Mexiko | Nummer 283 - Januar 1998

Der Himmel über Almoloya

In Mexiko verschwimmen die Grenzen zwischen Telenovela und politischer Realität

Robert Dettmering

Als im Jahre 1940 in der „Galeria de Arte“ in Mexiko-Stadt eine umfangreiche Surrealismusausstellung stattfand, war auch André Breton, der Verfasser des Surrealistischen Manifestes, anwesend. Nach dem Besuch gab er sein berühmt gewordenes Urteil ab: „Mexiko ist ein surrealistisches Land.“
Nun kann man zu diesem Diktum durchaus unterschiedliche Auffassungen vertreten, fest steht aber, daß das Land immer schon die Phantasie beflügelte und Träume erweckte. So ist es kein Zufall, daß der große kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez inzwischen fast gänzlich nach Mexiko umgesiedelt ist. Verglichen mit dem „ganz normaler Alltag“, wirken die Romane des Meisters aber beinahe wie nüchterne Reportagen aus seinen frühen Jahren. Die mexikanische Realität übertrifft indes das schriftstellerisch Darstellbare oft bei weitem. Kaum ein Monat vergeht, ohne daß die Öffentlichkeit mit einem Skandal von geradezu prosaischen Ausmaßen erschüttert würde.
Der/die Durchschnittsmexikaner/in ist einiges gewöhnt und hat notwendigerweise gegenüber den täglichen Enthüllungen durch die unabhängige Presse eine immer dickere Haut entwickelt, und so finden nur die Wenigsten noch die Energie, die Machenschaften der Regierenden mit mehr als einem Kopfschütteln zu quittieren. Für den einen oder anderen mag ein gewisser Unterhaltungswert mitspielen: Das reale politische Theater übertrifft an Absurdität und Widerwärtigkeit immer häufiger das, was die ohnehin schon lebensfremden Soap-Operas im Fernsehen ihren geduldigen Zuschauern zuzumuten wagen.

Mit der Kristallkugel auf Leichenjagd

Als im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem, natürlich niemals aufgeklärten, politischen Mord an Francisco Ruiz Massieu – lange Zeit einer der Macher in der Salinas-Clique – der damalige beauftragte Staatsanwalt Chapa Bezanilla eine Seherin anheuerte, damit diese ihn zur Leiche des Ermordeten führe, gruselte es dem mexikanischen Publikum ganz nach dem Motto: Was wird die nächste Folge bringen? Und als ebendiese Seherin, „La Paca“, nach eingehender spiritueller Sitzung inklusive Kristallkugel den Staatsanwalt zur Finca „El Encanto“ (zu Deutsch: Zauber, Entzücken!!!) führte, die Raul Salinas dem Bruder des Ex-Präsidenten Carlos Salinas gehört (Raul sitzt gegenwärtig im Hochsicherheitsgefängnis Almoloya), wo dann bei Grabungen auch prompt ein Schädel und verschiedene andere Knochen gefunden wurden, verstummte kurzzeitig jegliche Kritik an den zweifelhaften Methoden, derer sich die Staatsanwaltschaft bediente. Schließlich hatte die Magie doch funktioniert!
Am Ende gehörte der gefundene Schädel allerdings nicht zum Ermordeten, einer der Knochen stammte von einem Hund und überhaupt kam heraus, daß Chapa Bezanilla der „Paca“ einen größeren Dollarbetrag bezahlt hatte, damit sie mit ihm gemeinsam dieses Theater zur weiteren Belastung Raul Salinas aufführte. Die „Paca“ landete daraufhin selbst bei Letzterem im Hochsicherheitsgefängis. Chapa Benzanilla gehört nach einer kurzen Flucht nach Spanien nun ebenfalls zur illustren – und rasch anwachsenden – Gesellschaft von Almoloya.

Von Generälen und anderen Drogenhändlern

Die mexikanische Öffentlichkeit hatte sich noch nicht von diesem Thriller erholt, als die Zeitungen auch schon den nächsten Publikumsschlager präsentierten. Das dankbare Thema: Die Drogenmafia. Nun ist das Ausmaß der mexikanischen Verwicklung in den internationalen Drogenhandel vielen geläufig und die Komplizenschaften hochrangiger Politiker ist ein offenes Geheimnis.
Wenn aber die letzte angeblich korruptionsimmune Institution, das mexikanische Militär, und zwar bis in die obersten Ränge darin verwickelt ist, dann setzt das doch noch einmal neue Maßstäbe. Wenige Wochen vor der gefürchteten „Zertifizierung“ durch den übermächtigen Handelspartner im Norden wurde der hochrangige Militär und Sonderbevollmächtigte der, inzwischen aufgelösten, INCD (Nationale Drogenbekämpfungsbehörde) General Jesús Gutiérrez Rebollo der Komplizenschaft mit der mexikanischen Drogenmafia überführt. Ausgerechnet der wichtigste Drogenfahnder machte gemeinsame Sache mit dem berüchtigten Amado Carrillo – dem „Herr der Himmel“ – der das mächtigste Drogenkartell Mexikos, das Kartell von Juarez kontrollierte.
In dessen Auftrag, wie man inzwischen weiß, informierten Rebollo und seine uniformierten Spießgesellen – darunter verschiedene andere hochrangige Militärs – den „Herrn der Himmel“ nicht nur rechtzeitig über alle Bewegungen der nationalen, sowie der US-amerikanischen Drogenpolizei (DEA). Darüber hinaus wurden die Mitglieder anderer Drogenkartelle, wie des Kartells der Gebrüder Arrellano Felix aus Tijuana, gezielt durch Angehörige der Bundesarmee gefoltert und ermordet, um die lästige Konkurrenz auf lange Sicht loszuwerden. Um die Wogen zu glätten, den Ruf des Militärs, sowie die gefährdete „Zertifizierung“ zu retten, wurden eilig ein paar Verantwortliche gesucht und der General Gutiérrez Rebollo vergrößerte den Inhaftierten-Reigen in Almoloya.

Einbetonierte Chirurgen

Drogenboß Amado Carrillo hat nach der Affäre um seinen Komplizen anscheinend kalte Füße bekommen. Er entschloß sich zu einer gründlichen Gesichtsoperation, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Der „Herr der Himmel“ wollte sich pünktlich zur geplanten Verlagerung seiner Aktivitäten nach Chile eine neue Persönlichkeit zulegen. Einer der drei eigens herangekarrten Ärzte seines Vertrauens verabreichte ihm allerdings nach erfolgreicher Operation ein kontra-indiziertes Schlafmittel, das ihn nicht in die erwarteten Traumwelten, sondern etwas weiter, nämlich direkt ins Jenseits beförderte. Ob ihm der zuständige Arzt nun versehentlich oder mit Absicht das Lebenslicht ausblies, wird die Nachwelt freilich nie erfahren, nachdem Anfang November die drei „Ärzte des Vertrauens“ in Beton eingegossen und somit für etwaige Befragungen zu spät aufgefunden wurden – als Obelisken an einer Landstraße.
Durch das plötzliche Dahinscheiden des „Herrn im Himmel“ wie die Mexikaner seither witzeln und die damit einsetzenden Streitigkeiten innerhalb des „Kartells von Juarez“ kamen nun aber auch wieder ein paar Geheimnisse ans Licht, die für die Regierung und das Heer überaus peinlich sind: Amado Carrillo stand nicht nur mit General Rebollo und dessen Getreuen in Kontakt, sondern auch mit anderen Funktionären der Streitkräfte, sowie verschiedenen Regierungsmitgliedern. Der Deal, den Amado Carrillo der Regierung vorgeschlagen hatte: Weitreichende Kooperation bei der Zerschlagung der anderen Drogenkartelle und dafür vorübergehende Verschonung seiner Organisation. Gegenüber solch finsterer Machenschaften in der Realität wirkt die parallel angelaufene Telenovela „Zuviel Herz“, die im Milieu der Drogenmafia spielt nun aber wirklich rührend konventionell und phantasielos und auch jener Zuschauer, der es bislang aus Faulheit nicht tat, wird statt ihrer nun doch in Zukunft die Nachrichten einschalten. Die sind mit Sicherheit unterhaltsamer und haben auch noch den Vorteil, zeitgemäßen „Reality-TV“ zu bieten. Ob es sich nun um die hier erwähnten Skandale handelt – eine eher zufällig getroffene Auswahl – oder um andere.

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