Editorial | Nummer 346 - April 2003

Unwilliges Lateinamerika

Der befürchtete Irakkrieg ist Realität. Auf die Unterstützung ihres abhängigen Hinterhofs müssen die USA bei ihrem völkerrechtswidrigen Feldzug fast gänzlich verzichten – nur Kolumbien, El Salvador und Nicaragua zählen zum Kreis der „Willigen“. Militärisch ist dies bedeutungslos, politisch indes ein Zeichen von wachsender Bereitschaft zum Widerspruch gegen die US-Hegemonie. Und Widerspruch ist immer noch der Anfang jedes emanzipatorischen Prozesses. Nicht, dass Lateinamerika auf diesem Wege nun einen großen Sprung vollzogen hätte, das wäre zuviel des Optimismus. Dennoch: Sie sind nicht umgefallen. Sowohl Chile als auch Mexiko haben dem Druck der USA standgehalten und die Gefolgschaft im UNO-Sicherheitsrat verweigert. Einer der seltenen Fälle in der Politik, wo Moral über Opportunität gesiegt hat. Denn angesichts der unverkennbaren Entschlossenheit der Bush-Krieger wäre es opportun gewesen, sich den USA anzuschließen. Schließlich winkten die USA mit lukrativen Geschenken – mit der schon seit geraumer Zeit versprochenen Ratifizierung von Chiles ersehntem Beitritt zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA und mit einer Reform des US-amerikanischen Immigrationsgesetzes plus Amnestie für illegale mexikanische ArbeiterInnen. Damit ist’s nun Essig. Beide Länder zahlen einen Preis für ihre Unwilligkeit. Das verdient Anerkennung.

Einen Preis für den Irakkrieg werden auch alle erdölimportierenden lateinamerikanischen Länder zahlen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Erdölpreis wieder schnell in „normale“ 20-Dollar-pro-Barrel-Kategorien sinkt, ist so hoch wie die Aussicht auf eine flächendeckende Demokratisierung im Nahen Osten. Ein Ölpreisschock, der wie nach dem Irakkrieg 1991 über Jahre die Weltwirtschaft bremst, ist weitaus wahrscheinlicher.

Als politischer Kollateralschaden für die USA könnte eine solche Entwicklung gerade der ungeliebten erdölexportierenden boliviarianischen Revolution von Hugo Chávez zu Gute kommen, die nach überstandenem Putschversuch und Generalstreik ökonomisch stark angeschlagen ist, politisch aber durch die doppelte Niederlage der Opposition gestärkt wurde. Trotz des ökonomischen Flurschadens könnten sich in Lateinamerika generell Spielräume für eine nachneoliberale Reformpolitik öffnen, eben weil die USA allzu sehr mit ihrem zumindest von der Bush-Administration anvisierten langen Kampf gegen den Terror beschäftigt sind. Die Ziele nach Irak sind ja schon offen benannt: Iran, Syrien, Nordkorea. Lateinamerika spielt darin keine übergeordnete Rolle, auch wenn Washington an einer neuen Sicherheitsdoktrin für Lateinamerika bastelt. Die Streitkräfte der Region müssten sich „der Bedrohung von heute“, nämlich dem „Narcoterrorismus“ entgegenstellen, forderte unlängst James Hill vom „Southern Command“ der US-Streitkräfte und erntete offenen Widerspruch aus Brasilien: Eine größere Beteiligung der Militärs im Antidrogenkampf sei nicht geplant, verkündete Lulas Verteidigungsminister José Viegas postwendend.

Das hindert die USA freilich nicht daran, im Land des Bush-Freundes Uribe weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit die direkte US-Intervention zu verstärken und den so genannten Antidrogenkampf zu verschärfen. Auch der Versuch, den rechtsextremen Republikaner Otto Reich, Drahtzieher in der Iran-Contra-Affäre, offiziell als „Beauftragten für die Westliche Hemisphäre“ (Lateinamerika) zu vereidigen., lässt eine verschärfte Gangart der USA gegenüber Lateinamerika erwarten. Nur, die volle Konzentration der USA gilt derzeit sicher nicht Lateinamerika, allein der mit Reichs Unterstützung durchgeführte dilettantische Putschversuch gegen Chávez im April spricht dafür Bände. Und isoliert ist in Lateinamerika weniger Chávez als vielmehr der kolumbianische Rechtsaußen Uribe samt seines Übervaters Bush. Nicht progressive Reformpolitik à la Lula hat einen schlechten Klang sondern die neoliberale Politik, die schon einige Staaten in der Region in den Bankrott getrieben hat. Die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika haben sich verschoben. Chile und Mexiko haben ein Zeichen gesetzt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein Anfang ist gemacht.

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