Editorial | Nummer 294 - Dezember 1998

Editorial Ausgabe 294 – Dezember 1998

Das nächste Mal nutze gefälligst die gesetzliche Krankenkasse, du Idiot!“. So einer der bissigen Kommentare, der aus Chile ans Krankenbett des in London unter Arrest stehenden Augusto Pinochet gesandt wurde. Tatsächlich drängte sich die Bezeichnung „Idiot“ auf. Wie konnte der bis dahin juristisch aufs Beste beratene Tyrann plötzlich einen solchen Fehler begehen? Bei seinem Flug nach London war bereits hinlänglich bekannt, daß die spanischen Ermittlungsrichter Baltasar Garzón und Manuel García Castellón mit all ihrem juristischen Impetus den Kampf gegen die Straflosigkeit in Chile und Argentinien aufgenommen hatten. Pinochet als das Synonym für ungesühnte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Lateinamerika war damit längst ins Zentrum ihrer Untersuchungen gerückt.
Die übrigen Geschehnisse, die dann in der Festnahme des Ex-Diktators kulminierten, mochten dem alten Mann als böse Posse erscheinen. Der Diplomatenpaß allein mochte Pinochet zwar Komfort bei der Einreise verschaffen, ohne die formale Zustimmung des Empfangsstaates Großbritannien allerdings garantierte er ihm keine Unverletzlichkeit der Person. Und weder das Teestündchen mit einer alten Lady noch die geplanten Rüstungseinkäufe gingen als Immunität gewährende Sondermission durch. Pinochets Unbekümmertheit und die Zielstrebigkeit der spanischen Richter haben ihn in die mißliche Lage gebracht, sich für seine Verbrechen vor Grundsätzen des Völkerrechts verantworten zu müssen. Oder doch nicht?
Eben die Chance, Pinochet aufgrund einer universellen Strafbarkeit zur Verantwortung zu ziehen, hat auch zu Verwirrung, zu gleichermaßen unbegründeten Befürchtungen wie Revanchegelüsten geführt. Beunruhigte den britischen High Court die anmaßende Replik der aufgeschreckten chilenischen Rechten, die Queen müsse nun wegen Straftaten britischer Soldaten in Nordirland oder im Falkland/Malvinen-Krieg auf die Anklagebank gesetzt werden, so sattelten die Miami-Kubaner und Mario Vargas Llosa in umgekehrter Stoßrichtung drauf: Wenn Ihr Pinochet richtet, sorgen wir dafür, daß Fidel Castro der nächste Prozeß gilt. Daß es sich hier um kaum vergleichbare Sachverhalte handelt, dürfte auf der Hand liegen. Pinochet verübte einen Völkermord, auch wenn die systematische Verfolgung und massenhafte Ermordung von Oppositionellen in Chile den internationalen Konventionen nicht als „Genozid“ gelten mag. Derartige Gedankenspiele sollten darum trotz der undurchsichtigen juristisch-politischen Gemengelage keine Rolle spielen.
Es geht auch gar nicht darum, souveränen Staaten ihre nach wie vor ureigenen Rechte zu entreißen. Niemand bezweifelt, daß es in erster Linie Sache der chilenischen Gesellschaft und ihrer Gerichtsbarkeit ist, selbst die Wunden zu heilen, die die Militärdiktatur geschlagen hat. Solange aber Pinochet in seinem Land Immunität genießt und gemeinsam mit seiner Gefolgschaft die labile Demokratie mittels subtiler Drohgebärden in Schach hält, bleibt für eine rein innerstaatliche Versöhnung kein Raum. Solange sich also Chile in der geheuchelten Situation des „erfolgreichen Übergangs“ befindet, werden für die Opfer bei ihrer Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ausländische Richter wie Baltasar Garzón und das „Weltrechtsprinzip“ zur letzten Hoffnung.
Eines jedenfalls gereicht den Opfern Pinochets – und uns – zur Zufriedenheit: Ob er der Gerechtigkeit nun letztlich entgeht oder nicht, der Vergeltung der Erinnerung wird der Ex-Diktator nun nicht mehr entrinnen. Auch die Uneinsichtigsten sollten es inzwischen erfahren haben: Dies ist ein Verbrecher. Und mit seinen 82 Jahren hat Pinochet nun doch noch lernen müssen, daß auch er gewissen Regeln unterworfen, ja sogar nach ihnen strafbar ist. Ihm, der sich stets als lernunfähig gezeigt hatte und dessen Lebensprinzip darin bestand, anderen seine unmenschlichen Bedingungen zu diktieren, wird dies sehr, sehr schwer gefallen sein.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren