Gelebte Erinnerung Angehörige zeigen Fotos der 2018 von Paramilitärs ermordeten jungen Menschen (Foto: Jorge Mejía Peralta via flickr.com CC BY 2.0)
Die Fotos, die an Fäden von der Decke hängen, schaukeln leicht im Wind wie die Blätter eines Baumes, die der Wind bewegt. Es sind Fotos mit einem Foto. Manchmal einzelne Mütter, eine Großmutter, ein Ehepaar, ein Paar mit Kindern, so halten sie behutsam, liebevoll das Foto ihres ermordeten Toten. Es sind Jugendliche und junge Leute, die seit jenem furchtbaren April 2018 im Gewehrfeuer umgekommen sind und deren Erinnerung dieses einzigartige Museum wachzuhalten versucht. Insgesamt 212 Opfer erbarmungsloser Repression, nur von April bis Juni, der Auflistung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten zufolge, eine Zahl, die nach Informationen der Nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte ANPDH bis Oktober bereits auf 514 angestiegen war.
Geteilter Schmerz
Und da ist die Messdienersoutane von Sandor Dolmus, der am 14. Juni in León ermordet wurde, kurz nachdem er 15 Jahre alt geworden war. Es ist dieselbe Soutane, die er auf dem goldgerahmten Foto trägt, das seine Mutter Ivania del Socorro Dolmus in Händen hält, nur dass er darauf über der scharlachroten Soutane noch das weiße Chorhemd und den vollständigen Ornat eines Messdieners der Kathedrale von León trägt. Und dieselbe auch, die er in seinem Sarg trägt, dessen Innendeckel mit fächerförmig gefalteter Seide bespannt ist und in dem er aussieht wie ein Kardinal, bis man näher kommt, wie es die Kamera tut und gewahr wird, dass da ein Kind an der Schwelle zur Jugend liegt. In den Händen hält er eine kleine religiöse Statue, von der man nur den unteren Teil sieht, auf seinem Bauch liegt ein Kruzifix. Über seiner rechten Schulter wird er von den blauweißen Falten der Fahne Nicaraguas eingerahmt und zu seinen Füßen breitet sich ein Strauß aus Lilien und weißen Rosen aus. Das braune Gesicht ein wenig zur linken Seite geneigt, die Lippen leicht geöffnet, so macht er mit seinem schwarzen Schopf den Eindruck, als schliefe er tief und fest, bis er bei Tagesanbruch am Hochaltar der Kathedrale dem Bischof bei der ersten Messe des Tages zur Hand gehen müsse. Doña Ivania, seine Mutter, sieht nicht älter aus als fünfunddreißig. Sie arbeitet als Hausangestellte. Mag sein, dass sie nicht älter war als zwanzig, als sie ihren Sohn zur Welt brachte, der Messdiener wurde und vielleicht Priester werden wollte. Ihren einzigen Sohn. Ihr rosafarbenes Kleid ist auf der Vorderseite leicht geblümt, um den Hals trägt sie eine Kette aus dunklen Steinen, an der so etwas wie ein Skapulier [Teil einer religiösen Ordenstracht, Anm. d. Red.] hängt. Ihr Blick, direkt auf die Kamera gerichtet, also auf uns, ist ruhig und fest: „Als sie ihn erschossen, war er mit meinem Neffen hinter einer Barrikade, ungefähr drei Blocks von hier. Jedes Mal, wenn er loszog, sagte er mir sehr ernst: Wenn ich nicht zurückkomme, dann bin ich mit dem Vaterland gegangen … Da sahen sie, wie die Paramilitärs kamen. ‚Lass uns abhauen, Sandor!‘ rief mein Neffe. Aber da hatten sie ihn schon getroffen. Man hat ihn ins Hospital gebracht … und nach ungefähr einer halben Stunde kam der Arzt heraus und sagte mir, er sei gestorben, die Kugel habe seine Lunge durchschlagen und sein Herz getroffen .
„Eine Mutter kann sich heiser schreien, wenn sie nach Gerechtigkeit schreit, auch wenn ich weiß, dass ich ihn damit nicht wieder lebendig machen kann.“ Diese Frau, heiser von so viel Schreien, sie liebt und sie vergisst nicht, genau wie die anderen auch.