FAST ALLE BIS AUF HITLER

Die Aussage ist ein Fakt: „Am 8. Februar 1949 sagte Peter Baumgart, ehemaliger Flugkapitän der Deutschen Luftwaffe, vor einem polnischen Gericht aus, er habe Hitler und seine frisch angetraute Ehefrau Eva Braun kurz vor dem Ende des Dritten Reiches nach Dänemark ausgeflogen. Er nehme an, dass beide dort ein U-Boot bestiegen hätten.“ Fakt ist auch, dass Baumgart in einer polnischen psychiatrischen Anstalt landete. Beide Begebenheiten finden sich in dem ungemein detailreichen Buch Rattennest – Argentinien und die Nazis von Hannes Bahrmann, der sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Thema Nazis in Lateinamerika beschäftigt. Das merkt man dem profunden Buch an, in dem die meisten Abbildungen aus dem Privatarchiv des Autors stammen, darunter Juan Domingo Péron als Kadett mit Pickelhaube oder ein Faksimile der Einwanderungs­papiere von Adolf Eichmann.

Das Buch zeichnet deutsch-argentinische Geschichte mit einem Schwerpunkt auf die Nazis und ihre Emigration nach. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der Zeit der ersten Ära von Juan Domingo Perón, die er als Vizepräsident 1943 begann, bis ihn 1955 als Präsident ein neuerlicher Militärputsch ins spanische Exil zwang – der dritte seit der Unabhängigkeit 1810

Argentinien zielte seit Beginn der Republik auf eine „weiße Gesellschaft“ ab. Das legte schon die Verfassung von 1853 fest, in der Artikel 25 besagte: „Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu fördern.“

Präsident Domingo Faustino Sarmiento brachte das im 19. Jahrhundert auf die Formel „ni gauchos, ni negros, ni pobres“ (Weder Gauchos, noch Schwarze, noch Arme). Auf diesen Grundsätzen beruhte die argentinische Einwanderungspolitik, die bis in die 30er Jahren auch Jüdinnen und Juden offenstand. Erst nach dem Putsch 1930 von „germanophilen“ Militärs wurde es ihnen Zug um Zug immer schwerer gemacht, noch in Argentinien Aufnahme zu finden.

Perón selbst ging undogmatisch vor, oder wie es der von Bahrmann zitierte Schriftsteller Ernesto Sabato auf den Punkt brachte: „Er hat Juden und Araber, Rabbiner und Antisemiten mit demselben Lächeln empfangen.“

Unter den Antisemiten fanden sich jede Menge Hochkaräter. Dem Prominentesten, Adolf Eichmann, dem Organisator der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, widmet Bahrmann ein eigenständiges Kapitel. Die illustre Liste des Schreckens ist lang, vom KZ-Arzt Josef Mengele, der zeitweise sogar unter Klarnamen in Argentinien lebte, über den Flugzeugkonstrukteur Professor Kurt Tank bis hin zum Massenmörder Erich Priebke, der erst 1995 nach Italien ausgeliefert wurde. Wie so viele kam Priebke über die sattsam bekannte „Rattenlinie“ mittels eines Reisepasses des Internationalen Roten Kreuzes via Italien nach Argentinien.

Das Buch von Bahrmann geht aber über sattsam Bekanntes weit hinaus und macht klar, worum es Perón bei seiner Politik der offenen Türen für Nazis vor allem ging: Er wollte mithilfe deutscher Wissenschaftler Argentinien neben der Sowjetunion und den USA zu einer dritten Weltmacht entwickeln. Hat nicht ganz geklappt. So wenig wie die Flucht von Hitler.


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GESCHEITERTE ANALYSE

 

In den vergangenen Jahren ist es auf dem Sachbuchmarkt ruhig geworden um Venezuela. Nun aber ist das laut Verlagsankündigung „erste deutschsprachige Buch“ erschienen, „das eine Bilanz der chaotischen Entwicklung der letzten Jahre zieht“. Wer es liest kann nur hoffen, dass andere Bücher folgen werden. Denn mit Venezuela. Die gescheiterte Revolution scheitert vor allem der Autor Hannes Bahrmann selbst. Nach ähnlichen Büchern über Kuba und Nicaragua schildert er in seinem jüngsten Werk Aufstieg und Regierungszeit von Hugo Chávez als die Geschichte eines Machtmenschen, der jegliche Entscheidung dem Ziel seines Machterhaltes unterordnet. Zwar ist vieles, was Bahrmann über Korruption, Misswirtschaft und Autoritarismus schreibt, im Kern richtig. Und die tragische Entwicklung des bolivarianischen Prozesses bietet in der Tat ausreichend Material, um ein Buch mit dem Untertitel „Die gescheiterte Revolution“ zu veröffentlichen. Doch dieses Scheitern ist bei Bahrmann bereits vor Beginn der Revolution unumkehrbar angelegt, Interesse an Grautönen hat der Autor nicht. Stattdessen unterschlägt oder missinterpretiert er viele Fakten so lange, bis sie in seine undifferenzierte Erzählung passen. So bedient er sich beispielsweise, ohne mit der Wimper zu zucken, Verschwörungstheorien oppositioneller Kreise, wonach seit 2004 angeblich alle Wahlen und Abstimmungen in Venezuela zugunsten der Regierungspartei manipuliert worden seien. Warum der Chavismus das Verfassungsreferendum 2007 oder die Parlamentswahlen 2015 verloren hat, vermag Bahrmann dementsprechend nicht zu erklären.

Die unbestreitbaren sozialen und politischen Errungenschaften aus Chávez’ Regierungszeit, die heute teilweise wieder verloren gegangen sind, oder die Bemühungen um eine lateinamerikanische Integration, sind ihm kaum eine Zeile wert. Und wenn doch, dann nur selektiv, um den Einfluss Kubas zu belegen – eines der wenigen Themen, das ihn wirklich zu interessieren scheint. Häufig unterlaufen Bahrmann kleinere Fehler, die auf unsaubere Recherche schließen lassen. Aber nicht nur das: Zentral ist eine Fehleinschätzung, die ernsthaft daran zweifeln lässt, ob sich der 1952 in Ost-Berlin geborene Autor überhaupt tiefer gehend mit seinem Sujet beschäftigt hat. So behauptet er, der sogenannte Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den Chávez seit 2005 propagierte, sei das Konzept des in Mexiko lehrenden, deutschen Soziologen Heinz Dieterich. Tatsächlich gilt dieser als Erfinder des Begriffes. Doch strebt Dieterich die Schaffung einer Äquivalenzökonomie an, in welcher der Marktwert durch den Wert der in einem Produkt enthaltenen Arbeitszeit ersetzt werden soll. Bahrmann hält dies jedoch nicht einmal für erwähnenswert und scheint nicht zu wissen, dass Dieterichs „Konzept“ auf die konkreten Debatten in Venezuela schlicht keinen Einfluss hatte.

„In unserer heutigen Zeit werden wir alle von Informationen förmlich überschüttet“, schreibt Bahrmann in einer persönlichen Nachbetrachtung. Im Gegensatz zur Macht von Bildern, die etwa dem heroischen Guerillero oder auch Chávez huldigen, hätten es „selbst griffige Formulierungen, sauber herausgearbeitete Argumentationen und eine präzise Sammlung der Fakten“ schwer. Dies allerdings liegt in diesem Fall wohl weniger an der Macht der Bilder, als an den unpräzisen Fakten selbst. Vom Ch.Links Verlag ist man eigentlich seriösere Bücher gewohnt.

Richtigstellung: Als Autor der Rezension, von der sich Herr Bahrmann „diffamiert“ fühlt, muss ich mich in einem Punkt entschuldigen: Tatsächlich erwähnt er zumindest in der Einleitung, dass Heinz Dieterich, der Erfinder des Begriffes „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, eine so genannte Äquivalenztheorie anstrebt. Nur wurde dieses „Konzept“ weder an der Basis noch innerhalb der Regierung Venezuelas jemals ernsthaft diskutiert, sondern schlicht der Begriff von ihm übernommen. Bezüglich des verlorenen Verfassungsreferendums und der Parlamentswahlen habe ich indes nicht behauptet, dass der Autor darüber nichts geschrieben habe. Doch kann er die Ergebnisse innerhalb seiner eigenen Logik, wonach die Wahlen seit 2004 ja angeblich manipuliert worden seien, eben nicht nachvollziehbar erklären. An der grundsätzlichen Kritik an dem Buch ändert sich dementsprechend nichts.

 


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