OPPOSITION IM ABSEITS

Dabei hatte die Amtszeit der Abgeordneten offiziell bereits Anfang 2021 geendet. Seitdem verlängerte das Parlament sein Bestehen eigenmächtig Jahr für Jahr und trifft sich weiterhin per Zoom. Tatsächlich wurde Ende 2020 eine neue Nationalversammlung gewählt, in der die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) eine klare Mehrheit hat. Die US-Regierung erklärte, das Parlament von 2015 unabhängig von Guaidós „Abwahl“ auch zukünftig als primäre Ansprechpartnerin und „letzte demokratische Institution“ in Venezuela anzusehen.

Guaidó zeigte sich nach seiner Abwahl kämpferisch: „Zählt auf mich. Wir werden als Demokraten weiterhin die Verfassung verteidigen. Heute sage ich euch, dass wir die Diktatur besiegen und uns immer auf der Straße wieder treffen werden.“ Doch diese Plattitüden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die rechte Opposition vor den Trümmern einer von Beginn an fehlgeleiteten Strategie steht, der ohne Unterstützung der US-Regierung von Beginn an jegliches politisches Fundament gefehlt hätte.

Im Januar 2019 ernannte sich der damals weitgehend unbekannte Abgeordnete Guaidó selbst zum Interimspräsidenten, nachdem die US-Regierung und die rechte Opposition die teilweise boykottierte Präsidentschaftswahl von Mai 2018 nicht anerkannt hatten. Guaidós gebetsmühlenartig wiederholter Slogan „Ende der Usurpation, Übergangsregierung und freie Wahlen“ hatte sich bereits nach wenigen Wochen erledigt. Selbst in der eigenwilligen Verfassungsinterpretation der Opposition, wonach Maduro aufgrund der umstrittenen Präsidentschaftswahl offiziell als „abwesend“ galt, hätte es nach 30 Tagen Neuwahlen geben müssen. Zwischenzeitlich wurde Guaidó von etwa 60 Staaten – darunter auch Deutschland – als Interimspräsident anerkannt. Zuletzt blieben fast nur noch die USA als verlässlicher Partner übrig.

Im Prinzip ist aber seit über drei Jahren klar, dass Guaidó innerhalb Venezuelas keine Macht ausübte und sein Einfluss in der Opposition immer weiter abnahm. Jenseits der internationalen Unterstützung sowie der Kontrolle über milliardenschwere Auslandsbesitztümer des venezolanischen Staates, konnte Guaidó keinerlei Erfolge verbuchen. Nach seiner Selbstproklamation im Januar 2019 waren mehrere dilettantische Umsturzversuche mit Unterstützung rangniedriger Militärs und Söldnern gescheitert.

Guaidó baute derweil eine absurde Parallelstruktur politischer Ämter auf, die für den kurzen Zeitraum erstaunlich viele Korruptionsaffären hervorbrachte. Dies ist vor allem deshalb beachtlich, weil sich die Opposition eigentlich als vermeintlich saubere Alternative zur Regierung präsentieren wollte. Der Umgang mit eingefrorenen Geldern und geraubten Unternehmen wie Monómeros, das in Kolumbien chemische Düngemittel herstellt oder dem Tankstellennetz Citgo in den USA, bestätigt die alte These, wonach die Opposition vor allem zurück an die Erdöltöpfe will. Das Ende der Interimspräsidentschaft schneidet Guaidó nicht zuletzt vom Zugriff auf Gelder ab. Die eingefrorenen venezolanischen Auslandsvermögen soll nun ein dreiköpfiges Gremium aus den Reihen des Parlamentes von 2015 verwalten.

Guaidós Hoffnung bestand stets darin, dass die US-Regierung das „Problem Maduro“ schon irgendwie lösen würde – militärisch, durch eine verdeckte Operation oder die Wirtschaftssanktionen. Diese verfolgten ursprünglich das Ziel, einen Aufstand der Bevölkerung und eine Militärrebellion anzuzetteln, um Maduro zu stürzen. Stattdessen brachten sie die venezolanische Regierung dazu, eine Wirtschaftspolitik umzusetzen, die sie früher vehement abgelehnt hatte und die auf intransparenten Privatisierungen, steuerfreien Importen und der Nutzung des US-Dollar als Zahlungsmittel basiert. Die Regierung erklärt dies als „taktischen Richtungswechsel“, der angesichts der Sanktionen notwendig sei. Diese wurden ab 2015 zunächst gegen Einzelpersonen verhängt und im Zuge einer „regime change-Politik“ unter US-Präsident Donald Trump ab 2017 schrittweise auf den Finanz- und Erdölsektor ausgeweitet.

Der neue wirtschaftliche Kurs führte im vergangenen Jahr vorübergehend zu einer leichten Erholung der Wirtschaft. Im Februar 2022 hatte das Land die mehrjährige Hyperinflation hinter sich gelassen. Doch im Jahresverlauf zog die Teuerungsrate wieder an und lag im Jahresdurchschnitt laut offiziellen Zahlen bei 234 Prozent. Nachdem die Regierung Ende September 2021 sechs Nullen der Landeswährung Bolívar gestrichen hatte, war es ihr gelungen, den Wechselkurs zwischen dem Bolívar und US-Dollar durch Interventionen am Devisenmarkt bis Mitte August 2022 stabil zu halten. Seitdem fiel er allerdings von gut sechs auf 22 Bolívar Ende Januar dieses Jahres. Der Mindestlohn liegt trotz enormer 1.700-prozentiger Erhöhung im März vergangenen Jahres bei nicht einmal zehn US-Dollar monatlich, wovon niemand leben kann. Öffentlich Angestellte wie Lehrer*innen und Universitätsmitarbeiterinnen, aber auch Stahlarbeiterinnen, gehen seit Anfang Januar verstärkt für höhere Löhne auf die Straße.

Die Opposition muss nun schnell klären, wie es weitergeht. Mittels Vorwahlen will sie eine gemeinsame Kandidatur für die Präsidentschaftswahl Ende 2024 festlegen, kann sich aber bisher nicht einmal auf das genaue Procedere einigen. Zahlreiche Politiker*innen erheben Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur, darunter auch Juan Guaidó selbst. Parallel zu den internen Aushandlungsprozessen strebt die entlang moderat-pragmatischer und radikaler Positionen gespaltene Opposition weiterhin an, durch Verhandlungen mit der Regierung möglichst transparente Bedingungen für die Präsidentschaftswahl zu erreichen. Im vergangenen November begann ein neuer Dialog in Mexiko. Anders als bei den letzten gescheiterten Versuchen haben die USA heute ein Interesse daran, dass konstruktive Ergebnisse erzielt werden, anstatt weiterhin auf einem unrealistischen Regierungswechsel zu pochen. Denn seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine würde die US-Regierung gerne wieder Öl aus Venezuela importieren. 2019 hatte sie dies im Zuge des Machtkampfes zwischen Maduro und Guaidó gestoppt. So waren seit März bereits zwei hochrangige US-Delegationen in Caracas zu Gast, mehrere in Venezuela inhaftierte US-Bürger*innen wurden anschließend freigelassen.

Die Zukunft des Dialogs mit den USA steht jedoch jetzt schon wieder auf der Kippe

Im November nun lockerte die US-Regierung im Zuge der Wiederaufnahme des Dialogs die Sanktionen im Erdölbereich leicht. Der Energiekonzern Chevron darf über seine vier Joint Ventures mit dem venezolanischen Staatsunternehmen PDVSA vorerst wieder venezolanisches Erdöl in die USA exportieren. Die Einnahmen werden allerdings mit bestehenden Schulden verrechnet. Eine weitere Einigung sieht vor, dass drei Milliarden US-Dollar aus eingefrorenen Geldern Venezuelas unter UN-Verwaltung für soziale Belange verwendet werden sollen.

Die Zukunft des Dialogs steht jedoch bereits wieder auf der Kippe. Wie der chavistische Verhandlungsführer Jorge Rodríguez erklärte, seien bei der Freigabe der drei Milliarden US-Dollar bisher keine Fortschritte erzielt worden. Eine Fortführung der Gespräche stellte er unter diesen Bedingungen offen in Frage. Weitere Probleme könnte eine aktuelle Gesetzesinitiative aus Caracas bereiten. Am 24. Januar verabschiedete das venezolanische Parlament in erster Lesung das „Gesetz über die Kontrolle, Regulierung, Tätigkeit und Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und verwandter Organisationen“. Hinter dem kryptischen Namen verbirgt sich das Vorhaben, die Arbeit von NGOs künftig schärfer zu regulieren. Kritiker*innen sehen darin einen Versuch, die kritische Zivilgesellschaft zu gängeln wie dies durch ein ähnliches Gesetz bereits in Nicaragua geschieht.

Der Abgeordnete Diosdado Cabello begründete den Vorstoß damit, dass zahlreiche NGOs mit der finanziellen Unterstützung fremder Regierungen, vor allem der USA, rein politische Ziele verfolgten. „Mir liegt eine Liste von 62 NGOs vor, die im Land zu politischen Zwecken tätig sind und von Einrichtungen anderer Länder finanziert werden. Das Ziel ist nicht humanitär oder sozial, sondern die Durchsetzung dessen, was sie als Demokratie verstehen.“

Laut dem offiziell nicht öffentlichen, aber bekannten Entwurf, müssen sich NGOs künftig beim Rechnungshof oder dem Außenministerium registrieren und ihre Finanzierung offenlegen. Sie dürfen demnach keinen „politischen Tätigkeiten nachgehen“ oder Handlungen fördern, die sich „gegen die nationale Stabilität und die Institutionen der Republik richten.“ Zudem soll ihnen untersagt werden, Gelder anzunehmen, die diesen Zwecken dienen. Bei Nichtbefolgung der neuen Regularien sind Geldstrafen von bis zu umgerechnet 12.000 US-Dollar möglich. Das Gesetz eröffnet aber auch die Möglichkeit, NGOs aufzulösen.

Tatsächlich ist es kein Geheimnis, dass in Venezuela einzelne NGOs als Deckmantel für Umsturzpläne oder Korruption benutzt werden, was allerdings ohnehin verboten ist. Das Gesetz würde jedoch viele NGOs treffen, die nicht auf Regierungslinie und auf internationale Gelder angewiesen sind. Klar definiert ist „politische Tätigkeit“ nicht, was der Regierung einen Spielraum gibt, der immer wieder neu interpretiert beziehungsweise erweitert werden kann, so wie dies mit anderen Normen auch nach politischem Kalkül geschieht. Bestimmte Themen, wie zum Beispiel Polizeigewalt in Armenvierteln, bearbeiten nur wenige Menschenrechts-NGOs. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorstellen, dass so etwas bald als „politische Tätigkeit“ gilt.

Das Hauptziel der venezolanischen Regierung ist die Aufhebung der US-Sanktionen

Das Gesetzesvorhaben könnte die in Mexiko begonnenen Gespräche zusätzlich torpedieren. Das Hauptziel der venezolanischen Regierung ist die Aufhebung der US-Sanktionen. Dies kann die rechte Opposition, die im Gegensatz zur US-Regierung mit am Tisch sitzt, allerdings nicht anbieten. Die USA pochen darauf, vor einer weiteren Lockerung der Sanktionen konkrete Ergebnisse im Sinn von Zugeständnissen für transparente Wahlen zu sehen. Doch die Regierung Maduro sitzt mittlerweile fest im Sattel und ist innerhalb Lateinamerikas schon lange nicht mehr isoliert. Sie kalkuliert offensichtlich, dass sich die Opposition weiter selbst zerlegt und sieht sich gegenüber den USA, die auf das venezolanische Erdöl schielen, in einer deutlich stärkeren Position als noch vor einem Jahr. Ein politischer Durchbruch ist also auch im jüngsten Dialogversuch bisher unwahrscheinlich.

JEDEN DIENSTAG EIN SHOWDOWN

Politische Schwergewichte Das Kräftemessen um den Parlamentsvorsitz hält weiter an (Foto: Olga Berrios, CC BY 2.0)

Er sucht die internationale Bühne. Am 23. Januar, genau ein Jahr nachdem er sich in Caracas selbst zum venezolanischen Interimspräsidenten ausgerufen hatte, hielt Juan Guaidó eine Rede auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Wenige Tage zuvor hatte er Venezuela trotz Ausreiseverbots verlassen. In Bogotá nahm er an einem regionalen Anti-Terrorismus-Gipfel teil, traf den kolumbianischen Präsidenten Iván Duque und US-Außenminister Mike Pompeo. Es folgte die Reise nach Europa mit den Stationen London, Brüssel und Davos, wo er mit mehreren Spitzenpolitiker*innen zusammentraf, darunter dem britischen Ministerpräsidenten Boris Johnson und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrel. Guaidós Botschaft war überall die gleiche: Die Opposition werde weiterkämpfen, bis sie die „Freiheit“ erlangt habe.

Interne Brüche in der Opposition

Mit seiner Reise will Guaidó den venezolanischen Machtkampf wieder ins Gespräch bringen und sich weitere internationale Unterstützung sichern. Die Anerkennung durch fast 60 Regierungen ist nach wie vor das größte Faustpfand des Oppositionsführers. Innerhalb Venezuelas erreichte er im vergangenen Jahr so gut wie nichts, zuletzt stand er auch intern stark in der Kritik. Ein Machtkampf um das venezolanische Parlament droht ihm nun auch noch sein einziges tatsächliches Amt zu kosten: Seit Anfang des Jahres erhebt neben Guaidó noch ein weiterer Politiker Anspruch auf den Parlamentsvorsitz. Da der Oppositionsführer sein angebliches Recht auf die Interimspräsidentschaft vom Parlamentsvorsitz ableitet, ist dieser Posten für ihn entscheidend. In einer chaotischen Sitzung am 5. Januar wählten die anwesenden Abgeordneten aber zunächst den abtrünnigen Oppositionellen Luis Parra an die Spitze der Legislative.

Politische Institutionen in doppelter Ausführung

Bis Dezember gehörte Parra der rechten Partei Primero Justicia an. Er gilt als eine der Schlüsselfiguren eines Korruptionsskandals, den die Rechercheplattform armando.info am 1. Dezember 2019 aufgedeckt hatte. Insgesamt neun oppositionelle Abgeordnete sollen regierungsnahen Geschäftsleuten dabei geholfen haben, für das Lebensmittelprogramm der Regierung US-Sanktionen zu umgehen. Drei der Beschuldigten gehörten bis zu ihrem Ausschluss der Partei Voluntad Popular von Juan Guaidó an. Seitdem kursierten Gerüchte, dass die Regierung Parlamentarier*innen besteche, um einen anderen Oppositionskandidaten an die Spitze des Parlaments zu wählen. Umgekehrt warfen einige der abtrünnigen Abgeordneten Guaidó vor, ihnen für ihre Stimme Geld angeboten zu haben. Parra betonte nach seiner Wahl, dass er weiterhin in Opposition zur Regierung stehe, kündigte aber ein Ende der Konfrontationspolitik an. Gleichzeitig warf er Guaidó vor, Venezuela in eine „Sackgasse“ geführt zu haben und versucht sich seither, als unabhängiger Oppositioneller jenseits von Guaidó und der Regierung Maduro zu inszenieren.

In der von Tumulten begleiteten Abstimmung am 5. Januar hatte Parra angeblich 81 Stimmen bekommen. Anwesend waren laut unterschiedlichen Quellen bis zu 150 Abgeordnete. Die venezolanische Nationalversammlung hat 167 Sitze, von denen mehrere aufgrund von Suspendierungen zurzeit nicht besetzt sind. Neben den 50 Abgeordneten der regierenden PSUV müssten demnach 31 Oppositionelle für Parra gestimmt haben. Doch daran gibt es Zweifel. Zwar gilt als erwiesen, dass das für die Eröffnung einer Parlamentssitzung nötige Quorum von 84 Abgeordneten erreicht wurde. Doch eine Namensliste der Abstimmung veröffentlichte das neu gewählte Präsidium nicht. Später behauptete Parra, die Liste sei gestohlen worden. Gar nicht im Saal war Guaidó selbst, der die Sitzung als amtierender Parlamentsvorsitzender normalerweise hätte eröffnen müssen. Die Regierung hatte das Parlamentsgebäude im Zentrum der Hauptstadt Caracas von Polizei und Nationalgarde absperren lassen und die Abgeordneten vor dem Betreten kontrolliert. Guaidó behauptete, dass er sowie weitere Oppositionelle nicht zum Parlamentsgebäude vorgelassen worden seien. Videoaufnahmen zeigen jedoch, dass er das Parlament sehr wohl hätte betreten dürfen. Doch bestand er gegenüber den dort postierten Nationalgardisten darauf, dass ihn mehrere suspendierte Abgeordnete begleiten. Anschließend versuchte er medienwirksam, über den Zaun zu klettern. Am späten Nachmittag ließ sich Guaidó in den Redaktionsräumen der oppositionellen Zeitung El Nacional dann mit angeblich 100 Stimmen selbst zum Parlamentsvorsitzenden wählen. Sofern beide Ergebnisse stimmen, müssten einige Abgeordnete an beiden Abstimmungen teilgenommen und auch für beide Kandidaten gestimmt haben. Glaubwürdig rekonstruieren ließen sich die Ereignisse bisher nicht.

Showdown der zwei Parlaments­präsidenten

Zwei Tage später hielt Parra zunächst erneut eine kurze Sitzung im Parlamentsgebäude ab, bis Guaidó und seine nach eigenen Angaben 100 Abgeordneten das Gebäude stürmten. Dort wählten sie Guaidó erneut zum Parlamentsvorsitzenden – diesmal am dafür vorgesehenen Ort, an dem sie die „Rückeroberung“ der Nationalversammlung feierten. Seitdem kommt es jeden Dienstag zum Showdown, an dem das Parlamentsgebäude jeweils zeitgleich von beiden Parlamentspräsidenten für ihre jeweilige Sitzung beansprucht wird. Die regierungsnahe Verfassunggebende Versammlung (ANC), die seit Mitte 2017 als eine Art Parallelparlament fungiert, will das Gebäude bis auf Weiteres für eigene Sitzungen nutzen, sofern nicht Parra eine Sitzung beantragt. Die Guaidó-Sektion muss seither auf andere Orte ausweichen – ob mit oder ohne die Anwesenheit des Oppositionsführers.

Tatsächlich ist der Konflikt noch nicht entschieden. Die Regierung Maduro erkannte die Wahl von Luis Parra als rechtmäßig an, auch wenn dieser nach jüngstem Stand keineswegs die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat. Das oberste Gericht forderte Parra dazu auf, die Teilnahme- und Abstimmungslisten der Sitzung einzureichen, während die US-Regierung Sanktionen gegen ihn sowie sechs weitere Abgeordnete und Regierungsfunktionäre verhängte, denen sie vorwirft, an Maduros „gescheitertem Versuch, die Kontrolle über die Nationalversammlung zu übernehmen“ teilgenommen zu haben.

Doch es geht im venezolanischen Konflikt schon lange nicht mehr um die korrekte Einhaltung von Formalitäten, sondern darum, wer in der Lage ist, seine Verfassungsinterpretation durchzusetzen. Durch die neue Runde im Machtkampf droht die Regierung Maduro weiter an internationaler Unterstützung zu verlieren. Selbst befreundete Regierungen wie die argentinische und mexikanische kritisierten die Militarisierung des Parlamentsgebäudes. Auf der Ebene der Großmächte unterstützen die USA weiterhin Guaidó, während die russische Regierung die Wahl Parras als „legitimen demokratischen Prozess“ lobte.

Aufhebung der US-Sanktionen in weiter Ferne

Die venezolanische Opposition wiederum könnte innerhalb des Landes nun ihre letzte institutionelle Bastion einbüßen und noch abhängiger von der US-Regierung werden. Wahrscheinlich ist, dass die regulär für Ende des Jahres vorgesehenen Parlamentswahl vorgezogen wird. Aufgrund der Spaltung der Opposition könnte die Regierung dann womöglich triumphieren.

Guaidó will den Konflikt um das Parlament dazu nutzen, seine verlorene Mobilisierungsfähigkeit wiederzuerlangen und den venezolanischen Machtkampf zurück auf die Straße zu bringen. Es ist voraussichtlich seine letzte Chance, sich als Oppositionsführer zu behaupten. Schon seit Längerem gab es Unzufriedenheit mit Guaidós Kurs. Denn weder gelang es ihm, das venezolanische Militär auf seine Seite zu ziehen, noch führten die US-Sanktionen zu einem institutionellen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Auf der Straße konnte er zuletzt kaum noch mobilisieren und zaghafte Verhandlungsversuche unter Vermittlung Norwegens versandeten.

Und es gibt bereits seit Mitte vergangenen Jahres Veruntreuungsvorwürfe gegen Guaidó: Ende November entließ er seinen „Botschafter“ in Kolumbien, den altgedienten Oppositionspolitiker Humberto Calderón Berti. Dieser bekräftigte anschließend, dass Guaidós Umfeld nach dem Versuch, im Februar von Kolumbien aus Hilfsgüter über die Grenze zu bringen, Gelder unterschlagen habe. Dabei soll es unter anderem um Mittel für desertierte Soldaten gehen, die stattdessen für Prostituierte sowie Alkohol ausgegeben worden seien.

Der aktuelle Konflikt ums Parlament offenbart interne Brüche in der Opposition, hat Guaidó aber teils nochmal taktischen Rückhalt verschafft. Die schweren wirtschaftlichen Probleme Venezuelas bleiben derweil ungelöst, während die politischen Gewalten weiteren Schaden nehmen.
Die meisten politischen Institutionen gibt es mittlerweile in doppelter Ausführung, wobei die Opposition die Ämter des Präsidenten, Parlamentspräsidenten, der Generalstaatsanwältin oder der Richter*innen des Obersten Gerichts nur scheinbar und teilweise außerhalb Venezuelas ausübt. Eine politische Lösung, die die Aufhebung der US-Sanktionen und die ausgehandelte Neuwahl aller politischer Gewalten beinhalten müsste, scheint in noch weitere Ferne gerückt zu sein.

Daran wird auch Guaidós Auslandsreise nichts ändern. Die Frage ist, ob er, wie als er im März vergangenen Jahres Lateinamerika bereiste, problemlos wieder einreisen kann.

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