Alle zusammen gegen den Faschismus

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Illustration: Powerpaola

„Danke für so viel Schönheit im Kampf gegen die Grausamkeit.“ Hundertfach wurde dieser Satz geflüstert, als die Menschen nach einer spontanen, aber massiven Mobilisierung auf die Plaza del Congreso strömten.

Den Funken zum Entfachen des Widerstandes hatte die LGBT-Community selbst gezündet. Aus der Saat einer wenige Tage zuvor einberufenen antifaschistischen Versammlung, die im gesamten Land und weltweit Widerhall fand, erwuchs das farbenfrohe Spektakel. Noch lässt sich nicht sagen, ob dieser Tag einen Wendepunkt markiert, aber tausende vom Sommertag aufgeheizte Körper haben deutlich gemacht: Basta! Es reicht!

Angeführt von travestis, trans, schwulen, nicht binären und lesbischen Personen setzte sich der schillernde Demozug um vier Uhr nachmittags in Bewegung. Unter den Teilnehmenden ist Flor, 14 Jahre alt. „Ich war noch nie auf einer Demo, aber nach der Rede des Präsidenten habe ich mir gedacht: Es reicht! Und bin gekommen“, sagt sie mit Blick auf das breite Frontbanner der Demonstration. Es ist ein Banner, das von geballten Fäusten von ungefähr 50 trans und lesbischen Personen, deren Fingernägel rot und schwarz lackiert sind, gehalten wird. „Orgullo antifascista y antirracista“ prangt auf dem prächtigen Tuch, das am Tag zuvor bemalt worden ist. Es ist ein Beben verschiedener Bewegungen, die sich im Kampf vereinen, um, wie Flor zu sagen: „Es reicht!“


“Meine erste Demo”

„Es ist überlebenswichtig den Antifaschismus in der Gesellschaft zu verankern“, sagt Violeta Alegra, trans Aktivistin und DJ. „Wir haben auf die harte Tour gelernt, dass das, trotz der Fortschritte in Menschen- und Bürgerrechten, bisher nicht der Fall war. Dieser Faschismus ist nicht der von Mussolini, er hat sich durch Technologie und soziale Medien neu erfunden.“ Sie klettert auf den Truck, der direkt hinter dem Frontblock fährt. Über der Musik und dem Voguing, einem Tanz aus der Ballroom-Szene, ertönt der Spruch: „Einheit aller maricas, wem das nicht passt, ist ein Faschist!“

Ein rosa Plüschbanner ziert die Front des Wagens der Columna Mostri. Unter dem Motto: „Das Leben ist in Gefahr“ hatte sich dieser Block zur letztjährigen 8.-März-Demonstration formiert. Eine Woche vor der Demonstration hatte die Columna Mostri bereits hunderte Personen zu einer Versammlung im Park Lezama mobilisiert. „Wir sind antifaschistisch, wir sind alle degeneriert, wir sind antirassistisch, wir verteidigen das Leben gegen das faschistische Projekt“, singen sie. Dahinter reihen sich queere und feministische Organisationen, Gewerkschaften, Peronistinnen und Linke ein. Alle oppositionellen politischen Strömungen sind auf dieser Demonstration vertreten.


Ein Fest für alle – ohne Polizei

Unterstützung für die Demonstration kam aus ungeahnter Richtung: Das Erzbistum der Stadt Buenos Aires setzte sich dafür ein, dass die Kathedrale während der Demonstration nicht abgeriegelt wird. Der Richter Ramos Padilla erließ aus eigenem Antrieb präventiv einen habeas corpus, damit die Sicherheitskräfte weder Personen noch Fahrzeuge festsetzen konnten. Wo sozialer Protest sonst von den repressiven Sicherheitsprotokollen von Ministerin Patricia Bullrich in Tränengas erstickt wird, glichen die gesperrten Straßen rund um die Avenida de Mayo einem Fest, überschäumend vom LGTBIQNB+ Pride.

Die Sängerinnen Lali Epósito und Maria Becerra wurden auf einem Balkon begeistert begrüßt. Beide haben sich entschlossen gegen Milei ausgesprochen und wurden von ihm deshalb persönlich angegriffen. In Reaktion darauf veröffentlichte Lali das Lied „Fanático“. Auch die Madres de Plaza de Mayo wurden mit ohrenbetäubenden Rufen empfangen: „Madres de la Plaza, die Travestis umarmen euch.“

Die Hoffnung, dass sich der Demonstration ein breiter Sektor der Gesellschaft anschließen würde, wie zu der „Marcha Universitaria“ gegen die harten Kürzungen an Universitäten 2024 oder der Demonstration „2×1“ unter der Regierung von Mauricio Macri, hat sich erfüllt. „Es gibt Dinge, über die wird nicht verhandelt“, sagt eine Frau, einen Fotoapparat in der einen Hand, in der anderen einen Gehstock. Sie schwitzt in der Nachmittagshitze. „Ich bin in Rente, mein 13-jähriger Enkel ist schwul. Ich werde nicht zulassen, dass diese Regierung macht, was sie will.“

Der Antifaschismus auf der Straße

Als der Zug auf die Plaza de Mayo einbiegt, wartet eine Schlange von Journalistinnen auf den Moment für das perfekte Foto. Mit warmem Applaus heißen Kinder und Frauen Travestis willkommen. Diejenigen in der Gruppe, die über 40 sind, haben ihre durchschnittliche Lebenserwartung bereits überschritten. Wirft eher neue Fragen auf.

„Das Interessanteste an dieser Mobilisierung ist, dass der Fokus auf einer Debatte liegt, in der es um eine Politik der tiefgreifenden Humanisierung vielfältiger Existenzformen geht“, sagt Lucia Portos, Staatssekretärin des Ministeriums für Gender und Diversität der Provinz Buenos Aires. Für sie ist es ein Bekenntnis zur Solidarität und zu Netzwerken, die den Institutionalismus herausfordern. „Es geht um Community und die Entlarvung derjenigen, die die Grausamkeit als Werkzeug benutzen“, erklärt sie. „Ich denke, dass die heutige Demonstration einen Wendepunkt darstellt, der dazu führen sollte, dass wir die Logik der demokratischen Repräsentation hinterfragen. Die von den breiten Protestbewegungen gesetzten Prioritäten sollten übernommen werden, um eine Mehrheit zu bilden, die der Gewalt wirksam Einhalt gebieten kann.“ Ebenfalls im Block der Provinz Buenos Aires nahm der peronistische Gouverneur Axel Kicillof an der Demonstration teil.

„Ich bin total glücklich über diesen gemeinsamen politischen Akt voller Zärtlichkeit und Entschlossenheit“, sagt Marta Dillom, Aktivistin, Lesbe und Feministin, am Rande des Frontblocks: „Wir haben gesagt, nein, Milei, wir sind nicht bereit, deine Politik der Auslöschung zu tolerieren. Du kommst nicht durch mit deinem Faschismus!“

„Von unserem antirassistischen Blickpunkt aus möchten wir mit dieser Demonstration die Kürzungen im Bereich der öffentlichen Politik und Reparationsmaßnahmen gegenüber unseren Communities anprangern. Durch den strukturellen und institutionellen Rassismus in Argentinien sind diese historisch marginalisiert und besonders verletzlich“, sagt Alejandra Pretel, Mitglied von afroslgbtiq+ und Mitgründerin von Afrocolectiva, die als Gruppen ebenfalls Teil der antifaschistischen Versammlung sind. „Eine antifaschistische Haltung ist zwangsläufig antirassistisch. Der Kampf gegen den Faschismus lässt sich nicht trennen von rassistischen Annahmen von Überlegenheit und der Verfolgung von Körpern, die außerhalb der Grenzen der nationalen Identität verortet werden“, sagt sie im Gespräch mit página/12.

Manuel Sinde ist Mitbegründer von El Teje, einer Organisation, die trans und nicht binäre Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ihre Familien begleitet. Sinde zufolge markiert die Demonstration ein Vorher und Nachher, ist zugleich Antwort und Begegnung. „Mit El Teje begleite ich seit mehr als zwei Jahren trans und nicht binäre Kinder und Jugendliche, die sehr verängstigt und traurig sind. Wir müssen nicht nur eine Antwort auf den Faschismus finden, sondern auch diese Identitäten begleiten. Damit sie wissen, dass wir da sind, um uns um sie zu kümmern und dass wir keinen einzigen Schritt zurückweichen.“

„Besonders gefährlich ist, dass sich die Botschaft des Präsidenten im Land und in der Welt verbreitet“, sagt Yokarta, Sexarbeiterin, die mit der Sexarbeiter*innengewerkschaft AMMAR (siehe LN 576) läuft. „Das befeuert die Gewalt und Polizeiwillkür in den Vierteln, in denen wir arbeiten“, erzählt sie. „Wenn der Präsident sagt, dass wir gefährlich sind, wird die Polizei das als Einladung zur Repression sehen. Sei es, weil ich Sexarbeiterin bin, Migrantin oder trans.“

Die Demonstration vereinte nicht nur einen breiten Querschnitt der Gesellschaft, sondern auch ihre Themen: von spezifischen Problemen der LGBT-Community, bis hin zu den Armutsrenten (siehe LN 608). „Es ist fundamental wichtig, gegen die Aushöhlung der Gesundheitspolitik zu kämpfen, um das Recht auf Abtreibung etwa, umfassende Gesundheitsversorgung für LGBT-Personen, Zugang zu HIV- und Hormontherapie“, sagt Cesar Bisutti, Anwalt, Anti-Gefängnis-Aktivist und Angestellter der Abteilung für Geschlechtergleichstellung des Gesundheitsminis­teriums der Provinz Buenos Aires. „Diese Demonstration war wirklich notwendig. Denn die Diskurse von Milei sind nicht nur Worte, sondern Nekropolitiken, die bestimmte Körper als unterwünscht markieren und auslöschen wollen und daraus auch noch ein Spektakel machen.“

„Dieser Tag war ein deutliches Warnsignal an die Regierung. Über diese entschlossene Opposition können wir uns freuen“ sagt die Sängerin Liliana Herrero, bevor sie den Plaza de Mayo erreicht.
Ein Tag der Schönheit wider der Grausamkeit – vom Flüstern zur Party, die geschminkte Haut in der Sonne und fern der Wolken aus Tränengas, die ein ums andere Mal soziale Proteste einhüllen. Ein Aufbäumen gegen die libertäre Ultrarechte in der Welt. Am Tag danach ist die Erleichterung ebenso spürbar wie das Feuer, das wieder entfacht ist.


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BRASILIEN IM KATASTROPHENMODUS

„Ich kann mit dieser Regierung nicht atmen“ Protest gegen die Regierung in Brasília  (Foto: Roberto Oliveira)

„Wir befinden uns nicht mehr im Ausnahmezustand, sondern im Katastrophenfall“, erklärte der Bürgermeister von Manaus, Arthur Virgílio Neto, bereits Ende April unter Tränen. Seit in Brasilien am 19. Mai die erschreckende Marke von mehr als 1.000 Corona-Toten innerhalb von 24 Stunden überschritten wurde, jagt ein Höchstwert der täglichen Todesfälle den nächsten. Inzwischen hat sich das neuartige Virus SARS-CoV-2 in allen brasilianischen Bundesstaaten ausgebreitet. Brasilien weist aktuell weltweit die zweithöchsten Fallzahlen auf. Ende Mai lag die Auslastung der Intensivbetten in den meisten Bundesstaaten bei über 70 Prozent. Neben São Paulo und Rio de Janeiro sind besonders die Bundestaaten Ceará und Pernambuco im Nordosten betroffen sowie der flächengrößte Bundesstaat Amazonas. In dessen Hauptstadt Manaus stehen für die 2,1 Millionen Einwohner*innen 243 Intensivbetten in öffentlichen Krankenhäusern zur Verfügung. Zu Beginn der Pandemie waren es sogar nur 107. Im Inland des Bundesstaates ist die Versorgungslage noch kritischer.

Mit der Initiative „S.O.S Manaus – Hilfe für die Hüter des Regenwaldes“ versucht Bürgermeister Virgílio Neto, auch im Ausland für finanzielle und materielle Unterstützung zu werben. Seine Initiative richtete sich an 21 Staats- und Regierungschefs, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Prominente Unterstützung erhielt er von Greta Thunberg. In einem Video rief sie gemeinsam mit zwölf internationalen Fridays-for-Future-Aktivist*innen die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Bundesstaat im Amazonas zu unterstützen und machte auf die globalen Folgen der hohen Todesrate, vor allem in der indigenen Bevölkerung, aufmerksam.

In der Pandemie ohne Gesundheitsminister

Während Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen der Bundesstaaten sich lange Zeit Bolsonaros Aufruf widersetzten, zur Normalität zurückzukehren, beginnt langsam die Aufweichung der Maßnahmen. João Doria, Gouverneur von São Paulo, verfügte ab dem 1. Juni erste Lockerungen: Noch bevor der Höhepunkt der Krise erreicht ist, öffnen Einzelhandel, Büros und Einkaufszentren in Teilen des Bundesstaates. „Wir werden die Quarantäne beibehalten, aber mit einer gewissenhaften Wiederaufnahme einiger wirtschaftlicher Aktivitäten beginnen “, so der wirtschaftsnahe Gouverneur. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lag die Auslastung der Intensivbetten im Bundestaat bei 75 Prozent, in der Hauptstadt São Paulo sogar bei 91 Prozent.

Mitten in der Pandemie bleibt das aktuell wichtigste Ministerium führungslos: Nach dem Rauswurf des Gesundheitsministers Luiz Henrique Mandetta Mitte April, trat sein Nachfolger Nelson Teich nach nur 29 Tagen im Amt ohne genaue Angabe von Gründen zurück. Sein ehemaliger Vize, General Eduardo Pazuello, ist seither offizieller Interims-Minister. Laut der Tageszeitung Estadão sollen 40 weitere Posten im Gesundheitsministerium mit Militärs besetzt werden.

Aus dem Präsidentenpalast heißt es zu Teichs Rücktritt, Minister und Präsident seien sich über den Einsatz des Medikaments Chloroquin bei der Behandlung gegen Covid-19 uneins gewesen. Wie der US-amerikanische Präsident Donald Trump wirbt auch Brasiliens Präsident Bolsonaro dafür, Corona-Virus Erkrankte mit dem Malaria-Medikament zu behandeln oder es sogar präventiv einzusetzen. Die Wirkung von Chloroquin und seinem Wirkstoff Hydroxychloroquin gegen eine Corona-Erkrankung ist wissenschaftlich nicht bewiesen. Er selbst besitze eine „kleine Schachtel“ des Medikaments für den Fall, dass seine 93-jährige Mutter sie brauche. In einem Interview erklärte er die Einnahme des Medikaments zur ideologischen Frage. „Wer rechts ist, nimmt cloroquina, wer links ist, nimmt tubaína“. Laut der Nachrichtenseite DCM spielt Bolsonaro damit nicht nur auf die gleichnamige Limonade an. Unter Militärs werde der Begriff auch für eine Foltertechnik durch Ertränken verwendet.

Bolsonaro beleidigte Gouverneure als „Stück Scheiße“

Der Präsident konzentriert sich unterdessen auf andere Themen. In der Auseinandersetzung mit dem ebenfalls zurück getretenen Justizminister Sérgio Moro gab der oberste Gerichtshof STF den zweistündigen Videomitschnitt einer Kabinettssitzung vom 22. April frei. Er sollte den Vorwurf Moros belegen, Bolsonaro habe versucht, einen Vertrauten zum Chef der Bundespolizei zu ernennen. Bolsonaro habe sich so erhofft, Informationen zu laufenden Ermittlungen gegen seine Söhne zu erhalten. Doch das Video gibt noch ganz andere Einblicke: Bolsonaro beleidigte Gouverneure als „Stück Scheiße“ und setzte seine Minister*innen unter Druck, seiner ideologischen Linie treu zu bleiben und seine Einmischungen zu dulden – oder ihr Amt niederzulegen. Ideologische Grabenkämpfe sind auch im Corona-Ausnahmezustand die oberste Priorität des Präsidenten.

Waffenbesitzer*innen in Brasilien können jetzt 6.000 Projektile pro Jahr kaufen

Diese Haltung Bolsonaros ist nicht nur beleidigend. Sie ist auch bedrohlich. „Schaut euch an, wie einfach es ist, eine Diktatur in Brasilien zu installieren. Darum will ich, dass das Volk sich bewaffnet“, so wendete sich Bolsonaro in der Sitzung an den Justiz- und den Verteidigungsminister. Einen Tag später veröffentlichte seine Regierung eine Verordnung, nach der es Waffenbesitzer*innen in Brasilien nun möglich ist, mehr als 6.000 Projektile pro Jahr zu kaufen, zwölfmal mehr als zuvor. Laut dem Institut Sou da Paz könnten sich die im Land registrierten Waffenbesitzer*innen nun innerhalb eines Jahres mit mehr Projektilen eindecken, als Brasilien Einwohner*innen zählt.

Nicht nur der Präsident artikuliert sein zweifelhaftes demokratisches Verständnis deutlicher denn je, auch seine Minister*innen: Umweltminister Ricardo Salles schlägt vor, die Krise zu nutzen, um unbemerkt von der Presse Änderungen an der Umweltgesetzgebung vorzunehmen. Und Bildungsminister Abraham Weintraub kommentierte, die „Verbrecher“ des Obersten Gerichtshofs sollten im Gefängnis sitzen. Der Bundes-*richter Alexandre de Moraes schloss Weintraub daraufhin in die seit 2019 laufenden Ermittlungen zur Verbreitung von Fake News durch Regierungsmitglieder und Angehörige des Bolsonaro-*Clans ein. Bei der Vernehmung schwieg Weintraub zu den Vorwürfen. Ob der Minister sich für die Äußerungen verantworten muss, entscheiden die Bundesrichter in der zweiten Juniwoche. Sein Kollege, der Justizminister André Mendonça, beantragte schon einmal vorsorglich seinen Frei-*spruch. Die Bundespolizei ermittelt auch in einem anderen Fall gegen Weintraub. Auf Twitter fiel er mit rassistischen Äußerungen gegen China auf und löste eine weitere diplomatische Krise mit Brasiliens wichtigstem Handelspartner aus.

Immer mehr Brasilianer*innen gehen auf die Straße

Auch wenn das Video der Kabinettsitzung Brasilien und der ganzen Welt einen tiefen Einblick in Bolsonaros Horrorkabinett (LN 536) gibt – aus der Sicht von Expert*innen wird es Bolsonaros Popularität wenig beeinflussen. Sein desaströses Krisenmanagement hat die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber ihrem Präsidenten nur marginal verändert. Der Anteil der treuen Bolsonaro-*Anhänger*innen liegt, je nach Umfrage, weiterhin zwischen 28 und 33 Prozent.

Dennoch mobilisiert sich langsam aber sicher ein Teil der Zivilgesellschaft gegen den Rechtsextremen. Immer mehr Brasilianer*innen gehen „Für die Demokratie“ und gegen den Faschismus auf die Straße. Bereits Ende Mai schlossen sich in São Paulo eigentlich rivalisierende Fußballfans der vier größten Vereine zusammen und führten die Demonstrationen an. In Brasília trennten bei den Protesten am 7. Juni 300 Einsatzkräfte der Nationalen Einheit für öffentliche Sicherheit (FNSP) die antifaschistischen Demonstrierenden von Bolsonaro-Sympathisant*innen. Zuletzt weiteten sich die Proteste auf 20 Bundeshauptstädte aus. Befeuert werden sie durch die weltweiten „Black Lives Matter“-Demonstrationen. In Brasilien starben 2019 sechsmal mehr Menschen durch Polizeigewalt als in den USA. 75 Prozent der Ermordeten waren Schwarz.

In Brasilien starben 2019 sechsmal mehr Menschen durch Polizeigewalt als in den USA

Präsident Bolsonaro diskreditierte die antifaschistischen Demonstrierenden als „Terroristen“, eine Anspielung auf Donald Trumps jüngsten Vorschlag, die Antifa als Terrororganisation einzustufen. In der Tageszeitung Estadão äußert sich auch Vizepräsident Hamilton Mourão zu den Demonstrationen. Die Proteste könnten vielen Zwecken dienen, „aber niemals der Verteidigung der Demokratie“, so der ehemalige General.

Mit Präsident und Vizepräsident beanspruchen in Brasilien aktuell diejenigen die Definitionshoheit der Demokratie, denen sie am wenigsten zuzutrauen ist. Das brasilianische Zentrum für die Analyse von Freiheit und Autoritarismus (LAUT) stellt für die Monate April und Mai fast täglich Handlungen der Exekutive fest, die ein Risiko für die Freiheit und Demokratie in Brasilien darstellen. Bolsonaros Annahme, sich ohne Kontrolle in alle Sphären des Staates einmischen zu können, widerspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung.

41 Anträge zur Amtsenthebung des Präsidenten sind beim Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Maia, bis Ende Mai eingegangen. Ein Großteil der Anträge bezieht sich auf Bolsonaros Verletzungen der Prinzipien des Rechtsstaats. Darunter ist auch ein gemeinsames Gesuch von vier Parteien der linken Opposition, unter anderem der Arbeiterpartei PT, aber auch von einem großen Bündnis von Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Chancen für den Erfolg eines Verfahrens stehen jedoch schlecht. Risikoanalysten der Eurasiagroup beziffern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Impeachment Bolsonaros Mandat vorzeitig beendet, mit 25 Prozent. Wenn die Stimmung der Brasilianer*innen nicht umschlägt, werden die für die Amtsenthebung notwendigen zwei Drittel des Abgeordnetenhauses nicht zu mobilisieren sein. So ist ein Impeachmentprozess gegen Bolsonaro auch für die Opposition nicht ohne Risiko, denn „ein überstimmtes Amtsenthebungsverfahren würde den Präsidenten stärken“, stellt der Politikwissenschaftler José Murilo de Carvalho fest.


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