Chile | Nummer 309 - März 2000

Amnesie oder Demenz

Teile des medizinischen Gutachtens von Pinochet sind in die Öffentlichkeit gelangt

Der Druck aus Spanien, Frankreich, Belgien und der Schweiz zahlte sich aus: der britische Innenminister Jack Straw musste das medizinische Gutachten von Pinochet herausrücken.

Jens Holst

Lange hielt der britische Innenminister Straw das medizinische Gutachten des Herrn Pinochet unter Verschluss. Nur die chilenische Zeitung El Mercurio war bereits im Januar an eine Diagnosenliste gelangt, deren Aufbau und Vollständigkeit für die Seriosität der Informationsquelle sprach. Die entscheidenden Punkte waren indes überaus schwammig formuliert und legten den Verdacht nahe, dass interessierte Kreise bei der Interpretation mächtig zugunsten des Ex-Diktators manipuliert hatten. In mehreren europäischen Ländern, in denen Auslieferungsgesuche anhängig sind, machte sich gleichzeitig Unmut breit ob der britischen Verschwiegenheit in puncto Pinochet-Gutachten. Neben Spanien forderten auch Frankreich, die Schweiz und vor allem Belgien Einsicht in die Krankenakte des chilenischen Generals. Straw, der unnötigerweise schon kurz nach der Untersuchung Pinochets dessen baldige Rückführung in die Heimat angekündigt hatte, musste einen Rückzieher machen und leitete schließlich die Befunde des greisen Diktators an alle beteiligten Länder und Instanzen weiter.
Undichte Stellen im spanischen Außenministerium sorgten daraufhin dafür, dass weite Teile des medizinischen Gutachtens an die Öffentlichkeit gelangten. Darin kommen die britischen Medizinprofessoren Sir John Grimley-Evans und Andrew Lees, der Internist M. J. Denham und die Neuropsychologin Maria Wike zu dem Schluss, dass der chilenische Senator auf Lebenszeit „nicht in der Lage wäre, die rechtliche Komplexität eines Gerichtsverfahrens durchzustehen“. Die Fachleute begründen ihre Einschätzung mit dem fortschreitenden Abbauprozess in Folge von Durchblutungsstörungen im Gehirn. Dazu verweisen sie auf die computertomografisch nachgewiesene, mäßige Verringerung der Hirnmasse, die allerdings in den letzten Monaten keine Zunahme mehr gezeigt habe. Nun besteht bekanntermaßen zwischen Hirnmasse und intellektueller Fähigkeit kein unmittelbarer Zusammenhang, es lassen sich also anhand einer bildgebenden Untersuchung keine direkten Rückschlüsse auf den Abbau der Hirnleistungen ziehen.
Dazu bedarf es einer eingehenderen neuropsychologischen Untersuchung. Die Einschätzung des geistigen Zustands des einst eisenharten Diktators ist demnach eindeutig: Senile Demenz, zu Deutsch: Schwachsinn im Alter. Die britischen GutachterInnen bescheinigen Pinochet Störungen des Lang- und Kurzzeitgedächtnisses, Verständnisprobleme bei komplexeren Zusammenhängen, eine umschweifige, unpräzise Ausdrucksweise und rasche Ermüdbarkeit. Sie schließen aus, dass Pinochet ihnen etwas vorgemacht und sich verstellt hat, was von vielen unabhängigen und bisher nicht mit dem Untersuchungsbefund vertrauten BeobachterInnen in Betracht gezogen wurde. Doch enthält das Gutachten Befunde, die den geistigen Abbauprozess objektivierbar machen: Pinochet zeigt zwei Reflexmuster, die bei Neugeborenen vorhanden sind, im Laufe des Erwachsenenlebens aber völlig verschwinden und erst bei nennenswertem Abbau der Hirnrinde wieder auszulösen sind. Ein Vortäuschen kann hier ausgeschlossen werden.
Im Unterschied zu den bisherigen inoffiziellen Verlautbarungen sowohl der chilenischen als auch der spanischen Presse begründen die britischen ÄrztInnen ihre Annahme, dass Pinochet nicht in der Lage sei, einen mehrjährigen Prozess durchzustehen, im Wesentlichen mit der in ihren Augen fortgeschrittenen und das Altersmaß übersteigenden Demenz. Weder der nach tendenziösen chilenischen Quellen angeblich so schwer einstellbare Diabetes noch die dadurch hervorgerufene Nervenschädigung in den Beinen spielt bei der Einschätzung eine Rolle. Die Blutwerte zeugen sogar von einer recht guten und stabilen Einstellung des Zuckers, und die bei allen DiabetikerInnen über kurz oder lang auftretenden Nervenschädigungen vor allem in den Beinen dürften die Verhandlungsfähigkeit kaum einschränken.

General mit Alterszucker

Bekanntermaßen leidet der 84-jährige General seit mehreren Jahren an Alterszucker. Die genannten Leiden sind als direkte Folgen der chronischen Stoffwechselkrankheit anzusehen. Alle DiabetikerInnen zeigen über kurz oder lang Veränderungen der Nerven sowie der kleinen und kleinsten Blutgefäße und es kommt zu Durchblutungsstörungen in den Beinen, im Gehirn und in anderen Organen. Dazu passend beschreiben die Computertomografien des Pinochet-Schädels auch „lakunäre Infarkte“ als Ausdruck der Verstopfung von kleinen Arterien im Gehirn, die zu einem allmählichen Abbauprozess führen und auch die ebenfalls beschriebenen Parkinson-Syndrome erklären.
Solange der Öffentlichkeit keine genaueren Angaben zur Krankenakte Pinochet vorlagen und nahezu alle Beobachter auf journalistisch verkürzte beziehungsweise frisierte Berichte angewiesen waren, äußerten verschiedene Mediziner – von amnesty international und anderen Menschenrechtsorganisationen – erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des englischen Gutachtens. Es kam der Verdacht auf, Pinochet könnte seinen Zustand künstlich verschlimmert haben, indem er einige Tage vor der eingehenden Untersuchung kurzerhand seine Zuckertabletten absetzte. Das würde nicht nur die vermeintlich hohen und schwankenden Werte erklären, sondern auch den geistigen Zustand des Patienten. Bekanntlich kann vor allem ein hoher Blutzucker zur Verschlechterung des geistigen Zustands und zu Verwirrtheit führen.
Die nun vorliegenden Untersuchungsergebnisse bieten indes ein recht eindeutiges Bild über den Zustand des Herrn Pinochet. Nicht so eindeutig ist hingegen die Interpretation des Ergebnisses. Selbst wenn Augusto Pinochet nicht mehr in vollem Umfang dem Verfahren folgen oder beiwohnen kann, bleibt es letztlich eine politische Frage, ob es in Anbetracht der ungeheuren Bedeutung und des damit verbundenen internationalen Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, ihn wegen zunehmender Amnesie und Demenz zu verschonen. Zur Überprüfung seines geistigen Zustands sind weitere und eventuell auch eingehendere Gutachten auf jeden Fall zu begrüßen.
Eins ist allerdings jetzt schon klar: Der neugewählte chilenische Präsident Ricardo Lagos, der am 11. März sein Amt antreten wird, hat die Bevölkerung seines Landes in Sachen Pinochet belogen. Unbeirrbar behauptete er vor und nach seinem Sieg in der Stichwahl am 16. Januar, er werde alles dafür tun, um ein Verfahren gegen den ehemaligen Diktator in Chile zu ermöglichen.

Lagos hat gelogen

Das müsste unabhängig von einer eventuellen Rückführung Pinochets aus gesundheitlichen Gründen gelten, denn der Gesundheitszustand spielt nach dortigem Strafrecht keine Rolle. In Chile kann ein Verfahren nur dann ausgesetzt werden, wenn der oder die Angeklagte aus geistigen Gründen nicht in der Lage ist, dem Prozess zu folgen. „Davon war bei Herrn Pionchet bisher noch nie die Rede,“ behauptete Lagos bei jeder Gelegenheit. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Wenn Pinochet ohne Verfahren aus Europa zurückkehrt, dann eben aufgrund seiner beschränkten geistigen Zurechnungsfähigkeit. Damit ist er auch in Chile nicht vor Gericht zu stellen. Für den neosozialistischen Präsidenten im Übrigen keine unbequeme Situation: Er könnte seine Hände in Unschuld waschen, auf sein Bemühen verweisen und die Verantwortung auf die Gerichtsbarkeit abschieben. Und an seine kleine Lüge wird ihn keiner mehr erinnern, schließlich teilt Pinochet das Problem der Amnesie mit einer großen Mehrheit in seinem Land.

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