Die beiden Argentinierinnen Dolores Aguirre und Julia Ortiz von der Band Perotá Chingó haben mal wieder geschafft, wovon jede*r Musiker*in träumt: Mit ihrem neuen Album Muta (2019) haben Perotá Chingó nach Aguas (2017, siehe Interview LN 533) zum zweiten Mal das Kunststück vollbracht, sich neu zu erfinden, ohne ihre Essenz zu verlieren. Gewohntes trifft auf Veränderungen: Folk-Rhythmen auf elektronische Pads, Naturgeräusche auf Synthesizer-Melodien, simple Arrangements auf ausgefeilten Studio-Sound. Und doch scheinen die Songs unverwechselbar. Es ist der ikonische Perotá Chingó-Klang, der von Harmonie, Naturverbundenheit, Reisen und Spiritualität erzählt, von Liebe und Selbstbestimmtheit. „Ser / Elegir / Encarnar quienes queremos ser“ („Sein / Entscheiden / Verkörpern, wer wir sein wollen“), beschreibt das der Eröffnungstitel „Toca“.
Neben der traditionellen Folklore finden sich diesmal zwei neue Genres auf dem Album: Mit „Aurora“ veröffentlichen Perotá Chingó ihren ersten Tango; „China“ ist die erste Cumbia der Band. Auf ihrem Konzert im Berliner Funkhaus am 8. November 2019 betonten die Musikerinnen augenzwinkernd, dass der Cumbia-Rhythmus besonders die (zahlreich vertretenen) Lateinamerikaner*innen zum Tanzen bringe – und ließen direkt die Probe aufs Exempel folgen. „China“ steht sinnbildlich für ein allgemein sehr tanzbares Album, was auch an den elektronischen Einflüssen der neuen Songs liegt. In „Barro“ beweisen groovige, schwere Synthesizer-Pads, dass das kein Widerspruch zu den Folk-Elementen der Band sein muss.
Mit „Toca“ und „Aurora“ besitzen zwei der vier Single-Auskopplungen erstmalig ein Musikvideo, das so gar nichts zu tun hat mit der Akustikaufnahme von „Ríe Chinito“ im uruguayischen Strandort Cabo Polonio, mit der Perotá Chingó 2011 auf einen Schlag über Youtube bekannt geworden sind. Die Tanz-Performance in „Toca“ unterstreicht den künstlerischen Anspruch, den die Sängerinnen zuletzt in ihrer Bildsprache entwickelt haben. Die Videos, die die Band auch als Visuals auf der aktuellen Europa-Tour einsetzt, verdeutlichen, dass ihre Weiterentwicklung nicht nur musikalisch, sondern auch visuell stattgefunden hat.
Dennoch bleiben die markanten Stimmen von Dolores und Julia das prägende Element, die Polyphonie ihr Erkennungsmerkmal. Ihre Vertrautheit und die Poesie der Songtexte verleihen ihrem Gesang die unwiderstehliche Kraft, die nicht nur spanischsprachige Hörer*innen fasziniert.
Das Album endet mit dem A-capella-Statement „Coral“, das die musikalische Reise zu den Anfängen von Perotá Chingó zurückführt. Reisen, seit Beginn das Leitmotiv in der Musik der Argentinierinnen, bedeuten Veränderung – und der stellen sich die beiden Musikerinnen mit Muta auf neue, aber natürliche Weise. In diesem Sinne könnte der Albumtitel (abgeleitet von mutar, „mutieren“) auch als eine Memo an sie selbst verstanden werden.