EINTAUCHEN IN DIE TRAUER

Fotos: Cine Global, Filmstill

Wie überwindet man den Tod der anderen? Marcela (gespielt von Mercedes Morán) hat unerwartet ihre Schwester Rina verloren. Hinter zugezogenen Vorhängen, im ständigen Halbdunkel, sortiert sie die Sachen ihrer verstorbenen Schwester, räumt aus, isst aus einer angebrochenen Eisschale, die noch im Gefrierfach steht, und führt damit eine der letzten Handlungen fort, die ihre Schwester vor dem Tod noch tat.
Die Wohnung von Marcela und ihrer Familie wirkt wie ein von der Außenwelt getrennter Lebensraum – in den die Protagonistin „abtaucht«, wie der Titel Familia sumergida (in etwa: „Abgetauchte Familie“) nahelegt. So findet das erste Drittel des Filmes fast ausschließlich in diesen mit Stoffen und Möbeln überladenen Räumen statt. Außerdem vermittelt er eine Ahnung von den Spannungen, die unter der Oberfläche des Familiengefüges liegen.
Mit ihrem Film erzählt die argentinische Regisseurin María Alché glaubwürdig und in chronologischen Episoden, wie eine Frau in Buenos Aires in ihren familiären Rollen als Schwester, Mutter und Ehefrau einen Trauerprozess durchlebt. Das langsame Tempo der Kamera vermittelt etwas von der drückenden Hitze, aber auch von dem inneren Zustand der Hauptfigur Marcela: Apathische Langsamkeit. Es ist Sommerzeit, ein Ventilator rauscht an der Decke, und die Zimmer sind mit Gardinen abgedunkelt. Gelegentlich schimmert das Sonnenlicht durch. Die Atmosphäre hat etwas Beklemmendes und bewirkt ein Gefühl von Fremdsein. Die Nahaufnahmen von Marcela zeigen sie in sich zurückgezogen, manchmal wie betäubt. Ihre Gesten stimmen mit dem Rhythmus der Bilder überein. Im Wohnzimmer und anderen Räumen hat Marcela alle Topfpflanzen, die ihrer Schwester gehörten, verteilt.
Den Familienalltag nimmt Marcela immer mehr aus einer Beobachter*innenperspektive wahr, als gehöre sie nicht ganz dazu. Obwohl sie sehr bemüht um ihre Kinder ist, zu denen sie offenbar ein enges Verhältnis hat, schweift sie immer wieder ab. Die sind auf andere Weise mit ähnlichen Themen beschäftigt wie ihre Mutter. Die ältere Tochter Luisa feiert den Abschied eines Bekannten, der scheinbar alles hinter sich lassen wird. Die wiederkehrenden Elemente sind Verlust, Trennung und Neuanfang – im Guten wie im Schlechten.

Rauchpause Marcela räumt nach und nach den Hausstand ihrer Schwester aus / Foto: Cine Global, Filmstill

Nach und nach bekommt der Film eine Wendung, die ins Surreale übergeht. Marcela beginnt, luzide Tagträume zu haben, trinkt mit alten Tanten Kaffee im Wohnzimmer, die am Ende gar nicht da waren. Diese Szenen sind meist mit einem schrägen Sound unterlegt, der die innere Verwirrung Marcelas fühlbar macht. Traumartig wandelt sie zwischen Erinnerungen und Alltagsrealität: Die Vorhänge sind in ihrer Vieldeutigkeit ein allgegenwärtiges Element im Film, mal als Versteck, mal als Abtrennung und Verdunkelung nach draußen, als Sichtschutz oder als Grenze zwischen den Welten.
Die Regisseurin schafft mit ihrer Protagonistin auch eine Rolle jenseits von Klischees: Marcela ist eine Frau mittleren Alters, deren Schönheit nicht mit einem Jugendideal verwechselt wird, sondern sich aus ihrer Erfahrenheit und Ruhe ergibt. Viel zu selten sieht man alternde Mütter mit jüngeren Liebhabern auf der Leinwand. Alché vollbringt das, ohne von dem Hauptthema der Trauer abzukommen: Das Absurde am Tod und am Verlust.
Mit Electrotango-Klängen im Hintergrund, wirkt Marcela erstarkt und in Frieden mit sich selbst und der Erinnerung an ihre Schwester. Die detaillierte und gestenreiche Bildsprache, die gut beobachteten Alltagssituationen und die Nähe zur Protagonistin haben Alchés Film wohl auch die Lorbeeren eingebracht: den „Horizontes Award” des San Sebastian Film Festivals, „The Ingmar Bergman International Debut Award” des Göteborg Film Festivals sowie den „Talents Award” und „Critics’ Award« des D’A Film Festivals Barcelona.

 

DAS LEBEN IM TOD IM LEBEN

Foto: © Los Niños Films


Am entscheidenden Tag solle sie bei Sonnenaufgang etwas essen, aber getrennt von den Gästen und nur das, was man ihr gebe. Dann gehe es los, und vielleicht werde sie etwas Angst haben. Wenn alles vorbei sei, solle sie ein kleines bisschen Alkohol trinken, und erst dann dürfe sie sich auch ausruhen. Diese Worte ihrer Großmutter zu Beginn des Films Lapü sollen die Hauptperson Doris auf das ihr bevorstehende Ritual vorbereiten.
Hintergrund der Planungen: Doris hat schon vor Jahren einen lieben Menschen verloren: ihre Cousine, mit der sie viele schöne Erinnerungen verbinden, starb fern ihres Heimatdorfes. Eines Nachts träumt sie von ihr, während der Wind über ihre Hütte in der trockenen kolumbianischen Halbwüste auf der Halbinsel Guajira am nördlichsten Ende Südamerikas weht. Im Gespräch mit ihrer Großmutter findet sie heraus, dass die Cousine sie durch den Traum bittet, ihre sterblichen Überreste zu exhumieren, zu säubern und in ihrem Dorf neu zu bestatten. Nur so könne sie ihre Ruhe finden.
© Los Niños Films
Doris wird sich der Aufgabe stellen. Das Ritual der zweiten Bestattung hat bei den Wayúu, der größten indigenen Gruppe in Kolumbien und Venezuela, eine wichtige Bedeutung und ist nach dem Ritual um die erste Menstruation bereits das zweite aus ihrer Kultur, das binnen weniger Jahre den Weg ins Kino findet (siehe La eterna noche de las doce lunas, LN 465). Mehr noch als um das Ritual selbst geht es Lapü jedoch um den Umgang mit dem Tod und seiner Rolle im Leben. In westlichen Gesellschaften wird er tabuisiert und verdrängt, sodass er, wenn er eintritt, die Zurückbleibenden aus der Bahn wirft. In Kolumbien gilt letzteres nach dem jahrelangen bewaffneten Konflikt mit vielen Opfern umso mehr. „Aber die Art und Weise, in der man den Tod versteht, ist die gleiche Weise, in der man auch das Leben versteht“, sagt César Alejandro Jaimes. „Haben wir die Fähigkeit verloren, den Tod als etwas für unser Leben zutiefst Wertvolles zu betrachten?“, fragen er und sein Regiekollege Juan Pablo Polanco sowohl sich selbst als auch das Publikum. Sie schreiben zu ihrem Werk, „Lapü ist ein Versuch, diese Beziehung zum Tod zu fühlen und wieder mit Bedeutung zu füllen, mit Verlust und Erinnerung; ein Versuch, ihn zu verbiegen und mit dem Leben zu verschmelzen.“
Dem Film gelingt es, eine für diese Thematik passende und einfühlsame Bildsprache zu finden. Genau wie Tag und Nacht in einer Sequenz mehrfach ineinander übergehen, spricht Doris in einem Moment noch mit ihrer Familie über die verstorbene Cousine und kurz darauf mit der Cousine selbst. Die Übergänge sind hier wie dort fließend, und die Grenzen zwischen Traum, Erinnerung und Fiktion verschwimmen.
© Los Niños Films
Die beiden Regisseure haben ihren ersten Film behutsam zusammen mit ihrer Hauptperson entwickelt und das Ritual sowie Doris’ Weg dorthin mit der Kamera begleitet. Diese wird zur teilnehmenden Beobachterin des Alltags, wenn Menschen in ihren Hängematten liegen, sich unterhalten, auf Bäume klettern und Wasser holen. Die Zuschauer*innen bekommen eine Vorstellung davon, dass das Leben in dieser Gemeinschaft nach einem eigenen – für unsere Wahrnehmung langsameren – Rhythmus abläuft und tauchen in diesen ein. In einigen Momenten, etwa während Doris die sterblichen Reste ihrer Cousine aus dem Grab holt oder wenn das Töten einer Kuh gezeigt wird, wirkt der Film dagegen verstörend. Gleichzeitig wird klar, dass diese Geschehnisse für die Wayúu einen selbstverständlichen Teil des Lebens darstellen. Die Diskrepanz darin ist gewollt und stimmt die Betrachter*innen nachdenklich. Nur subtil klingt an, dass sich die Wayúu wie so viele indigene Gruppen auch mit äußeren Einflüssen auseinandersetzen müssen – aber noch hören junge Menschen wie Doris ihren Großmüttern zu.

Lapü läuft 2019 im Berlinale Forum.

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