Argentinien | Nummer 322 - April 2001

Zurück ins Land der Großväter

Argentinien im Aufbruch – nach Europa

Wirtschaftsmisere und Hoffnungslosigkeit – fast jedeR dritte ArgentinierIn würde das Land gerne verlassen. Und sucht deshalb nach europäischen Vorfahren

Antje Krüger

Aus meiner Familie muss irgendjemand Italiener gewesen sein“, erzählt Julio Gómez aus Buenos Aires. „Meine Mutter heißt Santucho mit Nachnamen. Das kommt eigentlich vom italienischen Santucchi. Aber das reicht noch nicht für einen Pass.“ Der 25-Jährige zuckt resigniert die Achseln. Julio ist einer der vielen Argentinier, denen plötzlich die Herkunft ihrer Groß- und Urgroßeltern am Herzen liegt. War sie bisher nur Anekdote und Familiengeschichte, der keine Bedeutung beigemessen wurde, ist sie heute eine Hoffnung. Glücklich schätzt sich, wer nachweisen kann, dass der Opa oder die Oma damals um die Jahrhundertwende aus Europa nach Argentinien kam. Sie flohen vor wirtschaftlicher Misere in dieses viel versprechende südamerikanische Land. Heute erhoffen sich die Enkel ihrerseits wirtschaftlicher Misere zu entrinnen, argentinischer Misere. Denn mit europäischen Vorfahren kommt man an europäische Pässe. „Rückauswanderung“ nennt sich das Phänomen. Laut Umfragen tragen sich dreissig Prozent der ArgentinierInnen mit Auswanderungsgedanken.
Das Land stagniert politisch und wirtschaftlich. Verpufft ist der Elan und Enthusiasmus des Aufbruchs der achtziger Jahre nach dem Ende einer der grausamsten Diktaturen Lateinamerikas. Hoffnungslosigkeit und Resignation machen sich breit. Die Korruption im Land lässt sich scheinbar nicht ausrotten. Auch die neue Regierung von Fernando de la Rúa verstrickte sich im Oktober 2000 derart in einen Bestechungsskandal, dass die Regierungsallianz nach nicht einmal einem Jahr Amtszeit zu scheitern drohte. Die Kriminalität, hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Und die Arbeitslosigkeit erreicht fast 16 Prozent, nicht eingerechnet die Dunkelziffer derer, die sich mit Strassenhandel und kleinen Geschäften irgendwie über Wasser halten. „An meinen Umsätzen sehe ich, wie schlecht es uns Argentiniern geht“, erzählt Alejandro Carrizo, einer der vierzigtausend Taxifahrer der Hauptstadt, die täglich ums Überleben kämpfen. „Habe ich vor vier Jahren im Schnitt 100 Pesos in zwölf Stunden verdient, komme ich jetzt mit Glück gerade mal auf 70.“ Alejandros Beobachtung wird vom Meinungsforschungsinstitut Gallup Argentina bestätigt. Ihrer Statistik zufolge finden 72 Prozent der ArgentinierInnen, dass sich Ihre wirtschaftliche Situation im letzten Jahr verschlechtert hat, und 65 Prozent der Befragten beurteilen das erste Amtsjahr der Regierung von Fernando de la Rúa als negativ. Jugendliche suchen deshalb ihr Glück ausserhalb Argentiniens. Egal, auf welchem Weg.

Lieber illegal als arbeitslos

Julio Gómez kam lediglich über die Weihnachtsfeiertage zurück nach Buenos Aires. Ursprünglich hatte er vor anderthalb Jahren nur durch Europa reisen wollen. Jetzt ist Spanien seine zweite Heimat geworden, auch ohne Pass. „Ich ziehe die Illegalität dort allemal der Aussichtslosigkeit Argentiniens vor. Hier habe ich trotz Studium keine Chancen, und dort geht es mir selbst als Kellner besser.“ Wie viele ArgentinierInnen ohne Aufenthaltsgenehmigung in Europa leben, ist unbekannt.
Lange Schlangen bilden sich täglich vor allem vor der spanischen und der italienischen Botschaft in Buenos Aires. Ab drei Uhr früh stehen ganze Familien an, um Pässe zu beantragen oder Fragen nach Ausreisemöglichkeiten zu stellen. Die grösste Vertretung Spaniens in der Welt steht kurz vor dem Kollaps. Mehr als 1000 Personen kommen jeden Tag in der Hoffnung auf Hilfe, Hunderte senden ihre Anliegen per E-Mail. In nur zwei Jahren hat sich die Zahl der ausgestellten Pässe auf 20 000 im Jahr nahezu verdoppelt. 253 000 ArgentinierInnen konnten ihre spanische Abstammung mittlerweile nachweisen und besitzen das begehrte Dokument. Schätzungsweise 250 000 hätten nach Angaben des Konsulats noch ein Anrecht darauf. Ähnliches ist aus der italienischen Botschaft zu hören. Auch hier wurden in der letzten Zeit deutlich mehr Pässe ausgegeben als noch Mitte der neunziger Jahre. Tendenz weiter steigend. Schon das erste Halbjahr 2000 übertraf mit insgesamt 6835 Pässen fast das gesamte Jahr 1999. Die Einreisevisa in die USA stiegen ebenfalls um 42 Prozent, auch wenn das Land längst nicht mehr als Wunschland Nummer Eins gilt. Europa hat ihm den Rang abgelaufen, nicht zuletzt weil der Pass eines europäischen Landes Schlüssel zur Europäische Union ist.

Geschäft mit der Hoffnung

Der sehnliche Wunsch, der Tristesse Argentiniens zu entkommen, hat bereits auch diejenigen auf den Plan gerufen, die mit Hoffnungen ihr Geschäft machen. Im Oktober wurde eine eigenartige Fluchtwelle aus der Provinz Mendoza nach Kanada bekannt. Nach Angaben der argentinischen Tageszeitung „Página/12“ suchten in nur drei Monaten 2500 Argentinier in Kanada Asyl. Sie katapultierten damit Argentinien noch vor Sri Lanka auf Platz eins in der kanadischen Liste der politischen Asylantragsteller. Die Ursache für dieses Phänomen liegt in der kanadischen Verfassung. Sie gewährt jedem Flüchtling ein Jahr Aufenthalt zur Prüfung des Asylantrags. Zudem hatte Kanada in den letzten Jahren einigen Argentiniern als Opfer polizeilicher Übergriffe und Willkür politisches Asyl zugesprochen. Diese Umstände machten sich jetzt Menschenschmuggler zu Nutze, um verzweifelten ArgentinierInnen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Bis zu 5000 US-Dollar Vermittlungsgebühr zahlten die Ausreisewilligen und verkauften zumeist alles, was sie besaßen. Doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihre Asylanträge durchkommen. Zu offensichtlich ist, dass sie nicht vor politischer Verfolgung aus Argentinien flohen.

Spanisch-argentinische Dörfer

Andere hatten mehr Glück. Sie wurden sogar gezielt angeworben. So suchte der Bürgermeister des spanischen Dörfchens Aguaviva in Aragón im Sommer 2000 dringend Einwanderer aus Argentinien, um seine völlig überalterte Gemeinde vor dem Aussterben zu bewahren. Wie die Madrider Tageszeitung „El País“ berichtete, wandte sich Luis Bricio mit einem Aufruf an einen argentinischen Radiosender. Er versprach Arbeit in der Landwirtschaft, dem Baugewerbe, in einer Schinkenräucherei und einer Textilfabrik. Interessierte sollten zunächst einen Dreimonatsvertrag erhalten, um sich im Ort umsehen zu können. Wer dann bleiben wolle, könne seine Familie nachholen und mit verbilligten Krediten ein Haus kaufen. Die Bedingungen: Die Bewerber müssen Nachkommen von Spaniern und jünger als vierzig Jahre alt sein sowie zwei Kinder im Schulalter und eine Berufsausbildung haben. Sie müssen sich zu dem verpflichten, mindestens fünf Jahre in Aguaviva zu leben. Das Dorf schiesst die Reisekosten vor, die dann vom Gehalt zurückgezahlt werden können. Aus ganz Argentinien bewarben sich mehr als 5000 Personen, vierundzwanzig Familien wurden ausgewählt.
Die Ausreisewelle ist inzwischen in ganz Argentinien zu spüren. „Jeder hat jemanden in der Familie oder im Bekanntenkreis oder weiß von Leuten, die weggegangen sind“, sagt Oscar Suárez, ein Studienkollege von Julio Gómez und einer der wenigen aus seinem Jahrgang, der Arbeit gefunden hat. Und Julio selbst wird von all seinen Freunden über seine Erfahrungen in Europa befragt. Denn es sind vor allem die Jüngeren mit einem Universitätsabschluss, die gehen. „Ich habe nicht studiert, um als Taxifahrer zu enden“, erklärt Gabriel Walerko, der sich gerade nach einem Aufbaustudium in Spanien umsieht – mit spanischem Pass, dem Grossvater sei Dank. Claudia Lucca, die zusammen mit Julio, Oscar und Gabriel Tourismus studiert hat, lebt mehr schlecht als recht von ihrem Job in einem Reisebüro. An sechs Tagen in der Woche arbeitet sie zehn Stunden täglich. Aber die Kaufkraft der Kunden lässt immer mehr nach. Damit schwinden die Provisionen, die ihr mageres Gehalt von 500 Pesos ein wenig aufbesserten. Sie möchte nicht fort aus Argentinien, sie hängt am Land und an ihrer Familie. „Doch wenn mein Chef, der selbst italienische Vorfahren hat, es sich anders überlegt und das Reisebüro zumacht, um nach Europa zu gehen, dann werde wohl auch ich darüber nachdenken müssen“, sagt sie. Denn in der Tourismusbranche eine Arbeit zu finden, ist wie in fast jedem Bereich nahezu aussichtlos. „Wer hier arbeitslos wird“, erklärt Claudia, „wird nur in Ausnahmefällen noch einmal einen ähnlich guten Job finden. Meist beginnt dann der Abstieg.“
Fernando de la Rúa beklagt, nicht ganz zu Unrecht, die Rezession sei ein Resultat der Politik seines Vorgängers Carlos Menem. Die „Wanderungsbewegung“ aber, so De la Rúa, sei nichts anderes als ein Ausdruck der Bewegungsfreiheit in der Welt, normal im Zeitalter der Globalisierung und Flexibilität.

Einwanderung nach Argentinien

Trotz Rückwanderung hat Argentinien seinen Reiz als Einwandererland auch heute noch nicht verloren. Allerdings zieht es schon lange nicht mehr die EuropäerInnen nach Südamerika. Dafür kommen die NachbarInnen aus Peru, Bolivien, Paraguay und Ecuador. Oder sie kommen aus Korea, Russland und der Ukraine. Im Vergleich zur Armut und Hoffnungslosigkeit in diesen Ländern weckt Argentinien trotz Rezession Hoffnung. Die Pesos, die sie hier zu verdienen hoffen, sind dem Dollar gleichgestellt. Aber die neu Einwandernden sind nicht gerne gesehen. Viele ArgentinierInnen, suchen bei den ImmigrantInnen die „Schuldigen“ für ihre eigene Misere. Eine erste Welle des Fremdenhasses überzog das Land Anfang 1999, als die damalige Regierung von Carlos Menem, der selbst aus einer syrischen Einwandererfamilie stammt, mitten im Wahlkampf um den Präsidentenstuhl einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Neue Kontrollen an den Grenzen sollten vor illegalen Einwanderern schützen, denen 60 Prozent aller in Argentinien begangenen Delikte zugeschoben wurden. Die Medien griffen diese Polemik sofort auf und untermalten sie mit täglichen Bildern von Schiessereien, Raubüberfällen und Razzien. Die Polizei kontrollierte mit Vorliebe indigen aussehende Passanten. An dieser Situation hat sich nicht allzu viel geändert. Immer mehr in Argentinien lebende AusländerInnen suchen inzwischen einen Weg, ihrerseits wieder dem Land zu entrinnen. Vor allem in der mexikanischen Botschaft in Buenos Aires gehen verstärkt Visaanträge von KoreanerInnen, BolivianerInnen oder PeruanerInnen ein, die hoffen, über Mexiko in die USA zu gelangen.

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