Belize | Nummer 330 - Dezember 2001

Der Kampf um eine fast vergessene Kultur

Interview mit Andy Palacio, Punta Rock-Star aus Belize über die Kultur der Garífuna in Belize, Nicaragua, St. Vincent und den USA

Andy Palacio trat am 18. August zusammen mit der Garífuna All Star Band im Rahmen der Heimatklänge im Tempodrom auf. Er ist ein führender Vertreter der Garífuna Kultur und kämpft mit seiner Arbeit und Musik für den Erhalt dieser einzigartigen Kultur.

Helga Woggon

Am 15.November 2001 wurde in Dangriga die UNESCO-Erklärung gefeiert, wonach Sprache, Musik und Tanz der Garífuna zu den „Meisterwerken des oralen und immateriellen Erbes der Menschheit“ gehören. Das war ein Erfolg der Arbeit von Roy Cayetano und Andy Palacio im Ministerium für ländliche Entwicklung und Kultur von Belize. Beide sind führende Vertreter der Garífuna-Kultur, Cayetano als Präsident des National Garífuna Council of Belize, Palacio als Star des Punta Rock. Mitte der 70er-Jahre begannen Pen Cayetano und die Turtle Shell Band, die traditionelle Musik der Garífuna im Punta Rock zu modernisieren. Andy Palacio perfektionierte diese Musikrichtung und gab mit seinen Erfolgen entscheidende Impulse für die heutige Vitalität der Sprache und Kultur der Garífuna.
Den Anstoß für seine Karriere fand er in Orinoco an der Atlantikküste Nicaraguas, wo er 1980 als 19-jähriger Student freiwilliger Berater in einer Alphabetisierungskampagne war. Dort lebten seit 1888 einige Tausend Garífuna aus Honduras unbeachtet von den Regierungen in Managua. Ihre Sprache war den jungen Garífuna fremd geworden. Andy Palacio gehört zu den wenigen Garífuna, die die Heimat ihrer Vorfahren, die Karibikinsel St. Vincent, besuchten. Dorthin rettete sich Mitte des 17.Jahrhunderts eine Gruppe Westafrikaner von gestrandeten Sklavenschiffen, wo sie sich mit den letzten karibischen Indígenas zu den Garífuna vermischten. Sie bekämpften die Kolonialherrscher 150 Jahre lang, wurden aber nach dem Tod ihres Führers Joseph Chatoye 1797 von den Engländern nach Roatán am anderen Ende der Karibik deportiert. Sie besiedelten die Atlantikküste Mittelamerikas und kamen 1802 nach Belize. Im 20. Jahrhundert setzten sich die Garífuna-Emigranten in den USA sehr aktiv für ihre Rechte als ethnische und kulturelle Minderheit ein. St. Vincent oder Yurumein, wie es in Garífuna heißt, ist bis heute ein traumhaftes Symbol der kulturellen Identität für die Garífuna, dem jede Band mindestens einen Song widmet.

Betrachtest du dich selber als Botschafter von Yurumein?

Nein, wenn dann wäre ich ein Botschafter der Garífuna-Kultur, ein Botschafter für Belize. Die Zeit hat mich ja nicht nach Yurumein, sondern an einen anderen Ort verschlagen. Yurumein ist heute nur noch ein Symbol, eine Sehnsucht, ein Traum. Fast kein Garífuna ist jemals dort gewesen. Für mich ist der Traum wahr geworden. Ich war in Yurumein – zwei Mal. Dort wurde mir klar, dass unsere Vertreibung aus Yurumein, wo nichts von der Kultur der Garífuna übrig geblieben ist, eigentlich ein Segen war. Dadurch konnte sich unsere Kultur an einem anderen Ort wieder regenerieren und Kraft schöpfen. Und jetzt, im neuen Jahrtausend, sind wir immer noch da, stärker als je zuvor.

Ist die Garífuna-Kultur in deinen Augen in den letzten 20 Jahren wieder lebendiger geworden?

Das kommt darauf an, welchen Aspekt der Kultur man betrachtet. Die Tradition wird schwächer, aber die Kultur überlebt. Es ist einerseits schade, wenn Traditionen verschwinden, aber auf der anderen Seite muss die Kultur mit der Zeit gehen. Das Wesentliche für das Fortbestehen der Garífuna Kultur ist, was eine Garífuna-Person fühlt und denkt. Dieses Etwas, was einem oder einer Garífuna sagt, dass er oder sie lieber Garífuna ist als alles andere auf der Welt. Das ist es, wovon wir reden, wenn wir vom Überleben der Kultur sprechen. Ob diese Person die Sprache sprechen kann, ob eine Frau noch Cassava-Brot backen kann, ist zweitrangig. Wenn sie promoviert ist und trotzdem lieber Garífuna sein will als alles andere, obwohl sie kein Cassava-Brot backen kann, dann ist das kulturelle Überleben garantiert.

Garífuna als Unterrichtssprache in Grundschulen gibt es, so weit ich weiß, nur in New York City. Hat die Aktivität der Garífuna-Emigranten in den USA die Entwicklung in Mittelamerika beeinflusst?

Unsere Arbeit in Belize war weitgehend hausgemacht. Wir haben eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich dann im Rest von Zentralamerika und in den USA fortgesetzt hat.Die Bronx, wo Garífuna-Gemeinden aus Belize, Honduras und Guatemala zusammentreffen, wurde zum Zentrum dieser Aktivitäten.
Durch ihre aktive Beteiligung am Leben der Stadt konnten sie Aktionen zu Gunsten von Minderheiten ausnutzen und Forderungen durchsetzen. Das ist ein Nebenprodukt dessen, was wir in Belize begonnen haben. Die Kultur hatten wir immer im eigenen Land. Was uns fehlt, ist die Industrie, die die USA zu bieten haben: Festivals, Aufnahmestudios, Labels, Produzenten. Aber das Produkt haben wir.

Der kulturelle Einfluss der Garífuna auf ihre Umgebung ist oft sehr groß, obwohl ihr zahlenmäßiger Anteil an der Bevölkerung klein ist. Warum?

Ich glaube, weil wir unsere Kultur wirklich im Alltag leben. Musik durchdringt jeden Aspekt unseres Lebens. Es gibt Musik für jede Situation. Das ist bei uns vielleicht ausgeprägter als in anderen Kulturen. Die Trommeln müssen etwas sehr Fesselndes haben. Besonders andere afrikanische Völker werden dadurch an Dinge erinnert, die sie verloren haben. Wir bringen sie wieder mit sich selbst in Verbindung. Aber vielleicht kommt der Erfolg auch daher, dass wir feiern.
Auch wenn jemand stirbt, feiern wir den Tod als Teil des Lebens. Jedoch sind wir miserable Geschäftsleute. Wir machen zwar die Songs, aber andere haben das Label. Ich weiß nicht, ob wir je in der Kulturindustrie vertreten sein werden. Es geht uns wie den Basketballern in den USA. In jedem Spiel sind viele afro-amerikanische Spieler, aber die afrikanischen Amerikaner besitzen keine NBA-Anteile, sie sind nur die Spieler.

Aber liegt denn darin nicht auch die Stärke der Garífuna-Musik? Würde die Musik durch den Geschäftsaspekt nicht an Originalität verlieren?

Ja, diese Gefahr besteht. Solange die Musik ein Teil von uns bleibt, und nicht etwas Fremdes oder etwas, das ausschließlich für Hotels und den Tourismus maßgeschneidert wird, solange bewahren wir ihre Authentizität.

1979 warst du als Freiwilliger für eine Alphabetisierungskampagne in den indigenen Gebieten der Atlantikküste in Nicaragua. War die Alphabetisierung in Spanisch oder in Garífuna?

In Englisch. Die sandinistische Regierung wusste nicht mal, dass in Nicaragua Garífuna leben. Sie dachten, dass alle Schwarzen an der Atlantikküste von westindischen, jamaikanischen Bananenarbeitern abstammen und Englisch sprechen. Die Garífuna waren in der ganzen Somoza-Zeit ignoriert worden. Sie wurden nie als Gruppe anerkannt, bis ich nach Nicaragua kam.

Dann war es dein Einfluss, dass die sandinistische Verfassung Nicaraguas von 1987 zum ersten Mal die Rechte aller ethnischen Gruppen der Atlantikküste anerkannte, einschließlich der Garífuna?

Das war eine direkte Folge davon. Einmal war eine Delegation aus Bluefields in Orinoco. Der Comandante sprach die Leute bei einer öffentlichen Versammlung an mit „Ustedes los criollos de la Costa Atlántica“ (ihr Creoles der Atlantikküste). Nach der Rede stand ich auf, ich war damals 19, bat den Comandante um Nachsicht und wies ihn darauf hin, dass er die Leute versehentlich als Kreolen angeredet hatte, wo sie doch eine eigene ethnische Gruppe namens Garífuna sind und eine eigene Sprache haben. Er war völlig verwirrt und beauftragte die Journalisten von Barricada und Radio Sandino, die ihn begleiteten, mich zu interviewen. Am schlimmsten jedoch fand ich, dass die Leute sich selbst nicht Garífuna nannten. Die englischsprachigen Schwarzen bezeichnen uns mit dem abwertenden Begriff „Carib“. Und die Garífuna sagen selbst: „We are Caribs – wir sind Caribs“. Ich musste sie immer wieder korrigieren: „Nein, wir sind Garífuna.“ Keiner in meinem Alter konnte ein Wort Garífuna. Die Leute über 50 konnten ein paar Sätze und Ausdrücke. Nur ein paar alte Damen in Justo Point sprachen fließend Garífuna. Einmal hielten sie ein Dugu (Heilungszeremonie) ab und nicht einmal der Buyey (Priester) konnte Garífuna sprechen. Das zeigt, dass die Garífuna in Nicaragua ihre eigene Kultur vergessen haben.

Ich wusste nicht, dass der Begriff „Carib“ abwertend ist. kannst du das erklären?

„Carib“ an sich ist nicht abwertend. Aber wir sind keine „Caribs“. Die Historiker bezeichnen uns als „Black Caribs“, aber wir sind Garífuna. Und was heißt Garífuna auf Englisch? Es heißt Garífuna. In jeder Sprache heißt es Garífuna. Aber wenn die Creoles und andere, die nicht Garífuna sind, uns Caribs nennen, dann ist das abwertend gemeint. Sie sprechen es aus wie „Carüb“ oder „Carübi“. Und dass sich mein Volk in Nicaragua selbst so nennt, fand ich entsetzlich. Man bat mich dann, einen Plan für die Wiederbelebung der Garífuna-Kultur zu entwerfen. Den reichte ich beim Education Office in Bluefields ein, bevor ich 1981 abreiste. Danach sollte eine Gruppe von uns eine Zeit lang nach Orinoco eingeladen werden und Sprache, Musik und andere Aspekte der Kultur, die verloren gegangen waren, unterrichten.

Was ist aus dem Projekt geworden?

Ich habe nie wieder etwas davon gehört. Trotzdem krempelten die Ereignisse in Nicaragua mein Leben völlig um. Für mich war klar, dass eine solche Erosion der Garífuna-Kultur in Belize nicht passieren dürfe. Es galt sofort zu handeln, damit es in Belize in 50 Jahren nicht genauso aussehen würde wie in Nicaragua. Ich lernte damals in Orinoco Mr. López und einige andere Leute kennen. Mr. López war einer der wenigen in Nicaragua, der noch Garífuna sprach und er war völlig überwältigt, als ich ihn auf Garífuna begrüßte. Er starrte mich an und konnte nur sagen: „Bináo sanáo? Ist das wirklich wahr?“ „Ja, es ist wahr“, sagte ich, „ich bin auch Garífuna wie Sie“. Und er umarmte mich und wollte mich gar nicht wieder loslassen. Das war ein sehr bewegender Moment. Danach lebte ich 6 Monate bei diesen Leuten. Sie haben mich bis heute nicht vergessen und warten darauf, dass ich sie besuche. Als dann der Krieg der Contras eskalierte, wollte ich nicht zurück und mein Leben riskieren. Jetzt sind schon über 20 Jahre vergangen. Aber zu den Jahrestagungen des National Garífuna Council of Belize kommen auch Delegierte aus Nicaragua. In diesem Jahr waren Delegierte da, die hatten meinen Namen von ihren Eltern gehört. Sie waren gerade Mitte zwanzig, das heißt, sie waren noch Babys als ich in Nicaragua war. Nicaragua interessiert mich immer noch sehr. Es kommt mir so vor, als hätte ich die Menschen im Stich gelassen, weil ich nicht wieder hingefahren bin. Ich möchte sie bald besuchen.

Also hat Nicaragua dich zum Aktivisten für die Garífuna-Kultur gemacht?

Ja. Ich hatte dann in Belize jeden Sonntagnachmittag eine Radio Show, die Garífuna Half Hour. Da spielte ich Punta Rock von Pen Cayetano und der Turtle Shell Band. Ich wollte die jungen Leute begeistern und bald hatte ich eine riesige Fangemeinde.

Wie hast du angefangen selber Punta Musik zu machen?

Ich war stark beeinflusst von Pen Cayetano und der Turtle Shell Band. Sie hatten einen Musikstil entwickelt, der die Garífuna-Trommeln mit elektrischer Gitarre und improvisierter Turtle Shell Percussion vermischte. Sie arrangierten ihre Songs in moderner Form zu diesem antreibenden Beat der Garífuna-Trommeln und sangen über Alltagsthemen. Und über den Stolz auf die eigene Identität. „Schämt euch nicht“, oder „Seid stolz“. In einem Song von Mohobob sagt er, „Verkaufe dein Land um nichts in der Welt, auch wenn du verschmachtest und hungerst.“ Mit dem Rhythmus brachten sie eine Botschaft rüber, das gefiel mir. Ich wollte zur Bewegung des Punta Rock beitragen: Energie, ein größeres Repertoire und ernstere Themen. Darum begann ich Garífuna-Songs zu komponieren, mit einer Botschaft und einem attraktiven Rhythmus für die Jugend. Zum Glück hat meine Musik alle Altersgruppen erreicht. Man sah im Punta Rock einen modernen Ableger der traditionellen Garífuna-Musik.

Hat deine Punta Rock-Variation der traditionellen Musik die Jugend wieder für ihre Kultur und Sprache interessiert?

Es war eines meiner Hauptanliegen, die Sprache in ein zeitgenössisches Medium zu fassen, das sich einfach und mit Genuss konsumieren lässt. Ich will der Jugend Stolz auf ihre Identität vermitteln . Wenn sie sich mit der Kunstform identifizieren, sind sie auch stolz auf unsere Erfolge und fühlen sich als Teil der Entwicklung. Und wenn sie die Musik zu Hause, im Auto und im Radio immer wieder hören, lernen sie die Texte und können an Veranstaltungen der Garífuna-Gemeinschaft aktiv teilnehmen. Die Songs der Paranda CD wurden zum aktiven Repertoire bei diesen Events. Das ist Lernen durch Musik und damit habe ich großen Erfolg.

Wie sehen die Zukunftspläne aus?

Das Wichtigste ist, dass wir so viel wie möglich dokumentieren, Informationen sammeln, solange sie noch da sind. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Jugend weiterhin die Kultur und Tradition der Garífuna „cool“ findet und sich mit ihr identifizieren will. Auch wenn die Garífuna der heutigen Generation sich nicht für unsere Kultur interessieren, vielleicht werden ihre Kinder und Kindeskinder sich eines Tages wieder dafür interessieren. Und dann haben wir ihnen wenigstens etwas hinterlassen. Das ist das Beste, was wir tun können. Einige Dinge können wir nur in Reinform bewahren, zum Beispiel einige Arten von Musik wie die a capella-Gesänge der Männer (arúmahani) und der Frauen (abümahanei). In den nächsten Generationen wird wohl keiner mehr ein abümahanei oder ein arúmahani komponieren können, es sei denn, jemand beschäftigt sich besonders intensiv damit. Es muss auch gefördert werden, dass Garífuna hier in der Schule unterrichtet wird. Trotzdem werden einige Dinge unvermeidlich verloren gehen. Wir können nur versuchen, den Verlust so klein wie möglich zu halten.

Ist deine Arbeit im Ministerium dieser Dokumentation gewidmet?

Eines unserer ersten Projekte war der Antrag an die UNESCO, Sprache, Musik und Tanz der Garífuna zum „Meisterwerk des oralen und immateriellen Erbes der Menschheit“ zu erklären. Wir haben Fotos, Literatur, Musikaufnahmen und eine Videodokumentation eingereicht. Und wir hatten Erfolg. Jetzt können wir Förderung beanspruchen für Programme, die das Überleben der Garífuna-Kultur sichern. Das ist ein Auftrag der UNESCO an die Regierung von Belize. Doch da stehen wir noch ganz am Anfang.

CDs von Andy Palacio und Musikern der Garífuna All Star Band:
Paranda, Africa in Central America; Paranda; Keimoun (beat on); til da mawnin!; Lugua Centeno; alle bei: Stonetree Records, Benque Viejo del Carmen, Belize
Weitere Informationen unter:
www.rootsworld.com/reviews/garifuna.html
www.clas.ufl.edu/users/afburns/afrotrop/Garifuna.htm
www.garifuna-world.com

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