Bolivien | Nummer 368 - Februar 2005

Zwischen Regierungsmacht und sozialen Bewegungen

Interview mit dem bolivianischen Kongressabgeordneten Iván Morales von der MAS

Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) hat große Aussichten mit Evo Morales den nächsten Präsidenten Boliviens zu stellen. Seit den Kommunalwahlen im Dezember 2004 besetzt die Linkspartei zwei Drittel der Bürgermeisterämter des Landes. Sie ist damit zur stärksten politischen Kraft geworden. Aus den Reihen der schlagkräftigen sozialen Bewegungen mehren sich jedoch die kritischen Stimmen an der Politik der MAS. Iván Morales ist gelernter Anwalt und Abgeordneter für die MAS im bolivianischen Parlament. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm am 9. Januar in Berlin.

Stefanie Kron, Anne Becker

Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen der Bewegung zum Sozialismus und den sozialen Bewegungen? Unterstützt die MAS die aktuellen sozialen Proteste gegen die Erhöhung der Brennstoffpreise und die Privatisierung des Wassers in den Großstädten El Alto und La Paz?

Wir unterstützen diese Proteste ohne Einschränkungen. Wenn es darum geht, Druck auf die Regierung auszuüben, koordiniert sich die politische Leitung der MAS nach wie vor mit den sozialen Bewegungen. Aber unser Ziel ist es, bei den allgemeinen Wahlen 2007 an die Regierung zu kommen. Und in den städtischen Gegenden ist die MAS gegenüber den bürgerlichen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen weniger einflussreich. Deshalb versuchen wir, die urbane Mittelschicht zu erreichen.

Der MAS wird von VertreterInnen sozialer Organisationen und Gewerkschaften vorgeworfen, sie stehe der Übergangsregierung von Carlos Mesa bereits näher als den sozialen Bewegungen.

Natürlich haben wir Verbindungen zur Regierung. Dort setzen wir uns für eine Politik ein, die der Bevölkerung zugute kommt und die Souveränität und Selbstbestimmung des bolivianischen Staates gegenüber den transnationalen Unternehmen und externen Akteuren begünstigt, die das Land unter Druck setzen. So haben wir uns beispielsweise für einen Gesetzesentwurf stark gemacht, der dem Staat gegenüber den ausländischen Konzernen mehr Einfluss bei der Förderung und Vermarktung der fossilen Brennstoffe ermöglicht.

Geht diese Politik der MAS auf Kosten der Sympathie der sozialen Bewegungen?

In vielen Fällen stehen die sozialen Bewegungen hinter uns, wenn wir mit der Regierung zusammen arbeiten, wie beispielsweise in der Frage um die Legalisierung des Kokaanbaus in der Region Chapare. Im Oktober des vergangenen Jahres erreichten wir ein Abkommen zwischen den Organisationen der Kokabauern und der Regierung, das erstmals eine legale Anbaufläche für Koka vorsieht und eine Entkriminalisierung der Kokabauern bedeutet. Aber ich gebe zu, dass die sozialen Bewegungen in anderen Fällen die Zusammenarbeit der MAS mit der Regierung kritisiert haben.

So sind bereits Stimmen laut geworden, die der MAS und insbesondere Evo Morales Verrat vorwerfen. Welches Gewicht hat diese Kritik?

Der Wahlerfolg der MAS bei den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember zeigt, dass wir trotz kritischer Stimmen nicht an Popularität bei den sozialen Bewegungen eingebüßt haben. Im Gegenteil. Einer der wichtigsten Kritiker der MAS ist Roberto de la Cruz von der Regionalen Arbeiterzentrale COR in El Alto. Sein politischer Einfluss in der Stadt ist nicht zu unterschätzen. Trotzdem erhielt er dort weniger Stimmen als der Vertreter der MAS. Ein anderer Kritiker der MAS ist Felipe Quispe. Er vertritt die Vereinigung der Hochlandbauern CSTUB und zog nach den Wahlen 2002 für die indigenistische Partei MIP als Abgeordneter ins Parlament ein. Seither legt er jedoch eine höchst widersprüchliche Haltung an den Tag. Vergangenes Jahr ist er von seinem Posten als Abgeordneter zurück getreten. Er argumentierte, man müsse aus dem Schema der Parteipolitik ausbrechen und den Kampf in anderen Räumen und mit anderen Akteuren weiterführen. Trotzdem trat auch er zu den Kommunalwahlen an, die ja ebenfalls ein politisches Verfahren der bürgerlichen Demokratie sind. Seine Partei gewann jedoch nur in einem einzigen Bezirk im Departement von La Paz. Die Kritiker der MAS aus den Reihen der sozialen Bewegungen sind also entweder regionale Kräfte, wie die COR und die Vereinigung der Hochlandbauern, oder es sind radikale Vertreter von trotzkistischen Gruppen, die nur eine sehr marginale Bedeutung haben.

Bei den Kommunalwahlen im Dezember hat die MAS zwei Drittel der Sitze erzielt und ist damit die stärkste politische Kraft in den Gemeinden. Was bedeutet der Erfolg der MAS bei den Kommunalwahlen für die Wahlen 2007?

Wir haben die bürgerlichen und neoliberalen Parteien aus den lokalen Regierungen verdrängt. Das bedeutet, dass wir ihre Macht beschneiden konnten, aber noch nicht, dass wir sie entmachtet haben. Das ist nun unsere Herausforderung. Wir sehen zwei wichtige Aufgaben auf uns zukommen: Erstens wollen wir eine weitere Dezentralisierung der Entscheidungsverfahren und mehr Möglichkeiten der Partizipation für die Bevölkerung erreichen. Und zweitens müssen wir daran arbeiten, von der öffentlichen Meinung als ernsthafte politische Option anerkannt zu werden – insbesondere von der Mittelschicht.

Zum ersten Mal durften neben den normalen Parteien auch Bürgerinitiativen und indigene Gruppen zur Wahl antreten. Wie hat sich diese gesetzliche Neuerung ausgewirkt?

Mit diesen Wahlen haben die traditionellen Parteien ihr Monopol auf politische Repräsentation offenkundig verloren. Zivile Organisationen mit sozialer Basis wie zum Beispiel die der Minenarbeiter, Landarbeiter oder indigenen Gruppen waren sehr erfolgreich mit ihren Kandidaturen. Da es sich hier um eine Kommunalwahl handelt, haben viele dieser der MAS nahe stehenden Gruppierungen alleine kandidiert. Bei nationalen Wahlen wäre dies anders. Für die Wahlen 2007 arbeiten wir daran, diese Bürgerinitiativen und indigenen Organisationen in der MAS zu bündeln.
Die veränderte Situation führte gleichzeitig auch zu einer Umorientierung vieler Politiker der traditionellen Parteien. Manche Politiker haben für die Wahlen ihre Partei verlassen, eine Bürgerinitiative auf dem Papier gegründet und dann für diese kandidiert, um die Wahlen trotz des Legitimitätsverlust der traditionellen Parteien zu gewinnen. Damit haben sie allerdings wenig Erfolg gehabt.

Im Juli diesen Jahres wird die Verfassungsgebende Versammlung zusammentreten, die ein Jahr lang tagen und eine neue Verfassung erarbeiten soll. Was ist die historische Dimension dieses Ereignisses?

Seit der Staatsgründung 1825 wird Bolivien von Kreolen und Mestizen regiert und repräsentiert. Die große Mehrheit des bolivianischen Volkes ist bis heute von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen: die Aymaras, die Quechuas oder besser gesagt die ausgebeuteten Klassen insgesamt, unter ihnen auch die Frauen. Genau deswegen hat die Protestbewegung die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung gefordert, um dem Land unter Mitbestimmung aller sozialen Sektoren und unterschiedlichen Kulturen eine neue Verfassung zu geben, ohne irgendjemanden auszuschließen. Es ist aber nicht nur wichtig, wie der Verfassungstext lauten wird, sondern auch, welche Partei danach an die Macht kommen wird, um diesen Text eher links oder rechts auszulegen. Darum ist es so wichtig, dass MAS die Wahlen 2007 gewinnt.

Welches sind die wichtigsten Themen, die auf der Versammlung diskutiert werden?

Zwei Aspekte sind von zentraler Bedeutung. Zum einen geht es um die politisch-administrative Struktur des Landes, die nach Auffassung der MAS aus drei Gründen mangelhaft ist. Erstens ist die Aufteilung in Verwaltungseinheiten gemacht worden, ohne die kulturelle Identität der Bewohner zu berücksichtigen. In vielen Fällen sind ethnische Gruppen in mehrere Verwaltungseinheiten aufgegliedert worden. Zweitens gibt es Gemeinden, die formal zu einem bestimmten Department gehören, aber in der Realität mit der Hauptstadt des Departments in keinerlei Kontakt stehen. So sind einige Gemeinden nicht einmal durch einen Weg oder eine Straße mit ihrer entsprechenden Hauptstadt verbunden, während eine andere Hauptstadt viel besser angebunden wäre. Ein drittes Problem ist das große Armutsgefälle und die sehr ungleichen Entwicklungsgrade zwischen Stadt und Land, die durch die jetzigen Mechanismen der Mittelzuwendungen eher zementiert als reduziert wird.
Das andere große Thema der Versammlung ist die Demokratie. In Bolivien wurde ein westliches Demokratiemodell gewaltsam eingeführt, ohne zu berücksichtigen, dass Bolivien ein multikulturelles, multiethnisches Land ist. In den verschiedenen Kulturen existieren unterschiedliche Formen der Demokratie: Es gibt die Konsensdemokratie, es gibt die Demokratie der Ämterrotation und auch die Erbschaftsdemokratie bei den Guaranís. Die nationalen Eliten haben das alles ignoriert und Wahlen und eine repräsentative Demokratie nach westlichem Vorbild eingeführt. Funktioniert hat das nicht. Die offiziellen staatlichen Autoritäten genießen auf lokaler Ebene viel weniger Respekt als die traditionellen Autoritäten wie zum Beispiel der jilakata oder der capitán grande. Wir fordern, dass künftig die verschiedenen, in Bolivien praktizierten Formen der Demokratie respektiert werden. Sie sollten unserer Meinung nach auf lokaler Ebene koexistieren können.

Sie haben eben von einer Erbschaftsdemokratie gesprochen. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Nehmen wir zum Beispiel eine Guaraní-Gemeinde in der Chiquitanía in Santa Cruz. Dort ist es üblich, dass der Sohn des verstorbenen capitán grande sein Nachfolger wird. Das ist für die Gemeinde rechtens. Wenn wir ihnen jetzt vorschreiben, dass sie stattdessen eine Wahl durchführen müssen, zwingen wir ihnen ein Verständnis von Demokratie auf, dass von außen kommt und nichts mit ihren Gewohnheiten zu tun hat. Solange ihre spezifische Regierungsform für die Mitglieder der Guaraní-Gemeinde allgemein gültig ist, finden wir es verkehrt zu intervenieren und ihnen einen angeblich richtigeren oder demokratischeren Regierungsstil aufzudrücken. Das wurde in Bolivien viel zu lange getan.

Orientiert sich die MAS an anderen sozialrevolutionären Projekten wie Venezuela oder Kuba?

Das Parteiprogramm der MAS stimmt in vieler, vor allem aber in makroökonomischer Hinsicht mit der kubanischen oder venezolanischen Politik überein. Wir wollen eine Wirtschaft, die den Menschen nutzt, nicht dem Kapital.
Der Unterschied zu Kuba oder Venezuela ist, dass wir einen Sozialismus mit eigener Identität entwickeln möchten. Anders als in Kuba oder Venezuela gibt es in Bolivien 36 Ethnien. Der indígena-Anteil liegt in Bolivien bei 62 Prozent. Wir wollen nicht nur soziale Gerechtigkeit zwischen den Menschen schaffen, sondern auch ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. Die andine Weltsicht, dass der Mensch ein Teil und nicht Herrscher der Mutter Erde ist, ist ein wichtiger ideologischer Pfeiler der MAS. Wir müssen auch den kreolischen Monokulturalismus in der Bildung überwinden. Dazu gehört nicht nur die Einführung von bilingualem Unterricht in den Schulen, wie er im Rahmen einer Bildungsreform gerade vorangetrieben wird, sondern auch eine Vermittlung der Inhalte der indigenen Kulturen. In der Grundschule lernen die Kinder die Bedeutung der bolivianischen Flagge, aber nicht die Bedeutung der Wiphala, der Flagge der Aymaras. Im Geschichtsunterricht lernen sie, wer Simón Bolívar und Sucre waren, aber sie lernen nichts über die Helden der Aymaras und Quechuas, die die Kämpfe gegen die spanische Krone und die Kolonialherren anführten.

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