Nummer 468 - Juni 2013 | Venezuela

Albtraum auf der Insel Guasina

Abdruck eines Textes aus der Chronik Guía oficial del estado Delta Amacuro von Ingolf Bruckner und Rebeca Gómez

Bis in die 1950er-Jahre gab es in den Tiefen des Orinoko-Deltas ein Gefangenenlager, dessen Existenz heute teils vergessen, teils verleugnet, teils dem Reich der Mythen zugeschrieben wird.
Eine Suche nach Spuren der Wahrheit.

Ingolf Bruckner

Stets tauchen sie auf, wenn man sie am wenigsten erwartet: containerbeladene Ozeanriesen, unheimlich, unverwundbar, scheinbar außerhalb des Zyklus von Geburt und Tod und umso bizarrer, als sie zwischen archaischen Dschungelwänden, die doch ihrerseits Geburt und Tod geradezu versinnbildlichen, dahinstampfen – gleichsam, könnte man meinen, transportiert aus einer Parallelwelt – und mit unendlich teilnahmsloser Macht Bugwellen erzeugen, welche manch Einbaum, der nicht schnell genug auszuweichen vermochte, dem Kentern nahe bringt, hier: im Orinoko-Delta, auf dem Río Grande, dem Hauptstrom und Schifffahrtskanal dieses aquatischen Labyrinths.
Am Südufer des Río Grande sitzt auf hoher Böschung das kreolische Dorf El Cerro de Sacupana. Es hat das Aussehen einer kleinen Stadt – mit Schule, Krankenstation und einem Antennenmast, der den Flussfahrern als Landmarke dient. Obwohl der Ort über keinerlei Straßenverbindung nach außen geschweige denn Automobile verfügt, existieren in seinem Zentrum doch breite, betonierte Straßen, gesäumt von Häusern aus Lehm, Stein oder Betonziegeln, die hinter hohen Doppeltüren und im Wind klappernden Wellblechdächern Patios, Obstgärten oder Hühnerställe verbergen.
Héctor Kasneido, evangelisch und seit vielen Jahren zuständig für die Elektrizität von Sacupana, entspannt im Schatten knorriger Bäume, um die Mittagsglut abzuwarten. Er trägt ein weißes Hemd mit Spuren harter Arbeit: Motoröl, Staub, Schweiß. Hinter ihm steht die exquisite Dorfkirche mit schlankem Turm, geweiht der Jungfrau vom Tal des Heiligen Geistes (Virgen del Valle), für die jährlich Ende August eine Fiesta gehalten wird. Direkt vor Héctor, in der Mitte der unkrautüberwucherten Plaza Los Mártires, befindet sich eine verwitterte, beinahe gespenstische Statue: Ein sterbender Mann, den Kopf im Schoß einer knienden Frau, welche gesprengte Ketten emporhält. Blätterschatten und Sonnenlicht wabern und wirbeln Muster auf die bronzenen Körper der beiden, dass es scheint, als atmeten sie. „Die Frau“, so Héctor, „trägt einen Folterhelm. Elektrizität fließt um ihren Kopf und quält sie mit Stromschlägen.“ Seine tiefliegenden Augen sind traurig, wie verglühte Kohlen, aber kleine Funken Energie und Wut stieben aus ihnen: „Diese Statue symbolisiert Diktatur. Die Menschen dürfen nie vergessen, was geschah!“
Héctor wurde 1952 am Caño Araguaito geboren. Seine Mutter war Kreolin, sein Vater stammte aus Margarita. „Margariteños kamen früher oft ins Delta um Mais zu kaufen. Viele fanden das Leben einfacher als daheim, legten Pflanzungen an, gingen wieder, kamen zurück und entschieden sich irgendwann zu bleiben und sich entlang der caños – der Wasserarme des Deltas – anzusiedeln und nicht auf ihre Heimatinsel zurückzukehren. So auch mein Vater.“ 1975 zog Héctor nach Sacupana und lebt seitdem hier.
„Sacupana ist wohl ein Wort aus der Sprache der Warao, der Ureinwohner des Orinoko-Deltas. Aber niemand im Dorf weiß, was der Name bedeutet. Es heißt, oben auf der Böschung hätten Kapuziner 1790 eine Mission gebaut, bald aber verlassen. Fakt ist, dass Sacupana bis ins 20. Jahrhundert fast unbewohnt blieb. Dann tauchte ein Pflanzer namens Tolcuatro auf, der hier siedelte. Wir betrachten ihn als Gründervater. Manche sagen, er sei 1910 gekommen, andere 1930. Von Anfang an wurde die Entwicklung unseres Ortes stark beeinflusst von dem, was draußen, im Strom, und direkt gegenüber, auf der großen, sumpfigen Flussinsel, vor sich ging, die wir Guasina nennen. Zuerst gab es da ein französisches Unternehmen, welches Äxte, Macheten und Haken herstellte – aus Eisen, gefördert flussabwärts, in den Imataca-Minen. Kaum fünfzehn Kilometer südlich erhebt sich der Rücken der Eisenberge und verläuft von Piacoa bis Manoa. Wenig ist da erforscht – bis heute. Noch in der Regierungszeit des Juan Vicente Gómez machte das französische Unternehmen zu, und man richtete auf Guasina ein Gefängnis ein. Die erste Ladung Sträflinge kam auf einem schwimmenden Haus. Man warf sie aufs Ufer und befahl ihnen sich ihre Zellen selbst zu bauen. Sie rodeten – stets bewacht: von dreihundert Soldaten! – den Dschungel und legten, um nicht zu verhungern, Pflanzungen an. In den 1940ern deportierte der Staat hauptsächlich Menschen ohne Papiere, darunter illegale Ausländer, außerdem Obdachlose, Vagabunden, Diebe, Mörder. Manchmal kamen sie rüber ins Dorf, zum Arbeiten. Alle trugen Ketten. Die alten Leute, die die große Flut von 1943 erlebten, erinnern sich, wie Guasina absoff, und wie sämtliche Gefangene nach Sacupana gebracht wurden und drei Tage ohne Essen ausharrten. Sie blieben dann mehrere Monate: Baracken wurden errichtet, deren Stützpfeiler bis heute sichtbar sind. Nach der Flut waren manche Frauen schwanger mit Kindern der Sträflinge…“
Der grauhaarige Teolardo Ortiz trifft ein, auf dem nackten Rücken einen Sack mit Orangen aus seiner Obstpflanzung, in der Hand ein Erntemesser. Er weiß von den „dunklen Seiten“ Guasinas, setzt sich, beginnt: „1951 – Rafael Escobar Lara herrschte gerade als Gouverneur des Delta-Territoriums – war es für die Kinder von Sacupana normal in den Busch zu rennen und sich zu verstecken, wann immer sie das gefürchtete Boot der Sicherheitskräfte erspähten, welches immer neue Sträflinge brachte. In jenen Jahren pflanzte der Staat Furcht in jedes Herz, besonders in die Herzen von uns Kindern, denn die Diktatur des Generals Marcos Pérez Jiménez gab ihren Vollstreckern freie Hand zu tun, wie ihnen beliebte. Seine Schergen quälten harmlose Dörfler. Unsere Fischer durften jeweils fünf Haken besitzen: Wurden sie auf dem Fluss mit mehr erwischt, hagelte es Schläge. Die Militärs töteten mehrere Fischer – wegen Nichtigkeiten!“
„Doch die, welche am meisten litten, waren die Gefangenen“, ergänzt Héctor. „Unter Pérez Jiménez waren auf Guasina ausschließlich politische Häftlinge interniert: Doktoren, Anwälte, Ingenieure und überhaupt alle, die es gewagt hatten, ihre Stimme gegen die Tyrannei zu erheben und derer die Handlanger der Dikatatur habhaft werden konnten. Die zwei größten Volksbewegungen im Delta der 1950-er Jahre – AD (sozialdemokratisch) und COPEI (christdemokratisch) – traten für Demokratie ein und konnten nur im Untergrund arbeiten. Etliche ihrer Sympathisanten wurden in Gefangenenlager gesteckt. Einige befanden sich im letzten Gefangenentransport, der Guasina anlief. Damit war das Schicksal der meisten besiegelt.“
Tatsächlich, Cruz José Marín Rodríguez, 1924 auf Margarita geborener Stadtchronist von Tucupita, dem Delta-Hauptort, nennt in seiner 1981 publizierten Historia achtundzwanzig Namen von Personen, die, der Verschwörung gegen Pérez Jiménez verdächtig, am 27. November 1951 verhaftet und auf die Isla Guasina deportiert wurden (darunter auch Pablo Ramón Gutíerrez – siehe unten).
Teolardo gibt Héctor eine seiner Orangen. „Viele Gefangene starben an Unterernährung, Krankheiten, doch etliche wurden ermordet, meist, indem man ihnen die Gurgel durchschnitt. Misshandlungen waren tägliche Routine. Eine beliebte Folter war das Ausreißen von Fingernägeln. Auch gab es kleine, jeweils für zwei Gefangene ausgelegte Folterzellen aus Betonziegeln, Los Tigritos genannt. Die Häftlinge wurden gefesselt und dort eingeschlossen – tagelang. Wassertropfen fielen von oben auf die Gefolterten – einer pro Sekunde, pitsch, pitsch, pitsch… Sehr schnell begannen die Unglücklichen Kälte zu spüren, Feuchtigkeit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit… Und oben, durch den Fensterschlitz, drangen Moskitos ein, Ameisen… Tote wurden zerstückelt in einen Tunnel geworfen, der zum Fluss führte – um Piranhas und Krokodile zu füttern und – natürlich – alle Spuren des Verbrechens auszulöschen. Dieser Tunnel sowie ein Tigrito sind jedoch bis heute zu finden, ebenso wie ein Wasserturm aus Beton sowie ein Stück Straße. Etliche Stützsegmente von Baracken sind ebenfalls noch da.“
Héctor isst seine Orange nicht. „Nach dem Fall des Pérez Jiménez kam ein Schiff, um die Überlebenden – 554 Personen – zu befreien und aufzusammeln. Doch überraschend wollten gar nicht alle in die Freiheit. Vier Häftlinge waren von den Folterknechten so sehr eingeschüchtert, dass sie auf der Insel zurückbleiben wollten. Aber auf dem Schiff war auch jener Colonel, der Peñapeña genannt wurde. Der zeigte, dass es selbst unter Soldaten noch Ehre gab, denn er setzte seinen Fuß nicht eher wieder auf die Planken, bevor er nicht hundertprozentig überzeugt war, dass sich jeder einzelne Häftling an Bord befand. Peñapeña war der letzte, der das Schiff in die Freiheit bestieg. Die Wärter des Gefangenenlagers hatten sich selbst im Gefängnis verbarrikadiert – sie fühlten sich in den Zellen ihrer Opfer sicherer als draußen, denn sie wussten, dass es viele wütende Menschen gab, die sich sofort an ihnen bitter rächen würden. Leiter des Gefangenenlagers war während der gesamten Zeit übrigens Teniente Piyares.“
Teolardo ergänzt: „Wenige Gefangene schafften es während der Diktatur, dem Terror von Guasina zu entrinnen. Eine mutige Frau aus Sacupana, Lucia Flores, half vielen, kochte heimlich für sie, wusch ihre Kleidung. Pablo Ramón Gutierrez, ein politischer Häftling, der aus Sacupana stammte, lebte nach seiner Befreiung wieder hier, bei uns, bis zu seinem Tod.“
Héctor: „All das ist die Geschichte von Sacupana und dem, was Sacupana erlitten hat!“ Und er beginnt, seine Orange zu pellen. Die Siesta ist gleich zu Ende. Dann muss er sich wieder an die Reparatur des Generators machen: Seit sechzig, vielleicht mehr Jahren gibt es schon Elektrizität in Sacupana – die Stromkabel wurden in alter Zeit, extra wegen des Gefängnisses, gelegt.
Die meisten Menschen Sacupanas arbeiten heute, wie Héctor, im öffentlichen Dienst, fischen im Fluss und in den Lagunen, pflanzen, züchten Rinder. Während Teolardo langsam die breite, staubige Straße zum Río Grande hinabgeht, erzählt er, dass es 1970 Pläne gab, einen Weg nach Santa Catalina zu öffnen, doch man habe nur bis Sacoroco einen Pfad in den Urwald geschlagen, der mittlerweile wieder zugewachsen sei.
Große Flächen der Straße sind bedeckt von zum Trocknen ausgebreiteten Kaffeekirschen und Annatto-Baumsamen. Teolardo: „Wir tränken die Annatto-Samen in Öl, dann löst sich ein roter Farbstoff heraus, der gut ist zum Einfärben von Lebensmitteln und den die Waraos benutzen um ihre Haut zu bemalen.“
Teolardo zieht sich ein Hemd über und springt in unser balajú-Schnellboot, das am Sandstrand vor der alten Polizeistation liegt. Mehrere Frauen tragen Tische voll Kleider in den Fluss, beginnen zu waschen und zu schwatzen. Nackte Kinder planschen zwischen ihren Müttern, kreischen, lachen. Ein Dreijähriger, hüfttief im Strom, füllt eine Plastikflasche mit dem braunen Flusswasser und trinkt. Teolardo sagt: „Wir kriegen mehr und mehr Sandbänke hier, des künstlich freigehaltenen Schiffskanals wegen. Und der Wind weht rau heute, wie immer. Müssen vorsichtig sein!“ Auf der anderen Seite des weiten, schlammigen Flusses, der gleißend ist vom Sonnenlicht, erstreckt sich ein dünner Streifen schwarzen Dschungels – Isla Guasina.
Wir setzen über den Río Grande, navigieren um die Westspitze der Insel (die auf manchen Landkarten „Guasima“ heißt) und erreichen deren Nordseite. Wie viele dutzend Mal schon bin ich hier vorbeigefahren – ohne über den Albtraum nachzudenken, der Guasina einst gefangen hielt! Nachdem wir von der Westspitze aus einen Kilometer in Richtung Osten gesteuert sind, landen wir inmitten eines Dickichts aus Dornen und Lianen.
Dicht am Ufer, verschmolzen mit dunklem Waldschatten, erhebt sich als monströser, moosbewachsener Dämon die Betonstruktur des alten Gefängniswassertanks. Millionen Moskitos schwärmen. Teolardo deutet mit seiner Machete in die Dschungelfinsternis: „Hier überall standen damals Baracken.“ Zweihundert Meter östlich des Wassertanks steht ein Mauerfragment, schwarz von Feuchtigkeit und Pilzbefall. Zwischen hohen Bäumen sehe ich lianengewürgte Betonreste, durch Wurzelkraft gesprengt und in die Luft gehoben. Trotz der Moskitos hackt Teolardo einen Pfad nach Süden, dem Inselinneren zu. Mehrmals streifen wir riesige Ameisennester, die ballonartig in den Bäumen hängen. Wie Schlangenkörper unbekannter Ausmaße winden sich bejucos de corona, armdicke, stachelige Schlingpflanzen, durch den Wald. „Aus dieser Pflanze wurde die Dornenkrone für Jesus geflochten“, sagt Teolardo dumpf, uns zum Herz von Guasina durchkämpfend.
Im versunkenen Inselzentrum blubbert Sumpfbrühe – voller Moskitolarven und verschütteter Geheimnisse. Versteckt, auf einer Zunge festen Landes zwischen Fluss und Morast, steht, was Teolardo als Tigrito bezeichnet: Eine hohe Zelle auf kleiner, quadratischer Grundfläche, die Ziegelmauern mit glitschigen Schichten aus Flechten und faulen Blättern überzogen. Im oberen Teil der Nordwand des Gebäudes ist ein Lichtschlitz eingelassen. Fledermäuse fliegen ein und aus. „Auf der Westseite müsste die Tür sein“, meint Teolardo. Aber diese Wand ist komplett bedeckt von Wurzeln. Denn auf dem Dach des Tigrito wächst ein mata de palo, ein Riesenficus, der – wie ein Tiefseeungeheuer – das spukhafte Gebäude in seinen Wurzelarmen hält und, ganz sanft, zermalmt.

Der vorliegende Text erschien – in spanischer Sprache – erstmals in der Chronik Guía oficial del estado Delta Amacuro von Ingolf Bruckner und Rebeca Gómez (+) // Editorial el perro y la rana // Caracas 2007/2011 // ISBN 980-396-411-9.

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