Chile | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Das Schlechte vom Guten

Zur Krise der Nichtregierungsorganisationen (NROs) in Chile

Die Investitionen aus den reichen Ländern des Nordens für NRO-Projekte haben sich zwar in den letzten zwanzig Jahren versiebenfacht (siehe Kasten). Dennoch sind die NROs Chiles durchweg alle in finanziellen Nöten und mehr oder weniger in der Krise. Neben den allgemeinen strukturellen Gründen gibt es dafür in Chile spezielle Gründe, die im folgenden Artikel zusammengefaßt werden.

Holde Pinnow

Jedes Gute hat ja leider immer auch sein Schlechtes. Die “geschützte Demokratie ” in Chile, die 1990 die Diktatur ablöste, bedeutet für die NROs, die in diesem Land tätig sind, eine deutliche Einschränkung ihrer (finanziellen) Möglichkeiten.
Während der Diktatur waren es die NROs, und in besonderem Maße die Kirchen gewesen, die fast sämtliche fortschrittlichen sozialen und politischen Bewegungen ermöglichten und finanziell über Wasser hielten. Ohne sie hätten weder Sozialarbeit noch Menschenrechtsgruppen noch Umweltprojekte oder Selbsthilfegruppen oder andere Initiativen existieren können.
1990 übernahm das breite Bündnis der concertación die Führung des Landes. Damit begann eine grundsätzlich neue Phase im Bereich der Projekte.

Das Ende der Vicaría de la Solidaridad

Bezeichnendes Beispiel für die einschneidende Veränderung ist die Auflösung der Vicaría de la Solidaridad zum Ende des Jahres 1992. Über Jahre hatte die Vicaría für die Menschenrechte in Chile gekämpft, Archive angelegt, Rechtsbeistand gegeben, Verfolgten geholfen, war Anlauf- und Sammelpunkt für alle Menschenrechtsfragen und Refugium für Verfolgte gewesen, hatte selbst Verfolgung, Schikanen, Durchsuchungen und weitere Repressalien durchgestanden. Nun ist sie aufgelöst worden. Ein Grund hierfür ist die Wende zum (noch mehr) Konservativen in der katholischen Kirche Chiles, der die Vicaría unterstellt war. Der andere Grund aber, und in der offiziellen Begründung für die Auflösung wurde das so erklärt, war die Auffassung, daß sie ja nun ihre Aufgabe erfüllt habe und in der Demokratie nicht mehr erforderlich sei. Die Archive allerdings werden an anderer Stelle weitergeführt.

Staatliche Institutionen in Konkurrenz zu den NROs

Hier sind wir bei einem der wichtigsten Gründe für die Schwierigkeiten der NROs, weiterzuexistieren. Sowohl im Ausland, wo Chile ohnehin keine “Konjunktur” mehr hat, “aus der Mode” ist und deshalb die Gelder wesentlich weniger fließen als zuvor, als auch in Chile selbst ist man der – an sich ja richtigen – Meinung, der Staat habe nun selbst für sein Volk zu sorgen. Daß er dies nicht tut, und eine konservative Aylwin-Regierung noch weniger, ist eine Binsenweisheit.
Dazu kommt aber noch, daß eine ganz erhebliche Anzahl ehemaliger NRO-MitarbeiterInnen, ehemaliger Exilierter und ehemaliger Oppositioneller nun Posten in der Regierung, den Ministerien, den neuen Gemeindeverwaltungen und anderen Ämtern einnehmen (viele von ihnen übrigens auf Honorarbasis und ohne Arbeitsvertrag, weil auf den Planstellen noch die Pinochet-Leute sitzen. die zwar nichts mehr tun, aber gerne weiter die Gehälter einstreichen). Logisch, daß die “Sachzwänge” eines offiziellen Postens, die Aussicht auf Karriere und die “Kompromißbereitschaft” in der Koalitionsregierung die neuen Leute nicht gerade flexibel und erneuerungswillig machen, auch wenn dieselben Leute früher in den Projekten ausgezeichnete Arbeit geleistet haben.
Und natürlich sind diese Leute der Ansicht, die bisher illegalen oder halb legalen Organisationen sollen sich auch im System integrieren und die Gelder aus dem Ausland sollen so nun ihrer Arbeit in den staatlichen oder staatsnahen Institutionen zugutekommen. Was zu einer unguten Konkurrenzsituationen zwischen NROs und Behörden führt und in aller Regel dazu, daß dabei allerlei Geldquellen durch die Querelen verlorengehen.
In einzelnen Fällen soll es sogar so weit gekommen sein, daß Behörden Projekte behindern, ihnen positive Gutachten, Bauerlaubnis oder andere Unterstützung versagen in der Hoffnung, dann selbst die Projekte an sich ziehen und übernehmen zu können, das Geld aus dem Ausland zu bekommen. Was aber meist ein Irrtum ist.

Der Schwung ist raus

Viele bisherige GeldgeberInnen und SpenderInnen sind nicht der Ansicht, es sei ihre Aufgabe, diese Regierung zu finanzieren. Im übrigen bietet der Boom in der chilenischen Wirtschaft Anlaß zu der (irrigen) Ansicht, daß nun Projekthilfe für Chile nicht mehr so dringend erforderlich sei.
Daß all dies auf die Stimmung, Arbeitslust und Motivation der Projekte einwirkt, ist klar. Dazu kommt, nach dem Ende der Diktatur, nachdem große Hoffnungen zunächst in Resignation umgeschlagen waren, eine durchaus im Trend dieser Welt liegende, sich auch in Chile immer mehr ausbreitendende Auffassung, daß jede/r es allein schaffen kann, wenn er oder sie nur tüchtig genug ist. Der Boom hat Arbeitsplätze geschaffen; viele, die lange arbeitslos waren, bekamen nun einen Job, und das sind schlechte Zeiten für solidarische gemeinsame Arbeit, Nachbarschaftsprojekte und Initiativen, die weiter blicken als bis zur nächsten Lohnzahlung. Trotzdem machen aber viele – wenn auch weniger als früher – weiter.

Zum Beispiel: El Canelo de Nos

So gut wie alle NROs funktionieren ja nach ähnlichen Prinzipien und Mustern, unterscheiden sich vor allem durch ihre Arbeitsschwerpunkte. Doch viele Arbeitsbereiche sind ihnen gemeinsam: die Frauenarbeit, die Selbsthilfegruppen, die Bildungsarbeit. Das pädagogische Konzept ist Selbsttätigkeit der TeilnehmerInnen, der praktische Zweck die Schaffung den Lebensbedingungen angepaßter einfacher Technologien. Ebenso gemeinsam haben NROs ihre Geldquellen im Ausland, und je weniger diese sprudeln, umso schärfer wird der Kampf um sie.
Eine der in Chile bekanntesten nichtkirchlichen NROs ist El Canelo de Nos, benannt nach dem Canelo-Baum, der in der Mapuche-Kultur eine wichtige Funktion hat. Angesiedelt ist die Organisation in Nos, einem Ort im Süden Santiagos, wo El Canelo über ein großes Gelände und einen hellen modernen Gebäudekomplex verfügt. Neben den oben genannten Arbeitsschwerpunkten leistet El Canelo vor allem Fort- und Weiterbildungsarbeit für LandarbeiterInnen und BäuerInnen zur Selbstversorgung, Herstellung einfacher Arbeitsgeräte, juristischen Fragen, alternativen Technologien.
Die Zeitschrift “El Canelo” erscheint monatlich. Ihr Untertitel lautet “por una sociedad ecológica”, was ihr Programm klar macht. Jährlich organisiert El Canelo eine Ausstellung alternativer Technologien und Energiequellen, dieses Jahr im März wurde sie von Präsident Aylwin persönlich eröffnet.
El Canelo hat es besser als viele andere NROs geschafft, sich die (ausländischen) Geldquellen auch für die nächsten Jahre zu sichern und seine Arbeit zu konsolidieren. Aber die Zahl der MitarbeiterInnen ist sei dem Beginn der Demokratie von achzig auf vierzig gesunken. “Von den anderen arbeiten jetzt viele in Ministerien und Gemeindeverwaltungen”, teilt mir der Leiter des Canelo, German Appel, mit. El Canelo hält enge Verbindung zu vielen offiziellen Stellen. Zum Beispiel werden auch Sendungen für das chilenische Fernsehen produziert.
Es ist für uns an der Zeit zu begreifen, daß die NROs in Chile nicht mehr subversive Oppositionsgruppen organisieren, sondern “alle gemeinsam”, wie der Slogan der Concertación lautete, am wirtschaftlichen Aufbau des Landes arbeiten.

Kasten:

Der Höhenflug der Nicht-Regierungsorganisationen

Die NROs blühen. 1990 arbeiteten etwa 500 NROs in den Entwicklungsländern in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Umwelt, Menschenrechte, und ihre Budgets wachsen jedes Jahr. 1970 hat die nördliche Erdhälfte eine Milliarde Dollar für ihre Entwicklung ausgegeben, zwanzig Jahre später ist der Betrag auf 7,2 Milliarden angestiegen.
Mit welchen Ergebnissen? Hat sich der Lebensstandard der Armen verbessert? Der Entwicklungsbericht der UNO für 1993 hütet sich wohlweislich davor, diese Frage klar zu beantworten. “Es scheint, daß sogar die Bevölkerungen, für die erfolgreiche Programme durchgeführt wurden, arm geblieben sind”, wie der Bericht vorsichtig formuliert. Ob es sich darum handelt, Armen Kredite einzuräumen – ein Risiko, das die traditionellen Banken nicht eingehen – ,die Ärmsten unter den Armen, die von den Regierungen unbeachtet bleiben, zu unterstützen, den Randexistenzen zu Selbständigkeit zu verhelfen: in allen Fällen ist die Bilanz der NROs widersprüchlich. Oft waren die Erfolge nur von kurzer Dauer oder oberflächlich. So schreiben die Experten der UNO zum Thema der Aktivitäten zur Aufhebung der Diskriminierung der Frauen: “In einigen Fällen haben die Versuche, die Geschlechterdiskriminierung innerhalb der Projekte zum Thema zu machen, den Frauen wenige Vorteile gebracht. In anderen Fällen wurden die Erfolge der Projekte durch stärkere soziale Kräfte zunichtegemacht.”
Es bleibt ein Bereich, in dem die NROs unersetzlich sind; die Katastrophenhilfe. Hungersnot, Krieg, Erdbeben: wenn es darum geht, schnell einzugreifen, haben die NROs die Fähigkeit, “schnell und wirksam” zu handeln.

Jean-Pierre Tuquoi, Le Monde 28.5.93

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