Nachruf | Nummer 287 - Mai 1998

Am Ende des Labyrinths

Zum Tode des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz

Die Kunst des Sterbens sei „die Kunst des Versteckspiels“, sagte Octavio Paz vor wenigen Monaten in einem Telefoninterview mit dem mexikanischen Fernsehen, und diese „delikate Kunst“ wolle gut gelernt sein. „Wenn man schon sterben muß, dann sollte man das zur rechten Zeit und mit einem Lächeln tun.“ Das war im November letzten Jahres, als Nachrichtenagenturen irrtümlicherweise seinen Tod gemeldet hatten und der krebskranke Poet sich zum öffentlichen Dementi gezwungen sah. Den voreiligen Überbringern der Todesbotschaft riet er zu lernen: „nicht unbedingt die Kunst des Sterbens, sondern die des Lächelns“.

Anne Huffschmid

Don Octavio, wie die MexikanerInnen ihren Nobelpreisträger voller Verehrung zu nennen pflegten, war schon länger kein zorniger alter Mann mehr. Bei aller Polemik um seinen leidenschaftlichen Antikommunismus schien er in den letzten Jahren eine Gelassenheit und Versöhnlichkeit erlangt zu haben, die zynische Beobachter mitunter schon als Zeichen beginnender Senilität deuteten. So prophezeite er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt im Dezember, entgegen dem allgemeinen Lebensgefühl dieser Tage seinem Land in anrührendem Pathos schlicht „neue Tage des Lichts, mit Sonne und Liebe“. Dabei war der kranke Poet nicht senil, sondern vermutlich einfach müde geworden. Müde auch von einer Rolle, wie sie lateinamerikanischen Schriftstellern seit jeher zugedacht ist: in Ermangelung einer freien, demokratischen Öffentlichkeit fungieren sie in ihren Gesellschaften als eine Art Patchwork-Intellektuelle, die sich nicht nur als Dichter und Denker, sondern zugleich als Politiker, Diplomaten und Kommentatoren des politischen Tagesgeschehens betätigen müssen. Paz allerdings, so der Historiker Enrique Krauze bei der Trauerfeier, habe „vor allem als Poet“ erinnert werden wollen.

Der Kritiker

Unweigerlich aber wird der Dichter der Welt auch als politischer Kopf im Gedächtnis bleiben. Und als solcher brach er nach den Erfahrungen mit den Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg und aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts schon Anfang der 40er Jahre, also zu einer Zeit, als der Antikommunismus noch nicht im mainstream der intellektuellen Eliten Lateinamerikas lag, mit den Idealen eines wie auch immer gearteten Sozialismus. Verkörperte er in den darauffolgenden Jahrzehnten noch das klassische Profil eines aufrechten Liberalen – sein demonstrativer Rücktritt als Botschafter nach dem Studentenmassaker von 1968 bescherte dem Regime einen empfindlichen Imageverlust – so nahmen seine polemischen Kreuzzüge gegen die mutmaßliche kubanische und sowjetische „Unterwanderung“ des Kontinents ab Anfang der 70er Jahre immer schärfere Konturen an. Allerorten witterte Paz kommunistische Verleumdung und Zensurgebaren, verglich Fidel Castro mit Pinochet und bezeichnete die sandinistische Revolution in Nicaragua als „militärisch-bürokratische Diktatur“. Zum mexikanischen Machtapparat unterhielt er Zeit seines Lebens ein ambivalentes Verhältnis. Obwohl er mit allen Staatschefs mehr oder weniger eng befreundet war, konnte Paz sich eine kritische Distanz bewahren. So blieb er ein scharfer Kritiker von Autoritarismus und Paternalismus und bemühte sich, in Mexiko eine Art System-Zwitter zu sehen: zwar sei das Land nun sicher keine Demokratie, aber eben auch keine Diktatur lateinamerikanischen Zuschnitts. Denn immerhin habe das Regime, im Unterschied zu vielen Nachbarn, wenigstens das Menschenleben und die Grundrechte weitgehend respektiert – ohne die partielle Ausblendung der eigenen Wirklichkeit hätte Paz seine Nation vermutlich weder diplomatisch noch literarisch vertreten können.
Politisch ließe sich der Schriftsteller also möglicherweise als konservativ etikettieren. Ein mexikanischer Mario Vargas Llosa aber war er sicher nicht: dessen unbändige Lust an der Macht dürfte ihm fremd gewesen sein, und anders als sein peruanischer Dichterkollege begegnete er seinen politischen Gegnern nie mit Häme oder Arroganz. Bezeichnend dafür war sein zwiespältiges Verhältnis zum Aufstand der Zapatisten. In den ersten Januartagen 1994 hatte der Dichterfürst die Indio-Revolte noch als „irreal“, als „selbstmörderische Gewalt“ und Relikt „aus dem großen Schiffbruch der revolutionären Ideologien des 20. Jahrhunderts“ gegeißelt und im Februar 1995 unter befreundeten Intellektuellen sogar einen offenen Brief zur Rechtfertigung der präsidialen Militäroffensive initiiert. Gleichzeitig aber konnte er Sätze schreiben wie: „Ich stimme mit Marcos überein, daß wir heute in Mexiko und der Welt ein neues Projekt brauchen.” Und war schließlich souverän genug zur Selbstkritik: der „eloquente Brief“ des Subcomandante Marcos – als Antwort auf das Amnestie-Angebot des Präsidenten (Wer hat um Verzeihung zu bitten?, 18.1.1994) – habe ihn „wahrhaftig bewegt: es sind nicht sie, die Indios von Mexiko, sondern wir, die um Verzeihung zu bitten haben.“ Anfang 1996 bringt er dann prägnant den eigenen Zwiespalt zum Ausdruck: „Ein Teil von mir applaudiert ihm, denn Unverschämtheit und Respektlosigkeit sind gesund; ein anderer Teil aber bedauert ihn, denn die Leidenschaft darf sich niemals dem Recht oder der Vernunft in den Weg stellen.“ Es ist vor allem diese Art des Abwägens, ein Novum für lateinamerikanische Streitkultur, die auch politische Gegner an Paz geschätzt haben dürften.

Der Poet…

Bei allem Beharren auf rationaler Aufgeklärtheit, auch Octavio Paz war letztlich ein Gläubiger: der ungebrochene Glaube daran, daß sich Land und Welt via westliche Demokratie und freiem Markt quasi automatisch und schrittweise humanisieren, demokratisieren und zivilisieren werden, durchzieht seine politischen Texte wie ein roter Faden. Gegen die „blutigen Phantasmen“ totalitärer Regime, und zuletzt auch wieder gegen den „entfesselten Kapitalismus“, beschwört er die heilbringende Wirkung der Vernunft – und mutet damit heute schon fast ein wenig altmodisch, geradezu weltfremd an.
So war der liberale Antikommunist Paz, der in tagespolitischen Angelegenheiten eher auf Appelle denn auf Analyse zu setzen schien, im Grunde gar kein Politiker. Denn eigentlich trieben ihn, den Dichter und Denker in einer Person, der im Unterschied zu anderen weltberühmten Schriftstellern des Kontinents kein Erzähler war, ganz andere Themen um: zunächst die Freiheit – des Menschen, des Wortes, der Liebe, der Eros und die Kunst, die Zeit und der Tod. Dem Poeten Paz läßt sich an dieser Stelle aber kaum gerecht werden. (Wie hatte es in Mexiko auf der Hommage zu seinem achtzigsten Geburtstag geheißen: lesen, lesen, lesen – das sei die beste Würdigung der Paz’schen Dichtung.)
Als poetischer Essayist war Octavio Paz nun beileibe kein Konservativer, sondern ein Provokateur: für den Klerus und für die Moral, für die Gralshüter postrevolutionärer Nationalkultur und nicht zuletzt auch für die machistischen Männerbünde. So war Paz einer der wenigen – männlichen – Schriftsteller Lateinamerikas, die sich intensiv mit Geschlechtern und Geschlechtlichkeit, mit den Fesseln der Frauen und den Fesseln der Sexualität beschäftigt haben. Seine monumentale Studie über die „Fallstricke des Glaubens“, in denen die mexikanische Dichterin und Nonne Sor Juana Inés de la Cruz im 17. Jahrhundert verfangen war, kann heute gegen die klerikale Geschichtsklitterung als geradezu feministisch inspiriertes Dokument mexikanischer und zugleich weiblicher Geistesgeschichte gelesen werden. Der Essay über die „doppelte Flamme“ von Liebe und Erotik gehört zweifellos zu den klügsten Texten aus männlicher Feder über die Macht des Eros und die Utopie eines lustvollen Miteinanders der Geschlechter. Und schließlich war Paz einer der ersten, der sich schon 1950 in das widersprüchliche Labyrinth der „mexicanidad“ gewagt hat: die Mythen, Riten und Maskierungen der Mexikaner, ihre Gespaltenheit zwischen verdrängtem Erbe und moderner Gegenwart sind das Thema des weltberühmt gewordenen Büchleins „Das Labyrinth der Einsamkeit“. Nationale Identität wird hier, wie später auch im Spiegel anderer Zivilisationen – beispielsweise in seinem Buch über Indien – nicht als Essenz sondern als schmerzhafter und widersprüchlicher Prozeß gedeutet. Als zentrale Kategorie führte Paz an dieser Stelle schon einen Begriff ein, der in der intellektuellen Diskussion erst sehr viel später zum Modewort werden sollte: la otredad, das Anderssein, als Bestandteil des Eigenen. Zwar gilt der brillante Aufsatz heute als einer der Meilensteine des lateinamerikanischen Essays, in Mexiko selber aber hatte sich sein Autor seinerzeit zunächst eher unbeliebt gemacht: die Mexikaner würden als verklemmte Nihilisten verunglimpft, hieß es damals nicht selten. Das Selbstbild des stolzen, postrevolutionären Mexiko war empfindlich getroffen – und die Debatte eröffnet. So hat der Nationaldichter, neben allen anderen Verdiensten, seinem Land vermutlich auch zu einem souveräneren Umgang mit sich selbst verholfen.

…und Provokateur

Vor und über allem aber stand für Octavio Paz, in seiner Doppelrolle als Poet und Meta-Poet der Poesie, immer das Ringen mit seinem Rohmaterial: dem geschriebenen Wort. „Der Schriftsteller sagt, sprichwörtlich, das Unsagbare, das Nicht-Gesagte, das, was niemand sagen kann oder will.“, schrieb er letztes Jahr anläßlich eines lateinamerikanischen Literaturkongresses. „Deshalb sind alle großen literarischen Werke Hochspannungskabel, nicht mit elektrischer, sondern mit moralischer, ästhetischer und kritischer Spannung geladen.“ Dahinter steht der Glauben an die zerstörerischen und schöpferischen Kräfte der Sprache, an ihre subversive Potenz und an die Möglichkeit der „Versöhnung mit der schrecklichen menschlichen Wirklichkeit“. Und schließlich eine maßlose, schöne Hoffnung: „Die große Literatur ist großzügig, läßt alle Schrammen vernarben, heilt alle Wunden und selbst in den Momenten schwärzesten Humors sagt sie Ja zum Leben“. Diesmal aber haben sich die Reporter nicht geirrt, das Versteckspiel mit dem Tod hat Octavio Paz tatsächlich verloren. Wenige Wochen nach seinem 84. Geburtstag starb er in Mexiko-Stadt. Vielleicht sogar mit einem Lächeln auf den Lippen.

AUF DEUTSCH ERSCHIENEN:
Das Labyrinth der Einsamkeit (1970)
Freiheit, die sich erfindet (1971)
Suche nach einer Mitte. Die großen Gedichte (1980)
Der menschenfreundliche Menschenfresser. Gedichte und Politik 1971-1980 (1981)
Der sprachgelehrte Affe (1982)
Der Bogen und die Leier (1983)
Zwiesprache. Essays zu Kunst und Literatur (1984)
Die andere Zeit der Dichtung. Von der Romantik zur Avantgarde (1989)
In mir der Bau (1990)
Sor Juana oder die Fallstricke des Glaubens (1991)
Adler oder Sonne (1991)
Die andere Stimme (1994)
Im Lichte Indiens (1997)

KASTEN:
BIOGRAPHISCHES

– geboren am 31. März 1914, als Sohn eines revolutionären Juristen und einer Tochter spanischer Einwanderer in Mexiko-Stadt – als 17jähriger veröffentlicht er erste Gedichte in Zeitungen; mit 19 den ersten Lyrikband vorgelegt – 1937 heiratet er die Schriftstellerin Elena Garro (mit ihr hat er seine einzige Tochter, Helena); Reise zum Weltkongreß antifaschistischer Schriftsteller nach Spanien – 1944 bekommt er das Guggenheim-Stipendium in den USA – 1945 tritt er in den diplomatischen Dienst ein, lebt bis 1952 als Diplomat in Paris (Kontakt mit den Surrealisten um André Breton, aber auch mit lateinamerikanischen Kollegen wie Julio Cortázar), danach als Handelsattaché in Tokio; kehrt 1953 nach Mexiko zurück; 1957 Scheidung von Elena Garro – wird 1962 als Botschafter nach Neu-Dehli entsandt; dort, Begegnung mit der französischen Künstlerin Marie-José Pramini, mit der er bis zu seinem Tode zusammenlebt; („Nach der Geburt war das das Wichtigste, das mir in meinem Leben passiert ist“, kommentiert er später die Begegnung) – aus Protest gegen das Massaker von Tlatelolco, bei dem Sicherheitskräfte hunderte von unbewaffneten Studenten erschießen, tritt er von seinem Botschafterposten zurück – nach diversen Gastprofessuren in Harvard und Cambridge kehrt er 1971 nach Mexiko zurück, – im selben Jahr gründet er die Literaturzeitschrift „Plural“ als Antwort auf den „Dogmatismus“ der mexikanischen Intellektuellen; ab 1976 dann die Monatszeitschrift „Vuelta“ – 1981 bekommt er den Miguel-Cervantes-Preis in Spanien, 1984 in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels; in seiner Dankesrede attackiert er in scharfen Worten die sandinistische Revolution in Nicaragua – 1990 Literaturnobelpreis in Stockholm; dieser sei allerdings „kein Paß für die Unsterblichkeit“, wehrt er sich gegen allzu überschwengliche Lobeshymnen.

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