Film | Nummer 301/302 - Juli/August 1999

Zwischen Geisterdasein und Wiedergeburt

Der argentinische Film “No te mueras sin decirme a dónde vas”

Bettina Bremme

Ist diesem Mann noch zu helfen? Leopoldo ist Filmvorführer aus Leidenschaft. Doch das Kino, wo er arbeitet, soll dichtgemacht werden, weil in Buenos Aires außer ihm kaum noch jemand Filme gucken will. Auch Leopoldos übriges Leben enthält wenig von dem Stoff, aus dem die Träume sind. Nach Feierabend unterhält der seit zwanzig Jahren Verheiratete sich lieber mit seiner Topfpflanze, die er zärtlich Anita nennt, als mit seiner Frau Sara. Die behandelt er, als gehöre sie zum lebendigen Inventar des Lebens. Sara, von Beruf Kosmetikerin, stößt ihn immer ungeschminkt und unverblümt auf den Boden der Realitäten zurück. Dabei geht es zumeist um profane Dinge: Den Fernseher reparieren, nicht zu spät zum Essen kommen, nicht zu viel Zeit mit seinem Männerfreund Oscar beim Basteln zubringen usw…

Schwanenhals und Mandelaugen

Dann verliebt Leopoldo sich auch noch hoffnungslos in eine mysteriöse Frauengestalt, die über den Bildschirm seines selbstgebauten Traumgenerators flimmert. Zuerst halten Leopoldo und Oscar die Schöne mit dem Schwanenhals und den dunklen Mandelaugen, die im cremefarbenen Fin de siècle-Gewand daher schreitet, für die Ausgeburt eines Wunschtraums. Doch die Erscheinung behauptet, sie heiße Rachel und sei in einem früheren Leben Leopoldos Frau gewesen. Der habe im letzten Jahrhundert als Assisent von Thomas A. Edison mit ihr in New Jersey gelebt. Zuerst will Leopoldo Augen und Ohren nicht glauben. Doch plötzlich beginnt Rachel überall zu erscheinen: im Zuschauerraum des Kinos und auf der Straße, wo sie ohne jegliche Blessur durch den Autoverkehr schreitet.
„No te mueras sin decirme a donde vas“ – „Stirb nicht, ohne mir zu sagen, wohin du gehst“: Der Film des Argentiniers Eliseo Subiela ist so sphärisch abgehoben, so philosophisch bedeutungsschwanger, so hyperkomplex um mehrere Ecken gesponnen wie der Titel ahnen läßt. 1995 anläßlich von 100 Jahren Kino entstanden, verliert Subiela sich genüßlich in den gedanklichen Zwischenräumen zwischen der Realität der Vorstellungskraft und der Faktizität des empirisch Meßbaren, den (Allmachts)Phantasien der Maschinentüftler und der Beschränktheit ihrer bürgerlichen Existenz, dem Traum von der großen Liebe und der emotionalen Beschränktheit der Protagonisten.
Subielas Filme sind mit den Augen begehbare Labyrinthe. Voller Symbolfiguren, Nischen und verschachtelter Handlungsebenen laden sie dazu ein, sie von mehreren psychologischen und kulturellen Standpunkten aus zu beleuchten. Man kann jedoch auch einfach unbewußt von Bild zu Bild schlendern. Immer muß man jedoch aufpassen, daß einem der versponnene Erzählfaden nicht entgleitet. Wie viele argentinische Regisseure liebt Subiela eine Atmosphäre surrealer Künstlichkeit, die auf Schritt und Tritt an die literarischen Säulenheiligen Jorge Luis Borges und Julio Cortázar erinnert.
Für Subiela sind die Phantasiewelten Sackgassen und Ausgangspunkte zugleich. In fast allen seiner Filme gibt es einen männlichen Protagonisten undefinierbaren Alters, der sich als seelisch Scheintoter über die Runden quält und erst durch die (Wieder-)Entdeckung der Liebe zu neuem Leben erwacht. In „Hombre mirando al sudeste“ (Mann, nach Südosten schauend, 1986) verliebt sich ein seelisch ausgebrannter Anstaltspsychiater in eine Außerirdische. In „Ultimos imágenes de un naufragio“ ( Letzte Bilder eines Schiffbruchs, 1989) weckt eine junge Frau, die so tut, als wolle sie sich vor die U-Bahn schmeißen, in einem Versicherungsangestellten nicht nur Retterinstinkte, sondern auch den langgehegten Wunsch, Schriftsteller zu sein. In „Despabílate mi amor“ (Wach auf, Liebe, 1996) avanciert eine junge Musikerin zur Muse für einen Schriftsteller, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil an der politischen Realität verzweifelt. In „El lado oscuro del corazón“ (Die dunkle Seite des Herzens, 1995) sucht ein sich innerlich im Kreis drehender, von Todesphantasien heimgesuchter Poet nach einer Frau, die fliegen kann. Und findet sie ausgerechnet in der Prostituierten Ana, die wie ein Doppelgestirn aus Heiliger und Hure durch die Handlung schwebt.
Je entrückter und unerreichbarer die weiblichen Objekte der Begierde, desto höher der Sockel, auf den sie gestellt werden. Doch wäre es zu einfach, Subielas Geschichten als platte Männerphantasien abzutun. Dafür sind sie zu komplex, zu widersprüchlich. Denn seine Filme zelebrieren das, was sie gleichzeitig kritisieren: Die Polarität der Geschlechter, die Liebesunfähigkeit inbesondere der männlichen Protagonisten. Subielas niedergeschlagene Helden scheinen, von emotionaler Taubheit heimgesucht, nach der Rettung durch ein Wesen zu schreien, das verwandt und gleichzeitig vollkommen andersartig ist.
Das erinnert an den antiken Mythos vom androgynen Urwesen, welches von den Göttern auseinandergerissen wurde und seitdem rastlos auf der Suche nach seiner anderen Hälfte ist. Rachel sagt zu Leopoldo: „Du liebst mich. Wir lieben uns schon seit Jahrhunderten.“ Pikanterweise fügt sie hinzu: „In einem dieser Leben warst du eine Frau und ich ein Mann.“ Der letzte Satz läßt Leopoldo zusammenzucken. Momente wie dieser deuten auf eine tiefere Wahrheit hin: Daß in jedem Menschen eine verborgene Ganzheitlichkeit schlummert, eine Palette von Gefühlen, die viele allerdings der Einfachheit halber abspalten und auf das andere Geschlecht projizieren. In diesen Irritationsmomenten, wo nicht nur die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Ebenen von Zeit und Raum, sondern auch zwischen den Geschlechtsrollen angedeutet wird, beginnen in Subielas Filmen tatsächlich die Funken zu sprühen, deuten sich utopische Dimensionen an.

Mit surrealer Ironie in Szene gesetzt

Neben Rachel und Leopoldo gibt es noch ein anderes komplementäres Paar, das mit surrealer Ironie in Szene gesetzt ist: Rachel und den Roboter Carlitos. Der ist ein Geschöpf des Tüftlers und Rollstuhlfahrers Oscar (wieder ein Symbol für den Widerspruch zwischen gefesseltem Körper und entfesselter Erfindungskraft). Das Maschinenmännchen, benannt nach Carlos Gardel, hat nicht nur die Stimme eines Tangosänger, sondern spult auf Knopfdruck auch Liebeserklärungen und einen ganzen Schwall von Komplimenten ab. Die perfekte Karikatur des Latinokavaliers alter Schule. Als Carlitos Rachel auf einem ihrer nächtlichen Spaziergänge begleitet, meint sie: „Wir sind füreinander geschaffen. Mit fehlt ein Körper und dir eine Seele.“
Es ist aufregend, mitzuerleben, wie die ätherische Erscheinung Rachel, die zunächst wie eine reine Projektionsfläche für Leopoldos Wünsche daherkommt, als Charakter an Schärfe und Vielschichtigkeit gewinnt. Zum Schluß kann Leopoldo gar nicht anders, als ihr (zu) nahe zu treten und Rachels Perfektion wütend in Frage zu stellen: „Warum hast du eigentlich Angst, wiedergeboren zu werden?“
Als Rachel sich dazu durchringt, ihr Schattendasein aufzugeben, führt dies zu einem der herzzerreißend traurigsten Happy Ends, das es seit langem auf der Kinoleinwand gegeben hat. Für alle, denen bei ihrer Sehnsucht nach Grenzüberschreitung nicht die Wahl zwischen Geisterdasein und Wiedergeburt bleibt, hat Oscar eine Vision wie aus dem Bilderbuch der psychoanalytischen Traumdeutung parat: An Krücken gehend, schwärmt Oscar davon, er habe geträumt, in seinem diesseitigen Leben mehrmals gestorben und wiedergeboren worden zu sein. Gerade befinde er sich wieder auf der Schwelle zu etwas Neuem: „Allen Veränderungen geht ein Tod voraus, der neuem Leben Raum gibt.“

„No te mueras sin decirme a dóndes vas“, Buch/Regie: Eliseo Subiela; Arg., 1995; Farbe, 120 Min.,Start am 15.7.

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