DAS LEBEN IM TOD IM LEBEN

Foto: © Los Niños Films


Am entscheidenden Tag solle sie bei Sonnenaufgang etwas essen, aber getrennt von den Gästen und nur das, was man ihr gebe. Dann gehe es los, und vielleicht werde sie etwas Angst haben. Wenn alles vorbei sei, solle sie ein kleines bisschen Alkohol trinken, und erst dann dürfe sie sich auch ausruhen. Diese Worte ihrer Großmutter zu Beginn des Films Lapü sollen die Hauptperson Doris auf das ihr bevorstehende Ritual vorbereiten.
Hintergrund der Planungen: Doris hat schon vor Jahren einen lieben Menschen verloren: ihre Cousine, mit der sie viele schöne Erinnerungen verbinden, starb fern ihres Heimatdorfes. Eines Nachts träumt sie von ihr, während der Wind über ihre Hütte in der trockenen kolumbianischen Halbwüste auf der Halbinsel Guajira am nördlichsten Ende Südamerikas weht. Im Gespräch mit ihrer Großmutter findet sie heraus, dass die Cousine sie durch den Traum bittet, ihre sterblichen Überreste zu exhumieren, zu säubern und in ihrem Dorf neu zu bestatten. Nur so könne sie ihre Ruhe finden.
© Los Niños Films
Doris wird sich der Aufgabe stellen. Das Ritual der zweiten Bestattung hat bei den Wayúu, der größten indigenen Gruppe in Kolumbien und Venezuela, eine wichtige Bedeutung und ist nach dem Ritual um die erste Menstruation bereits das zweite aus ihrer Kultur, das binnen weniger Jahre den Weg ins Kino findet (siehe La eterna noche de las doce lunas, LN 465). Mehr noch als um das Ritual selbst geht es Lapü jedoch um den Umgang mit dem Tod und seiner Rolle im Leben. In westlichen Gesellschaften wird er tabuisiert und verdrängt, sodass er, wenn er eintritt, die Zurückbleibenden aus der Bahn wirft. In Kolumbien gilt letzteres nach dem jahrelangen bewaffneten Konflikt mit vielen Opfern umso mehr. „Aber die Art und Weise, in der man den Tod versteht, ist die gleiche Weise, in der man auch das Leben versteht“, sagt César Alejandro Jaimes. „Haben wir die Fähigkeit verloren, den Tod als etwas für unser Leben zutiefst Wertvolles zu betrachten?“, fragen er und sein Regiekollege Juan Pablo Polanco sowohl sich selbst als auch das Publikum. Sie schreiben zu ihrem Werk, „Lapü ist ein Versuch, diese Beziehung zum Tod zu fühlen und wieder mit Bedeutung zu füllen, mit Verlust und Erinnerung; ein Versuch, ihn zu verbiegen und mit dem Leben zu verschmelzen.“
Dem Film gelingt es, eine für diese Thematik passende und einfühlsame Bildsprache zu finden. Genau wie Tag und Nacht in einer Sequenz mehrfach ineinander übergehen, spricht Doris in einem Moment noch mit ihrer Familie über die verstorbene Cousine und kurz darauf mit der Cousine selbst. Die Übergänge sind hier wie dort fließend, und die Grenzen zwischen Traum, Erinnerung und Fiktion verschwimmen.
© Los Niños Films
Die beiden Regisseure haben ihren ersten Film behutsam zusammen mit ihrer Hauptperson entwickelt und das Ritual sowie Doris’ Weg dorthin mit der Kamera begleitet. Diese wird zur teilnehmenden Beobachterin des Alltags, wenn Menschen in ihren Hängematten liegen, sich unterhalten, auf Bäume klettern und Wasser holen. Die Zuschauer*innen bekommen eine Vorstellung davon, dass das Leben in dieser Gemeinschaft nach einem eigenen – für unsere Wahrnehmung langsameren – Rhythmus abläuft und tauchen in diesen ein. In einigen Momenten, etwa während Doris die sterblichen Reste ihrer Cousine aus dem Grab holt oder wenn das Töten einer Kuh gezeigt wird, wirkt der Film dagegen verstörend. Gleichzeitig wird klar, dass diese Geschehnisse für die Wayúu einen selbstverständlichen Teil des Lebens darstellen. Die Diskrepanz darin ist gewollt und stimmt die Betrachter*innen nachdenklich. Nur subtil klingt an, dass sich die Wayúu wie so viele indigene Gruppen auch mit äußeren Einflüssen auseinandersetzen müssen – aber noch hören junge Menschen wie Doris ihren Großmüttern zu.

Lapü läuft 2019 im Berlinale Forum.

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