“Das erste Mal übernahmen Indígenas einen Teil der Staatsmacht“
Interview mit Antonio Vargas, Präsident der „Vereinigung der Indigenen Nationen Ecuadors“ (CONAIE)
In der Nacht zum 22. Januar haben Sie, als Jamil Mahuad nach tagelangen Protesten der indigenen Bevölkerung von seinem Präsidentenamt zurücktrat, zusammen mit dem Oberkommandierenden des Heeres, General Carlos Mendoza und dem früheren Richter am Obersten Gerichtshof, Carlos Solorzano, für wenige Stunden die Geschicke ihres Landes bestimmt. Am folgenden Tag wurde die Macht dem Vizepräsidenten Gustavo Noboa übergeben, der trotz seiner Regierungsfunktion ursprünglich als Kontrahent Mahuads für die Präsidentschaft kandidierte. Wie bewerten Sie nun, einen Monat nach dem Aufstand das Resultat?
Die Geschehnisse vom 21. Januar haben für unser Land historische Bedeutung. Besonders wichtig war die große Solidarität und das Vertrauen, das uns dabei auf internationaler Ebene entgegengebracht wurde. Eine mindestens ebenso große Bedeutung hatte das Verhalten der staatlichen Sicherheitskräfte und der nicht unmittelbar beteiligten Teile der Bevölkerung. Auch von ihrer Seite war weitgehend positive Resonanz zu verzeichnen. In der Geschichte Lateinamerikas und der Welt war dies das einzige Mal, dass Indígenas einen Teil der Staatsmacht übernommen haben, um ihre Stimme gegen die soziale Benachteiligung zu erheben.
Trotzdem ist die Macht mit Gustavo Noboa wieder von der alten Elite übernommen worden. Was werden die weiteren Schritte der CONAIE sein?
Unser Hauptinteresse ist im Moment eine Volksbefragung durchzusetzen, in der über die Auflösung des Parlaments, des Obersten Gerichtshofs und vor allem über die Koppelung des Sucre (Landeswährung in Ecuador) an den US-Dollar entschieden werden soll. Um die Volksbefragung zusammen mit den Gemeindewahlen im Mai durchführen zu können, müssen wir bis zum 6. April 605.000 Unterschriften sammeln. Wir rechnen in Anbetracht der Stimmung unter der gesamten Bevölkerung – nicht nur dem indigenen Teil – jedoch damit, in den kommenden Wochen mehrere Millionen Unterschriften zusammenzubekommen. Die CONAIE arbeitet dabei mit einem breiten Bündnis sozialer Organisationen des Landes zusammen.
Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen den Indígenaorganisationen und der Regierung generell?
Zunächst hat es keine Gespräche zwischen uns und der Regierung Noboa gegeben. Noboa bot uns erst für den 16. Februar ein Treffen an. Bei der Zusammenkunft mit ihm haben wir die derzeitige Situation und die ökonomischen Probleme des Landes analysiert und diskutiert. Es war eher ein Sondierungsgespräch, in dem wir unsere Standpunkte ausgetauscht haben. Seitens der CONAIE haben wir erneut unsere Bereitschaft demonstriert, das Land zu positiven Veränderungen zu führen. Das haben wir auch während der Gespräche mit dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) versucht zu vermitteln. Alle diese Gespräche und Kundgebungen im ganzen Land dienen dazu, den Menschen die Probleme des Landes zu verdeutlichen. Das ist vor allem in Anbetracht dessen nötig, dass im In- und Ausland eine große Unsicherheit besteht, sich über das, was am 21. Januar geschehen ist, eine Bild zu machen. Vor allen durch die Medien wurde die Meinung verbreitet, es habe sich um einen gewaltsamen Staatsstreich gehandelt. Tatsache ist jedoch, dass es ein historischer und patriotischer Aufstand des ecuadorianischen Volkes war, das seine Interessen verteidigt hat.
Sie sagen, es haben bisher (bis auf einen Positionsaustausch am 16. Februar) noch keine Gespräche mit der Regierung stattgefunden. In Anbetracht dessen, dass Sie an Gustavo Noboas Machtübernahme einen entschiedenen Anteil hatten, ist das doch verwunderlich. Wie stehen Sie zu dem neuen Präsidenten und welche Forderungen richtet die CONAIE an ihn?
Wir fordern von Noboa ein entschiedenes Handeln zu Gunsten des Landes ein. In den kommenden Wochen werden daher vor allem die Auslandsschulden, die Privatisierung und die Dollarisierung der ecuadorianischen Wirtschaft auf der Tagesordnung stehen. Vor dem Hintergrund der sozialen Veränderungen wird vor allem der Punkt der Privatisierung eine wichtige Rolle während der kommenden Gespräche einnehmen. Im Grunde richten wir an ihn die Forderungen, mit denen wir schon Mahuad entgegengetreten sind. Was wir anstreben, ist kein Regierungswechsel, sondern ein neues Ecuador, das sich grundlegend von den vergangenen Entwicklungen des Lande distanziert. Im Interesse der Bevölkerung müssen besonders im wirtschaftlichen Sektor Alternativen gesucht werden. Dabei werden wir uns nicht in die Regierung einbinden lassen. Das würde unserem Bestreben zuwiderlaufen, eine Demokratisierung einzuleiten und demokratische Strukturen zu etablieren, die dem sozialen Sektor zugute kommen.
Welche Einfluss haben in diesem Zusammenhang die Vereinigten Staaten auf die Entwicklung in Ecuador?
Wie auch in anderen Ländern verfolgen die Vereinigten Staaten in Ecuador weit reichende wirtschaftliche Interessen. Zudem unterhalten die Nordamerikaner einen militärischen Stützpunkt, um, wie sie es sagen, den Drogenhandel zu bekämpfen. Seit jeher sind in Ecuador große Bananen- und Ölgesellschaften ak-tiv. Die wirtschaftlichen Verbindungen sind sehr einseitig dominiert. Eine Bindung des Sucre an den US-Dollar würde diese Abhängigkeit noch verstärken.
Die in Quito erscheinende Wochenzeitschrift Vistazo hat nach dem 21. Januar geschrieben, die indigene Bewegung in Ecuador sei von ökologischen Gruppen aus den Vereinigten Staaten gesteuert. Die indigene Bevölkerung sei „im Parlament durch blonde Nordamerikaner vertreten“…
Das ist eine große Lüge. Die indigene Bewegung in Ecuador hat eine eigene Organisationsstruktur, die aufgebaut wurde, um in den neuen wirtschaftlichen Strukturen überleben zu können. Die großen Organisationen haben sich während der Auseinandersetzungen in den letzten Jahrzehnten gebildet und sind in diesem Bewusstsein des sozialen Kampfes gewachsen um einer sozialen Katastrophe für die indigene Bevölkerung, aber auch für das gesamte Land, entgegenzutreten. Vor diesem Hintergrund ist es schlichtweg lächerlich, zu behaupten, dass die Indígenabewegung von „ökologischen Gruppen aus dem Ausland“ gesteuert ist. Mit solchen Vorwürfen soll der Bewegung die Legitimität abgesprochen werden.
Nicht zuletzt bedeuten solche Diffamierungen aber auch, dass Indígenabewegungen zu einem ernst zu nehmenden Faktor geworden sind. Wir bewerten sie die Entwicklungen in Lateinamerika generell?
Dass Indígenabewegungen in fast jedem lateinamerikanischen Staat von Mexiko über Zentral- bis nach Südamerika bestehen, weist auf die wachsende politische Bedeutung dieser Bevölkerungsgruppen hin. In Ecuador können wir einen der höchsten Organisationsgrade verzeichnen. So verfügen die ethnischen Gruppen an der Küste und im Landesinneren durch gleiche Organisationsstrukturen über gute Verbindungen.