AUF TAUCHGANG

Das Meer, auf das Única blickt, ist nichts anderes als ein Müllmeer. Seit 20 Jahren schon lebt sie in Río Azul am Fuße von Costa Ricas Hauptstadt San José und in ebendieser Zeit hat sich der einst kleine Müllhügel in ein alles verschlingendes Meer gewandelt. Alles verschlingend im wahrsten Sinne: Als eine Mutter kurz ihr Baby außer Acht lässt, verschwindet dieses für immer in den giftigen, nie ruhenden Müllschichten. Nicht ohne Grund werden die rund 400 Bewohner*innen der Deponie „Taucher“ genannt. Sie verbringen den Großteil ihres Tages damit, im Müll nach Essbarem und Dingen zu suchen, die sie gegen kleines Geld auf dem Markt von Río Azul verkaufen können.

Trotz dieses Lebens voller Widrigkeiten bemüht sich Única um ein wenig Normalität. Sie sorgt für einen Zusammenhalt zwischen den Bewohner*innen der Mülldeponie, kreiert aus den ertauchten Essensresten neue Mahlzeiten und adoptiert ein Findelkind. Ihre aus Müll zusammengeschusterte Baracke ziert eine Fernsehantenne – auch ohne Fernsehgerät, versteht sich. Neuzugang auf der Müllkippe ist Mondolfo, genannt Moboñombo Moñagallo, der sich, nachdem er auf kriminelle Machenschaften in seinem alten Job aufmerksam und gefeuert wurde, in seiner Depression das Leben nehmen möchte. Única rettet ihn vor dem Tod und nimmt ihn in ihre Wahlfamilie auf. Doch schon bald steht die Zukunft aller Taucher*innen auf dem Spiel: Die Nachbar*innen von Río Azul wollen die toxische und immer wachsende Mülldeponie nicht länger dulden.

Fast drei Jahrzehnte sind seit der Erstpublikation von Única blickt aufs Meer in Costa Rica vergangen, die Übersetzung ins Deutsche basiert auf der 2010 vom Autor aktualisierten Ausgabe. Thematisch könnte der Roman von Fernando Contreras Castro kaum aktueller sein. Umweltverschmutzung und die konkreten Auswirkungen auf die Menschen vor Ort sind das zentrale Motiv. Anhand des Alltags auf der Müllkippe erzählt Contreras Castro von Armut und sozialen Differenzen sowie von korrupten Politikern, die keinerlei Bestrebung haben, etwas zu verbessern. Dabei spart er nicht mit Seitenhieben auf konkrete Personen der costa-ricanischen Geschichte: So heißt der Präsident, der sich mehr für die Konzerne, die ungeachtet der Umweltbedingungen eine neue Mülldeponie errichten wollen als für die Menschen interessiert, Caldagueres – ein Name, der nicht zufällig an die Präsidentenfamilien Calderón und Figueres erinnert. Daran, Müll zu vermeiden, denkt kaum jemand. Denn wo dieser landet, bekommt außer den Taucher*innen kaum jemand mit.

Única blickt aufs Meer ist weniger ein literarischer Text – stilistisch ragt er nicht heraus – aber doch eine kluge Analyse sozialer Realität und scharfer Kommentar eines Autors, der das neoliberale System seines Landes unter die Lupe nimmt; eine Situation, die sich problemlos von Costa Rica auf die anderer armen und von der Klimakrise sowie Massenkonsum betroffenen Menschen in vielen Regionen der Welt übertragen lässt.

HOFFNUNG IN EINER HOFFNUNGSLOSEN WELT

Contreras Castro nimmt uns mit in eine Geschichte, in welcher sich die Grenzen zwischen der harschen sozialen Realität eines Bordells und dem scheinbar Unvorstellbaren ständig verschieben und sogar ganz zu verschwinden scheinen. In bildreicher Sprache hat Contreras eine Erzählung geschaffen, in der die Figuren des Romans versuchen, sich der Gewalt, der Ohnmacht und schlussendlich auch der Absurdität des Alltags mit bedingungsloser Liebe, mit Zusammenhalt und Akzeptanz entgegenzustellen.

Wir lernen Consuelo kennen, die seit dem Arbeitsunfalls ihres Mannes als Köchin in dem Bordell lebt und arbeitet und als gute Seele das Haus zusammenhält.

Ihr Bruder Jerónimo, ein wohl verrückter Ex-Mönch, befindet sich auf ständigen ziellosen Streifzügen durch die Stadt und nimmt die Welt auf seine ganz eigene Weise war. Er erklärt sich die Welt anhand eines Wissens, welches aus Büchern des 16. Jahrhunderts stammt, was ihn jedoch nicht davon abhält seine bisweilen kruden Anschauungen in der Realität bestätigt zu finden.

Im Mittelpunkt des Buches steht aber das Leben des kleinen Polyphem. Als Sohn eines von zu Hause verstoßenen Mädchens wird er in dem Bordell in San José geboren. Er wäre wohl ein ganz normales Kind, – wäre da nicht das große, tiefschwarze und leuchtende Auge auf seiner Stirn.

Während sich alle vor dem kleinen Monster fürchten, nimmt sich Jerónimo ihm liebevoll an, um ihm später all das, sprichwörtlich Ungeheuerliche, beizubringen, was er über das Leben weiß.

Behütet und vor den Augen Fremder versteckt, wächst der kleine Polyphem im Hof des alten Hauses auf – bis ihn eines Tages die Neugierde packt. Das Auge unter einer großen Mütze versteckt, begleitet er Jerónimo auf einen seiner Streifzügen durch die Stadt, um die Welt mit seinem eigenen Auge zu sehen. Schnell schließen die beiden Freundschaften und so nehmen uns der Mönch und das Kind, in den vielen darauf folgenden Anekdoten mit – in ihre Stadt.

Contreras überzeugt durch großes Wissen, eine noch größere Phantasie und erzählerisches Talent.

Besonders in den genialen, wie naiven, aber immer bizarren und skurrilen Anschauungen Jerónimos, spielt Contreras geschickt mit dem Spannungsverhältnis von Glauben und Wissen, welches unsere Perspektiven und somit unsere Wahrnehmung der Welt mitbestimmt. Jerónimos Zugang zur Welt erweitert die harsche Realität des Alltags um magische Elemente– und lässt die Lesenden nicht selten schmunzelnd, lachend, andere Male ungläubig und traurig zurück.

Mit einem kritischen Blick stellt Contreras in diesem teils komödienhaften, teils bedrückenden Buch Fragen von großer gesellschaftlicher Relevanz und schafft eine Geschichte der Hoffnung in einer hoffnungslosen Welt. Auf Deutsch zuerst erschienen 2002 im Maro Verlag. Seit 2011 erscheint es im Unionsverlag.

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