Der solidarische Warenkorb
Interview mit Javier Castellanos aus Kolumbien über Ernährungssouveränität und alternatives Wirtschaften
Was ist der soziale Kontext, in dem Ihre Organisation arbeitet?
Wir bewegen uns in einem Umfeld, in dem die Ausbeutung von Bodenschätzen eine große Rolle spielt, Bergbau, Wasser – eine große Mineralwasserfirma hat zum Beispiel Interesse, in Sumapaz bei Bogotá zu investieren, das ist eine der größten andinen Hochebenen überhaupt, und eigentlich sind das geschützte natürliche Wasserreservoire. Die Gegend rund um Bogotá ist außerdem das Zentrum des industrialisierten Schnittblumenanbaus. Wir versuchen Alternativen zu schaffen in einem sehr, sehr widrigen Kontext.
Was sind die Hauptthemen, die Sie in Ihrer Arbeit momentan beschäftigen?
Wir setzen vor allem auf die politischen Konzepte von Selbstverwaltung und Ernährungsautonomie. Es geht viel um das Recht auf Nahrung: Wir streben Ernährungssouveränität und -autonomie an. Das Thema Land (territorio) ist sehr wichtig, wobei wir territorio als identitätsstiftenden Lebensraum verstehen, nicht nur als Grund und Boden. Es geht also nicht nur um Land, sondern auch darum, wie und für was es genutzt wird. Damit geht gesellschaftliche Organisierung einher und eine gewisse politische Kultur. Wir wollen solidarische, selbstverwaltete kollektive Organisierungsprozesse in den Gemeinden und barrios fördern. Ernährungssouveränität heißt auch Autonomie und Kontrolle über ein Territorium. Gerade für die kleinen Bauern, die vielleicht nur einen halben Hektar Land besitzen. Sie stehen gegen den ganzen hochkonzentrierten Landbesitz in Kolumbien.
Wie sehen Ihre Projekte konkret aus?
Es geht unter anderem darum, kleine lokale Marktkreisläufe zu schaffen, so dass Konsumenten in der Stadt und Produzenten aus dem ländlichen Raum wieder näher zusammenrücken. Wenn man im Supermarkt einkauft, ist man sehr weit weg von den Leuten, die Lebensmittel anbauen. Die jungen Leute aus der Stadt haben teilweise gar kein Verständnis mehr für die Herkunft der Produkte, die sie essen.
Wir versuchen dafür andere Räume zu schaffen: Alle zwei Wochen treffen sich Familien, in diesem Fall in verschiedenen Vierteln in Bogotá, und es wird direkt von den Produzentenfamilien gekauft. Es geht eigentlich darum, auch andere Netzwerke zu bilden, die Widerstand leisten können gegen eine Gesellschaft, die den Leuten bestimmte Konsumpraktiken aufzwingt. Wir wollen uns unsere Umwelt wieder aneignen. Wir nennen das den solidarischen Warenkorb. Der Sinn des solidarischen Warenkorbs ist es, auch die Herkunft der Dinge, die wir essen, deutlich zu machen. Die fallen ja nicht vom Himmel, da stecken viel Mühe und eine Person dahinter, die all das für uns macht.
Wie gehen Sie damit um, dass man nur eingeschränkt freies Saatgut bekommt?
Wir versuchen alte Maissorten oder Bohnen wieder anzubauen, die in Vergessenheit geraten, aber sehr nahrhaft und noch nicht von Patenten großer Konzerne betroffen sind. Es gibt zum Beispiel ein Brot aus sieben Mehlsorten, das unsere Vorfahren schon vor ganz langer Zeit zu sich genommen haben. Wir müssen unsere eigenen Samensorten ernten, denn auch das Tauschen und Verschenken von Saatgut ist eingeschränkt.
Sie sprechen davon, dass das Konzept über den Anbau und das Zusammenbringen von ProduzentInnen und KonsumentInnen hinausgeht. Wie gestaltet sich die Vernetzung?
Der Kreislauf ist ja produzieren, verteilen und konsumieren – das aber in Selbstverwaltung, mit selbst entwickelten Konzepten unter Eigenverantwortung. Die Leute wollen ganz einfach überleben, aber die Idee, sich zu organisieren, erweitert das Konzept natürlich. Mit jungen Leuten aus allen Vierteln machen wir Wanderungen in Ciudad Bolívar, wo viele Flüchtlinge leben, um ihnen die Geschichte der Stadt nahe zu bringen, damit sie sich über ihren Lebensraum bewusst werden. Wir wollen deutlich machen, dass nicht alles nur apokalyptisch ist, sondern dass wir – und da sehen wir die Veränderungen in anderen lateinamerikanischen Ländern und die Impulse, die von dort kommen – Veränderungen auch aus dem Lokalen aufbauen können.
Diese Ideen zu kleinen solidarischen Marktkreisläufen verbinden sich mit vielen anderen Initiativen auf lokaler, regionaler, nationaler Ebene zu Ernährungssouveränität und alternativem Wirtschaften. Die Art Globalisierung, die wir erleben, zerschlägt sozusagen das Lokale, macht es stumm. Wir wollen als Gegengewicht dazu das Lokale und die Autonomie stärken, und von da aus die weitere Vernetzung organisieren.
Wie seht Ihr die neue Regierung in Kolumbien, mit Juan Manuel Santos an der Spitze? Es wird ja viel geredet über einen Wandel des Regierungskurses?
Da ist zum Beispiel das Gerede über das neue Landgesetz. Für uns ist das Schall und Rauch. Da geht es um Image, es gibt eine neue Rhetorik, einen veränderten Diskurs, aber die Realität bleibt die gleiche. Gerade erst hat die Regierung mit 40 multinationalen Firmen in einem Aufwasch verhandelt und große Flächen Land veräußert. Dann ist da das Assoziierungsabkommen mit der EU. Aber ob mit oder ohne Abkommen: Das Land wird verkauft oder die Leute vertrieben. Kolumbien gehört inzwischen zu den drei Ländern auf der Welt mit der ungleichsten Landverteilung, auf dem Land liegt der Gini-Index (Kennzeichen für die Ungleichverteilung des Einkommens in einer Volkswirtschaft, Anm. d. Red.) bei über 0,8.
Wir bekommen hier ja sehr viele Produkte aus Lateinamerika, die nicht innerhalb solidarischer Netzwerke hergestellt wurden. Was sind Ihre Vorstellungen internationaler Solidarität?
Nun, wir möchten, dass sich auch in Europa ein Verständnis dafür entwickelt, dass Euer Lebensstandard dort eben mit dem Leben hier zu tun hat. Dass man kritisch konsumieren kann: Man geht nicht nur in den Supermarkt, sondern macht sich klar, dass Produkte anderswo entstehen müssen, dass andere Familien davon leben. Wie unsere Gesellschaft jetzt organisiert ist, ist ja kein Naturphänomen! Das Verständnis für die Zusammenhänge wollen wir wecken.