Mexiko | Nummer 399/400 - Sept./Okt. 2007

Das Rätsel von Oaxaca

In Oaxaca herrscht erneut der Ausnahmezustand – in den Wahlergebnissen vom 5. August schlug sich das jedoch nicht nieder

Ein Jahr nach Beginn des Aufstandes ist die Friedhofsruhe beendet. Die Versammlung der Völker von Oaxaca (APPO) ist zurück mit entschlossenen Protesten. Doch ihr Aufruf zu einer Protestwahl verhallte ungehört.

Juliane Schumacher

Am Jahrestag des Aufstandsbeginns flammte der Protest in Oaxaca wieder auf. Am 14. Juni des vergangenen Jahres hatte der Gouverneur des südmexikanischen Bundesstaates, Ulises Ruiz Ortiz, versucht, einen LehrerInnenstreik gewaltsam zu beenden. Er löste damit einen mehrmonatigen Volksaufstand aus, den Militär und Polizei im November niederschlugen. In Oaxaca herrschte Friedhofsruhe; die Versammlung der Völker Oaxacas (APPO), ein loser Zusammenschluss der Protestierenden, zog sich angesichts der Repression und interner Streitigkeiten zurück. Am 16. Juni dieses Jahres war sie auf einmal wieder da: 100.000 bis 200.000 Menschen marschierten durch die Straßen von Oaxaca, Hauptstadt des Bundesstaates. Sie forderten dasselbe wie noch im November: höhere Löhne, die Freilassung der Gefangenen, vor allem aber den Rücktritt des Gouverneurs Ruiz Ortiz. Sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden, kündigten sie vor den Lokalwahlen am 5. August verstärkt Proteste an. Wenige Tage nach der Demonstration besetzten Mitglieder der APPO erneut den Zócalo, den zentralen Platz in der Stadt. Auch wird die APPO, wie im letzten Jahr, die offizielle Guelaguetza boykottieren.
Die Guelaguetza ist das bekannteste Fest Oaxacas, ein Volksfest mit Tänzen und indigenen Trachten, das jedes Jahr zahlreiche TouristInnen lockt. Die Bevölkerung Oaxacas lehnt das „offizielle“ Fest jedoch wegen hoher Eintrittspreise und der kommerziellen Ausrichtung ab und feierte ihre eigenen Version, die guelaguetza popular (Populäre Guelaguetza), noch bevor die offiziellen Feier begann. Zwei Tage ging das gut. Am dritten Tag der Gegen-Feierlichkeiten kam es zum Eklat: Die Polizei versperrte am 16. Juli einem Demonstrationszug den Weg zum Festplatz. Steine flogen, von Seiten der PolizistInnen wie von den DemonstrantInnen, Busse wurden umgestürzt und angzündet. DemonstrantInnen und Polizei lieferten sich über drei Stunden Straßenschlachten. Die Bilanz: mindestens 40 Verletzte, 60 Festnahmen. Während Ruiz am nächsten Tag verkünden ließ, die offizielle Guelaguetza werde wie geplant am 21. Juli beginnen, „für die Sicherheit der Menschen in Oaxaca, des nationalen und internationalen Tourismus“, gelangten die folgenden Tage immer mehr Details ans Licht, die das brutale Vorgehen der Polizei am 16. Juli zeigten: So veröffenlichte die Zeitung Noticias de Oaxaca Bilder des 43-jährigen Lehrers Emeriterio Cruz Vázquez, der nach seiner Festnahme so schwer misshandelt wurde, dass er seither im Koma liegt. Die Stimmung in Oaxaca beruhigte sich in den folgenden Tagen kaum: Polizei und paramilitärische Einheiten patrouillierten in den Straßen, APPO und die LehrerInnengewerkschaft SNTE berichteten von weiteren Verhaftungen an den folgenden Abenden. Mehrere tausend Menschen zogen in einem Trauermarsch durch die Stadt, der Zócalo blieb besetzt, ein militärischer Sperrgürtel schloss sich um den Hügel Fortín, wo die offizielle Guelaguetza stattfinden sollte. Oaxaca befand sich, wie ein Jahr zuvor, im Belagerungszustand.
Die Guelaguetza fand tatsächlich statt – trotz der mehrmaligen Versuche von APPO und SNTE, mit Blockaden die Zufahrtwege zu sperren. Doch es war mehr Farce als Fest: Da aus der Bevölkerung kaum jemand zur Guelaguetza kam, verteilte die Regierung kostenlose Karten an ihre Angestellten, im weißen Hemd sollten sie kommen und die Kinder zu Hause lassen. In der Stadt spottete man über die „guelaguetza de los burócratas“, das Volksfest der Staatsangestellten. Um die Situation zu entspannen, ließ Ruiz Ortiz vor den geplanten Blockaden am letzten Montag der Guelaguetza, dem 30. Juli, mehrere Gefangene frei. Die Demonstrationen am 30. Juli verliefen daraufhin weitgehend friedlich.
Harte Worte kamen wenige Tage später von der internationalen Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Deren Generalsekretärin, Irene Khan, reiste Anfang August eine Woche durch Mexiko – auch um einen Report über die Menschenrechtsverletzungen vorzustellen, die in Oaxaca zwischen Juli 2006 und Januar 2007 begangen worden sind. Folter und Misshandlungen seien in Mexiko an der Tagesordnung, ebenso wie willkürliche Verhaftungen und ungerechte Verfahren, heißt es in dem Bericht. Nach einem Treffen mit Ulises Ruiz sagte Khan, sie sei sicher, dass dessen Regierung den Konflikt in Oaxaca nicht lösen werde. „Ich kann klar sagen, dass wir kein Vertrauen in diese Regierenden haben“, sagte Khan, „wir glauben weder, dass sie die begangenen Menschenrechtsverletzungen aufklären werden, noch dass sie etwas gegen die herrschende Straflosigkeit in diesen Fällen unternehmen.“ Auch von Präsident Felipe Calderón zeigte sie sich enttäuscht. Im letzten November noch hatte sein Vorgänger und Parteifreund Vicente Fox das Militär nach Oaxaca geschickt, um den Aufstand niederzuschlagen. Ruiz gehört nicht wie Fox und Calderón der Partei der Nationalen Aktion (PAN) an, sondern der Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die über 70 Jahre lang Mexiko regierte, bis sie 2000 abgewählt wurde. Aber die PAN benötigt die PRI als Mehrheitsbeschafferin im Parlament. So stellte sich Calderón beim jetzigen Wiederaufflammen der Proteste zwar nicht hinter Ulises Ruiz, kritisierte dessen Verhalten aber auch nicht. Stattdessen betonte er, der Konflikt sei Ländersache und gehe die Bundesregierung nichts an. Dasselbe Argument hat er wohl auch gegenüber Amnesty-Chefin Khan angebracht – der mexikanische Föderalismus verbiete ihm, in Oaxaca etwas für die Menschenrechte zu tun. Die wies das entschieden zurück: „Schizophren“ sei die Politik Mexikos, was die Menschenrechte betreffe.

Am Sonntag, den 5. August, fanden in Oaxaca die Lokalwahlen statt. Die APPO hatte zu einer „Protestwahl“ aufgerufen, um die PRI des Gouverneurs Ruiz abzustrafen. Ob man dazu die oppositionelle Revolutionär-Demokratische Partei (PRD) unterstützen sollte, wurde kontrovers diskutiert. Was der Großteil der Bevölkerung von PRD, PRI und den sonstigen Parteien hielt, die zur Wahl standen, zeigte die Auszählung: Gerade einmal 35 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Wahl. Dass 65 Prozent sich enthalten, kommt bei Lokalwahlen häufig vor. Angesichts der hochpolitischen Stimmung in Oaxaca und der Aufrufe, mit der Wahl Ruiz abzustrafen, ist die geringe Wahlbeteilung allerdings ein Rätsel. Die PRI bleibt an der Macht, auch die PAN hat gewonnen und spricht angesicht der Wahlenthaltung der APPO-Anhänger von einem „rückständigen Volk“. Ähnliches lässt die PRD verlauten, enttäuscht von ihren Verlusten: Die APPO sei eine „Bewegung von Vorkämpfern und Aktivisten, die zum Schaden der Bürger und Wähler“ agiere. „Ein Rätsel“, schreibt auch die mexikanische Tageszeitung La Jornada noch am 13. August. Aber ein Rätsel, das sich leicht lösen lasse, wenn man sich die Reaktionen der Parteien ansehe. Die Menschen in Oaxaca wüssten nur zu gut, dass Gesetze nichts zählen und dass alle gewählten PolitikerInnen im letzten Jahr Ruiz unterstützten. Während sie in den Volksversammlungen, den traditionellen Formen indigener Organisation stetig Erfahrungen wirklicher Demokratie machten, sei „die repräsentative Demokratie für die Menschen in Oaxaca nur eine kostspielige Form politischer Kontrolle, mafiös benutzt, um einer kleinen Gruppe Priviligierter Macht und Straflosigkeit zu sichern“.

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