Musik | Nummer 533 - November 2018

“EINE ANDERE ENGERGUE KREIEREN”

Interview mit Dolores Aguírre und Julia Ortiz von Perotá Chingó

Die argentinischen Musikerinnen Dolores Aguirre und Julia Ortiz wurden durch ein Video auf Youtube weltweit als Perotá Chingó bekannt, im letzten Jahr erschien ihr zweites Album Aguas. Während der aktuellen Europatour spielten sie Anfang September mit ihrer Band im Berliner Funkhaus. Die LN haben sie nach dem Konzert getroffen und mit ihnen über die lateinamerikanische Folklore, das Element Wasser und ihre musikalische Entwicklung gesprochen.

Interview und Übersetzung: Ina Friebe & Susanne Brust

Ihr kommt in diesem Jahr zum dritten Mal nach Berlin. Wie waren eure bisherigen Erlebnisse mit der Stadt und den Menschen?

Dolores: Auf jeden Fall haben wir hier bisher immer positive Erfahrungen gemacht.
Julia: Ja, unsere Erlebnisse in Berlin waren schon immer sehr prägend und vor allem sehr inspirierend. Wenn wir durch die Straßen laufen und die verschiedenen Leute beobachten, wie sie sich kleiden und bewegen, dann hat das etwas Anarchistisches. Und das unterscheidet sich sehr von Buenos Aires, wo wir herkommen. Als Band sind wir früher viel durch die Natur gereist oder an Orte, die eng mit ihr verbunden sind. Als wir dann nach Berlin kamen, haben wir eine urbane Seite unserer Band kennengelernt, die wir vorher nie so gesehen hatten. Auf einmal dachten wir: „Wir sind nicht nur Land, wir sind auch Stadt!“. Und die Stadt ist gut und voller Inspirationen.

 

Buenos Aires ist riesig, trotzdem reflektiert sich diese Urbanität, aus der ihr stammt, nie in eurer Musik. Wie kommt das?

Julia: Eigentlich kommen wir ja aus den Vororten von Buenos Aires.
Dolores: Aber ich weiß, was ihr meint. Wir kommen zwar aus dem städtischen Raum und sind irgendwie urbane Menschen, aber wir hatten schon immer eine starke Neigung zum Ländlichen. Wenn wir Urlaub machen, dann fahren wir nicht in die Stadt. Der Rhythmus dort zieht uns nicht so an wie jener der Natur. Trotzdem sind wir natürlich von der Stadt beeinflusst, schließlich sind wir dort aufgewachsen. Wir mögen die Reize und die Inspirationen, die das städtische Leben uns bietet und können viel vom kulturellen Angebot lernen. Dauerhaft so leben wollen wir aber nicht.

 

Macht es denn einen Unterschied, wo ihr spielt? Was verändert sich beispielsweise, wenn ihr in einer europäischen Stadt spielt statt in einer lateinamerikanischen?

Dolores: Heute beim Konzert habe ich gesehen, dass der Großteil des Publikums aus Lateinamerika kam oder einen starken Bezug dazu hatte. Das hat man sofort gespürt. Ich denke, unsere Konzerte sind für die Leute auch eine Art der Verbindung dorthin.
Julia: Genau. Es gibt sehr vieles hier, das lateinamerikanisch ist. Das ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Heute haben mich die vielen europäischen Gesichter überrascht, denn vor ein paar Tagen standen wir in Amsterdam vor einem fast ausschließlich lateinamerikanischen Publikum. Heute habe ich zum Beispiel mehr Leute gesehen, die die Texte nicht konnten, die aber trotzdem eine starke Verbindung zu unserer Musik gezeigt haben. Genau das mag ich sehr: Auch für Leute zu spielen, die mich gar nicht verstehen. Besonders eindrücklich war das in Schweden. In Malmö waren fast nur Schweden bei unserem Konzert. Sie standen viel weiter weg von der Bühne und nur die wenigsten sprachen wahrscheinlich Spanisch. Trotzdem habe ich in ihren Gesichtern gesehen, dass sie etwas Grundlegendes an unserer Musik verstehen. Etwas, das über Sprache und Text hinausgeht. Das ist die Sprache der Musik, die Grenzen überschreiten kann.

 

Meint ihr, dass ihr auch ein Stückchen lateinamerikanischer Spiritualität hierherbringt?

Julia: Ich denke schon. Vor allem die Verbundenheit zur Erde und Natur und ihre Wertschätzung: Pachamama. Ich würde sagen, das haben wir im Blut. Das ist keine direkte Nachricht, die wir überbringen wollen, sondern etwas, das einfach da ist. Hier spüren wir das weniger.

 

In eurer Musik gibt es viele Elemente der lateinamerikanischen Folklore. Wie ist es dann, hier für Menschen zu spielen, die gar nicht mit so etwas aufgewachsen sind? Oft denken wir, dass es hier kaum noch Folklore gibt…

Dolores: Ich finde, es ist genau andersherum. Es gibt Orte, wo die Folklore herkommt, aber das heißt nicht, dass man sie an anderen Orten nicht spielen kann oder dass es sie dort nicht gibt. Du kannst zum Beispiel einen Samba spielen, ohne in Brasilien zu sein.

 

Eignet man sich damit nicht ein Stück weit die Tradition der Folklore an?

Dolores: Vielleicht. Aber letztendlich zählt nicht wirklich, ob beispielsweise ein Rhythmus aus der Folklore ist oder nicht, weil wir ohnehin damit arbeiten und ihn verändern. Wir sind keine echten folkloristas, wir brechen auch selbst oft mit der Folklore. Wir bedienen uns bei verschiedensten Musiktraditionen aus der ganzen Welt. Von der Folklore sagt man, sie sei etwas sehr Natürliches: Ein Kind wird geboren, es wächst mit einem Rhythmus auf, sieht sein Leben lang einen Tanz und wenn es groß ist, beginnt es selbst auf natürliche Weise, diesen Rhythmus zu spielen. Unsere Verwendung folkloristischer Elemente ist vielleicht nicht so natürlich, sondern eher spielerisch eingesetzt und bewusster auf den speziellen Rhythmus bedacht.

 

In den letzten Jahren hat Perotá Chingó als Band eine große Veränderung durchgemacht. Ihr spielt nicht mehr in Wohnzimmern, sondern in Konzerträumen. Eure Musik wird nicht mehr nur auf der Straße gefilmt, sondern im Studio aufgenommen. Habt ihr selbst Veränderungen in eurer Art und Weise, Musik zu machen, bemerkt?

Julia: Ja. Wir machen jetzt schon sieben Jahre zusammen Musik. So ein Projekt wächst und verändert sich und will sich weiterentwickeln. Wir sind aus einfacher root music entstanden: Lola und ich, die Gitarre und unsere Stimmen. Das hat sich zu etwas Professionellerem und Größerem entwickelt. Im neuen Album Aguas hört man mehr musikalische Anpassungen, mehr Stimmen und kleine elektronische Elemente. Also ja, es gibt einen Wandel in unserer Musik und der ist wichtig und gewollt. Weil wir immer weitermachen wollen.

 

Ihr seid als Duo unabhängiger Musikerinnen bekannt geworden und es gibt viele Frauen, die sich für eure Musik begeistern. Seht ihr euch als Feministinnen?

Dolores: Ich weiß nicht, ob wir uns unbedingt einen Namen geben oder eine bestimmte Flagge zeigen müssen. Wir sind Frauen, wir respektieren uns und wir lieben, was wir tun. Uns gefällt es, eine Inspiration für andere Frauen und Menschen zu sein, damit sie sich trauen, sie selbst zu sein und daraus Kraft zu schöpfen.
Julia: Wir sind Teil einer Generation, die viele Dinge aus einer femininen Perspektive verändert. Dem kann man sich nicht verweigern. Wir mögen es nicht, dass uns ein feministisches Label aufgedrückt wird, denn das beinhaltet auch viele Dinge, mit denen wir nicht unbedingt einverstanden sind. Aber es stimmt, dass wir Teil einer globalen Bewegung sind, allein dadurch, dass wir Frauen sind. Auf unseren Konzerten wird mir oft klar, dass wir der sichtbare Teil dieser Bewegung sind, die überall stattfindet, aber nicht immer sichtbar wird. Wir geben ihr ein Gesicht.

 

Das Element Wasser war eure Inspirationsquelle für euer neues Album Aguas. Heutzutage ist der freie Zugang zum Trinkwasser in vielen Regionen Lateinamerikas gefährdet. Wie nehmt ihr diesen Konflikt wahr?

Julia: Im Album geht es mehr um das Wasser als Element, aus dem wir alle geschaffen sind. Die verschiedenen Formen des Wassers symbolisieren die verschiedenen Emotionen, die wir als Menschen durchmachen. Wir nehmen das nicht so wortwörtlich, da wir nicht so sehr in ökologische Konflikte verwickelt sind. In unserem Album geht es mehr darum, sich wieder mit dem Wasser als Element zu verbinden, mit dem Fluss des Lebens, den sich verändernden Emotionen.

 

Es ist also nicht politisch? Pure Emotionen?

Dolores: Genau. In Argentinien und in Lateinamerika im Allgemeinen gibt es zurzeit so viele Krisensituationen, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll… Es passieren tausend Dinge.
Julia: Wir versuchen, mit unserer Musik eine andere Energie zu kreieren und eine Botschaft zu übermitteln, die den Menschen hilft, ihre eigene Kraft zu finden und damit ihre Realität zu verändern, anstatt die Politiker um Erlaubnis zu fragen. Es geht um Empowerment: „Los, wir alle schaffen das!“. Natürlich wissen wir, dass diese Veränderung nicht von einem Tag auf den anderen stattfinden wird. Anstatt uns mit einer Flagge zu identifizieren, liegt unsere politische Haltung eher darin, die Kraft in uns selbst zu suchen und andere zu inspirieren, das auch zu tun.
Dolores: Dafür ist es notwendig, dass wir uns zusammentun, um Dinge zu verändern. Das generiert eine große Kraft, wie beim Feminismus zum Beispiel.

 

Das Internet war für euch von Anfang an ein wichtiges Medium. Das Video zu Rie Chinito hat inzwischen über 18 Millionen Klicks auf Youtube. Welche Möglichkeiten seht ihr für Musiker*innen im Internet und den sozialen Netzwerken?

Dolores: Wäre das Internet nicht, wären wir nie bekannt geworden. Das ist durch genau dieses Youtube-Video im Jahr 2011 passiert. Das Internet bietet uns eine Möglichkeit der Unabhängigkeit und der Freiheit, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die unsere Musik mögen. Dafür brauchen wir keine dritte Instanz. Wir haben so viele Möglichkeiten und immer erreichen wir mehr Menschen.

 

Bis hierhin nach Europa.

Julia: Ja, genau! Und wir freunden uns auch immer mehr damit an. Am Anfang war es eher eine lästige Pflicht für uns, ständig überall präsent zu sein. Aber es ist, wie es ist. Wir sind alle durch das Internet verbunden und ein Teil davon. Das Internet ist ein Medium und es ist uns selbst überlassen, wie wir es nutzen. Mittlerweile gefällt es uns, wie wir damit arbeiten können.
Dolores: Wir lernen auch stetig dazu, schließlich verändert sich alles so schnell. Als Menschen, die das Internet aufkommen gesehen haben, fühlt sich für uns alles immer noch so neu an und verändert sich ständig. Wohin das noch geht, weiß keiner.

 

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Julia: Wir machen gerade eine ziemlich starke Veränderung durch, einen Prozess der Beobachtung: Welche neuen Dinge fallen uns ein? Was möchten wir umsetzen? Wo wollen wir mit unserer Musik hin? Auch wenn wir das nicht genau wissen, wollen wir doch weiter versuchen, zu uns selbst zu finden und zu dem, was wir mit unserer Musik vermitteln möchten. Wir haben die Chingoneta (Name des Tour-Vans der Band, Anm. d. Red.) verkauft, die aus Europa und die aus Argentinien, es gab zwei. Unser Team ist größer geworden. Jetzt reisen wir mit Soundtechnikern, einer Lichttechnikerin, dazu kommt bald ein Coach, jemand, der uns in unserem kreativen Prozess begleitet. Wie eine Familie in einem Van zu reisen, ist eine romantische Idee. Das ist super, aber es ist für uns ein vergangener Lebensabschnitt. Jetzt fängt für uns eine neue Zeit an.

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