besetzt, simplifiziert und instrumentalisiert werden. Erfreulich bissig formuliert, bleibt niemand von kritischen Anmerkungen verschont, weder die Apologeten neoliberaler Ideen und Politik noch diejenigen unter den kritischen Geistern, deren Argumentationen allzu schlicht daherkommen.
Burchardt bleibt dabei aber keineswegs in der Betrachtung von Diskursen, Begriffen und Debatten stehen. Unter dem Titel „Entwürfe“ sind ganze Kapitel aktuellen politischen Projekten gewidmet, die für die Frage nach neuen Entwürfen für Politik nach dem Neoliberalismus von Bedeutung sind. Noch einmal geht es um Kuba, es geht um die so genannte bolivarianische Revolution in Venezuela, und es geht um politische Veränderungen in der Welt der großen internationalen Institutionen. Wiederum steht im Ergebnis ein Plädoyer für den differenzierten Blick. So benennt Burchardt die Gefahren autoritärer politischer Strukturen sowohl in Kuba als auch im Venezuela des Hugo Chávez, verweist aber gleichzeitig auf die Defizite der real existierenden lateinamerikanischen Demokratien, die solch autoritäre Optionen erst wieder politisch wirkungsmächtig werden lassen.
Wie nun soll Politik nach dem Neoliberalismus aussehen? Der Untertitel ist vielleicht nicht ganz glücklich, weil zu ambitioniert gewählt, denn in diesem Punkt bleibt Burchardt notwendigerweise vage. Der Autor benennt für die wissenschaftliche und politische Debatte Rahmenbedingungen, die dieser zu intellektueller Kreativität verhelfen könnten. Es geht ihm um eine „theoretische Pluralisierung der Gesellschaftsanalyse und -kritik, die zum Beispiel die Interdependenzen zwischen kulturellem Habitus und gesellschaftlicher Position, zwischen sozialer Macht und politischer Herrschaft in der lokalen wie internationalen Politik umfassender erfasst…“ (S. 294). Auch wenn Burchardt keinen kohärenten Entwurf für Politik nach dem Neoliberalismus liefern kann – und wer könnte das schon? – formuliert er doch wesentliche Elemente, die in kritischen Debatten um solche Zukunftsentwürfe in Wissenschaft und Politik eine zentrale Rolle spielen müssen. Und damit ist Burchardt hochaktuell, denn auf dem Feld derartiger, zukunftsorientierter Debatten ist wieder mehr Platz, seitdem der Mythos von der Alternativlosigkeit des Neoliberalismus zusammengebrochen ist.
Hans-Jürgen Burchardt: Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus. Schmetterling-Verlag, Stuttgart, 2004, 320 S.