Chubutazo – die Provinzen im Aufstand
Auslöser für die Massenproteste waren die seit August ausbleibenden Lohnzahlungen an die Staatsangestellten der Provinzen Chubut, Jujuy, Santa Fé, Tucuman, Santiago del Estero und Salta. Nachdem Präsident Menem am 9.Oktober bei einem öffentlichen Auftritt in Ushuaia auf Feuerland von der Bevölkerung niedergebuht wurde und seinen Diskurs abbrechen mußte, brachen am folgenden Tag in Chubut die Massenproteste los: die gesamte Provinz war durch Streiks, Straßenblockaden und Mobilisierungen paralysiert. Schon eine Woche vorher hatten die RentnerInnen der Provinz kurzerhand das Gebäude der Provinzkasse besetzt, da sie seit einem Monat keine Rente mehr bezogen hatten. In allen großen Städten der Provinz gründeten sich “multisektorale” Zusammenschlüsse, welche die Aktionen und Forderungen koordinierten. Hierin hat sich ein breites Bündnis von Gewerkschaften, linken Parteien, StudentInnen und anderen Massenorganisationen zusammengeschlossen. “Wir müssen die Fackeln löschen, sonst verbrennen sie uns die gesamte Provinz”, meinte der Wirtschaftsminister von Chubut. Doch die “Fackeln” loderten weiter und ließen den Protest in den folgenden Tagen zu einem Volksaufstand, dem “Chubutazo” anwachsen: Das gesamte öffentliche Leben der Provinz war lahmgelegt. Geschäfte blieben geschlossen, Arbeitsstätten wurden genau wie Straßen, öffentliche Einrichtungen und Fernseh- und Radiostationen besetzt, die Krankenhäuser versorgten nur noch akute Notfälle etc. Sogar die Gasleitung, welche die Hauptstadt Buenos Aires mit einem großen Teil des notwendigen Energieträgers beliefert, wurde durch eine Sabotage-Aktion gekappt, nachdem auf den Versammlungen dies immer wieder gefordert worden war. Hauptträger der Proteste waren allerdings nicht die IndustriearbeiterInnen, sondern die 22.000 Staatsangestellten Chubuts.
Die “Droge Geld”
Der peronistische Provinzgouverneur Néstor Perl versuchte zunächst, sich an die Speerspitze der Bewegung zu stellen, indem er die Forderungen nach mehr Geld für die Provinzen aufgriff und bei der Nationalregierung anfragte. Die erste Abfuhr des Wirtschaftsministers Sup-Ermán Gonzales war eindeutig: Kein Geld für die Provinzen, “denn das ist wie eine Droge, von der die Regierungen nicht abhängig werden dürfen.” Abhängig geworden ist jedoch längst die Nationalregierung, die ihren eigenen Haushalt durch drastische Kürzungen der Zuwendungen an die Provinzen sanieren will. In den letzten Monaten sind die Geldflüsse an die Provinzen um 40-55% zurückgegangen. Kein Wunder also, daß die Regierungen ihre Angestellten nicht mehr bezahlen können. Hinzu kommen die übrigen Folgen der verschiedenen wirtschaftlichen Anpassungsversuche der Regierung Menem, die zwar die Inflation nicht drücken konnten, dafür aber den Reallohn auf ein nie gekanntes historische Niveau gesenkt haben und das alltägliche Leben in Argentinien für den Großteil der Bevölkerung zur Überlebensfrage werden lassen.(S. LN 192) Mittlerweile beträgt z.B. die Arbeitslosen- und Unterbeschäftigtenrate über 30%.
Zu Beginn der Proteste meinte Provinzgouverneur Perl noch: “Wenn nach mir der Nikolaus kommt, trete ich sofort zurück.” Alle folgenden Versuche einer Konzertation und Verhandlung mit der Bevölkerung scheiterten jedoch. Am 30. Oktober mußte er dann gemeinsam mit seinem Amtskollegen aus der Provinz Jujuy, Ricardo De Aparici, seinen Hut nehmen: Der Druck der Bevölkerung hatte nicht nachgelassen, sondern die anhaltenden Massenproteste hatten sich vielmehr auf die Forderung nach den beiden Köpfen konzentriert.
Aufstand und “rechtsfreier” Raum als Konzept
Der “Chubutazo” war für die übrigen Provinzen lediglich der Auslöser, denn die Situation ist in allen Provinzen ähnlich schwerwiegend. Nicht nur, daß die Löhne nicht mehr ausgezahlt werden können. Zum Beispiel die soziale Unterversorgung in den Krankenhäusern hat ein bedrohliches Ausmaß angenommen: Fehlende Medikamente und Nahrungsmittel, mangelndes Personal und die stark angestiegene Anzahl von Patienten brachten das Gesundheitssystem des Landes an den Rand des Zusammenbruchs. “Es gab noch nie eine so große Anzahl von Patienten während des Winters, denn es fehlt an Heizungen und Wärme in den Häusern”, erklärte eine Krankenschwester aus Chubut. Die Menschen müßten allein für die Heizkosten die Hälfte ihres Monatslohnes aufbringen. Selbst die Polizeikräfte schlossen sich in den Provinzen den Protesten der Bevölkerung an, denn auch sie wurden nicht mehr bezahlt. So entstand ein “rechtsfreier” Raum, da weder die Regierungen noch ihre Exekutive Autorität ausüben konnten und das Leben durch die Proteste und die Volksorganisation (Volksversammlungen, Volksküchen etc.) bestimmt wurde.
Der zwischenzeitliche Befriedungsversuch der einzelnen Provinzregierungen, durch die Zahlung von 30-50% des Lohnes für die vorhergehenden Monate die Proteste zu beenden, wurde von der Bevölkerung im Gegenteil zum Anlaß für verstärkte Mobilisierungen genommen. “Die Situation wird noch viel schlimmer, wenn wir im Oktober auch keine Löhne erhalten”, meinte ein Sprecher der Gewerkschaft ATE in Chubut. Und die sind tatsächlich bisher nicht ausgezahlt worden – wie auch? Die von der Nationalregierung den Provinzen dann doch zur Verfügung gestellten zusätzlichen 20 Mrd. Australes (umgerechnet rund 350.000 $ US) waren lediglich ein kleiner Tropfen für das endlose Fass der Provinzdefizite. Allein in Chubut benötigt die Regierung 120 Mrd. Australes, um die Außenstände zu decken.
“Die Nationalregierung hat die Verpflichtung, das Funktionieren des Rechtsstaats zu gewährleisten. Wenn die Provinzregierungen dies nicht gewährleiten können, ist eine Intervention der Zentralregierung nicht ausgeschlossen”,drohte Präsident Menem nach diesem Fehlschlag. Doch diese blieb bisher aus. Verantwortlich macht Menem für die derzeitige Krise die Provinzregierungen selbst, die es nicht verstanden hätten, die wirtschaftlichen Anpassungspläne anzuwenden. Würde dies geschehen, hätten sie keinerlei Probleme mehr. Menems Vertreter Eduardo Duhalde verkündete dann während Menems Europa-Tournee das “System von Zuckerbrot und Peitsche”. Danach erhalten diejenigen Provinzen, die ebenso wie die Nationalregierung ein Schockprogramm durchführen, zusätzliche Gelder, während die anderen leer ausgehen. Aber welche Provinzregierung will bei den derzeitigen Protesten schon ein Schockprogramm verkünden, welches die Krise weiter verschlimmert!
“Menemtroika” international
Staatschef Menem verweilte derweil in Europa beim Papst, Walesa und Gorbatschow. “Ich habe verschiedene Maßnahmen der Perestroika angewandt; das Buch habe ich zweimal gelesen. In Lateinamerika nennen es die Leute Menemtroika”, verglich er beim sowjetischen Staatsoberhaupt die Situation der beiden Länder. “Die sozialen Kosten sind beim Übergang zur Marktwirtschaft unausweichlich”, wußte Menem dem polnischen Staatschef Jaruselski zu berichten. Kurz vor der Abreise hatte er in Argentinien noch einmal den Inhalt seiner “Menemtroika” unter Beweis gestellt.: Mit einem Dekret, welches an die alten Gesetze und Verfügungen der Militärdiktaturen anknüpft, schränkte Menem das Streikrecht ein. Es verbietet, die Dienstleistungen außer Kraft zu setzen, “wenn dies eine Gefährdung des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit und der Sicherheit darstellt”. Zu gut deutsch: wenn die Regierung es will, kann jeglicher Streik verboten werden. Daß der Präsident dieses repressive Dekret ausgerechnet am 17.Oktober, dem wichtigsten historischen Datum des Peronismus – an dem Perón 1945 die Macht bekam – verfügte, zeugt von der unglaublichen Symbolkraft und Unverfrorenheit dieses Menschen. Ungeachtet dessen verkündete der frisch wiedergewählte Führer des abgespaltenen progressiven Dachgewerkschaftsflügels Saúl Ubaldini zur gleichen Zeit vor 30.000 Menschen auf der Plaza de Mayo für den 15.November einen “nationalen Protesttag”. Generalstreik wollte er es dann wohl doch lieber nicht nennen.
Der in Chubut für den 8.November ausgerufene Generalstreik wurde trotz Streikverbot der Regierung massenhaft befolgt. Wenn es gelingt, daß sich den aufständischen Volksmassen landesweit auch die IndustriearbieterInnen anschließen, kann der Protest nicht mehr länger von der Regierung hingehalten werden. Ob Präsident Menem dann, wie schon angedroht, die repressive Karte zieht, oder aber unter dem Druck der Bevölkerung selber seinen Hut nehmen bzw. seine Politik ändern muß, wird sich nach dem 15.November zeigen. Doch wie sagte Menem nach seiner Ankunft in Argentinien: “Ich hätte die Macht haben wollen, die Pinochet während 17 Jahren hatte.” Hätte…