Chile | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Der stolze chilenische Wald !

Der Neoliberalismus triumphiert- die Umwelt bleibt auf der Strecke

Es hat sich vieles verändert im Hafen von Puerto Montt in den letzten zwanzig Jahren. Die malerische Landschaft umrahmt majestätisch den letzten “Festlandshafen” der chilenischen Landkarte. Jenseits der Reloncavi-Bucht beginnt das ausgedehnte Inselreich des chilenischen Südens. Etwas fehlt aber in dieser Landschaft. Bei genauem Hinsehen stellt man schockiert fest, daß die Wälder nicht mehr da sind. Überall Kahlschlag und kein Anzeichen von Wiederaufforstung. Am Hafen gibt es einen riesigen Berg von Holzsplittern, “Chips” genannt. Unendliche LKW-Kolonnen und Bulldozer sorgen dafür, daß der Berg wächst und wächst. In der Bucht liegen ein paar Dutzend Schiffe der japanischen Handelsflotte vor Anker. Der Berg von Holzsplittern wird durch ihre Ladeluken verschwinden und irgendwo im Reich der aufgehenden Sonne zu Zellulose verarbeitet wieder auftauchen. Da ist er, der stolze chilenische Wald! Ein Riesenberg von “Chips” als Gabenopfer auf dem Altar des neoliberalen Wirtschaftsmodells.

Payo Orellana, Vertreter von CODEFF in Deutschland

Chile 1993. Es ist März. Die Schule beginnt. Die Hauptstadt Santiago wirkt wie aus der langen Siesta der heißen Sommermonate erwacht. In den Einkaufstraßen tummeln sich die Menschen, die sich nach den billigsten Angeboten an Schuluniformen umsehen. Tausende von Autobussen und Abertausende von Privatfahrzeugen sorgen für einen ohrenbetäubenden Lärm, über die Stadt setzt sich bedrohlich eine dichte Smogglocke. Das ist die passende Kulisse für ein Gespräch mit KollegInnen des CODEFF Chile (Komitee zur Verteidigung der Flora und Fauna), der ältesten Umweltorganisation, die mit regionalen Gruppen im ganzen Land den Versuch unternimmt, zusammem mit anderen Nicht-Regierungsorganisationen der drohenden ökologischen Katastrophe Einhalt zu gebieten. Nach fast vier Jahren demokratischer Regierung können die ökologischen AktivistInnen ihre Enttäuschung nicht verbergen. Die Wirtschaftsexperten der Regierung Aylwin setzen das Wirtschaftsmodell der Militärdiktatur fort. Alle Hoffnungen, die sie in die Beendigung des rücksichtslosen Raubbaus an den Naturressourcen gesetzt hatten, sind von den VerfechterInnen des neoliberalen Wirtschaftsmodells zunichte gemacht worden. Bisher ist es der Regierungskoalition nicht gelungen, die “Ley de Marco Ambiental” (Umweltrahmengesetz ) durch das Parlament zu bringen. Dieses Gesetz – falls es jemals in Kraft treten sollte – könnte zu einem wichtigen Instrument werden, um die verschiedenen Wirtschaftssektoren mit klaren Auflagen zu konfrontieren und somit ihrem rücksichtslosen Raubbau Grenzen zu setzen. Die Regierungskoalition tut sich aber sehr schwer mit diesem Gesetz. Beamte und PolitikerInnen sind sich darin einig, daß Umweltpolitik und ökologische Rücksichtnahme einen Luxus darstellen, den sich Chile nicht leisten könne. Die Unternehmerverbände im Lande und die internationalen Konzerne im Einklang mit Weltbank und internationalem Währungsfonds zollen solchen Ansichten lauten Applaus und preisen das chilenische Modell als “den Weg” für sogenannte Entwicklungsländer.

Neues Waldgesetz zerstört den Naturwald

Die ÖkologInnen erlitten vor kurzem eine weitere Schlappe. Die Regierung beschloß im Rahmen des neuen “Ley de Bosques” (Waldgesetz), die Aufsicht und Kontrolle über die Wiederaufforstung in private Hand zu übergeben. Wieder einmal macht man den Bock zum Gärtner. Damit wird der Prozeß der Monokulturen beschleunigt werden. Der Tod des chilenischen Naturwaldes ist nur noch eine Sache der Zeit. Der Süden hat sich schon in die größte Pinienplantage der Welt verwandelt. Zwei Millionen Hektar Naturwald mußten den schnell wachsenden Pinien- und Eukalyptussorten weichen. Ein bisher noch nie dagewesener Eingriff in den ökologischen Haushalt des Landes.

Vom chilenischen Fisch zum Exportschlager Fischmehl

Nicht weniger katastrophal sieht es mit einer der größten Naturressourcen des Landes aus, der Fischerei. Mit über viertausend Kilometern Küste verfügt Chile über enorme Ressourcen in diesem Bereich. Aber auch hier wird nicht anders verfahren als mit den Wäldern. Meeresbiologen des CODEFF erzählen mir, daß über 640 Arten von Fischen und Meeresfrüchten in unseren Gewässern zu finden sind. Aber ihre Lebensweise ist weitgehend unbekannt; lediglich etwa vierzig Sorten sind ausführlich erforscht worden. Eine unkontrollierte Fangpolitik würde die Vernichtung und Ausrottung nahezu aller dieser Arten bedeuten. Das ist aber kein Hindernis für die großen Fangflotten, die mit engmaschigen Netzen dafür sorgen, daß Chile an dritter Stelle des Weltfischfangs steht. Über neunzig Prozent dieses enormen Fangvolumens werden zu Fischmehl verarbeitet. Die Bundesrepublik Deutschland ist die beste Kundin der chilenischen Fischmehlindustrie. Sie kauft nämlich über dreißig Prozent der Fischmehlproduktion. Die chilenische Bevölkerung dagegen konsumiert viel weniger Fisch als vor zwanzig Jahren. Damals gab es ca. 95 000 Familien, die von der Fischerei lebten und das Land mit Fisch versorgten. Heute sind es nicht mehr als 18 000. Traditionelle Fischsorten sind von den chilenischen Märkten verschwunden, und das vorhandene Angebot erreicht Preise, die sich nur wenige leisten können.
Daß es zwischen Diktatoren und DemokratInnen bezüglich der Umweltpolitik in Chile kaum Unterschiede gibt, dafür war die Haltung der chilenischen Delegierten bei der diesjährigen internationalen Walfangkommission in Tokio ein Beispiel: Sie unterstützte die Position Japans und Norwegens. Wale dürfen also weiter gejagt werden.

Kupferabbau zerstört Umwelt und tötet Kinder

Die düsteren Berichte der CODEFF-KollegInnen setzen sich mit einem dramatischen Beispiel aus dem Norden Chiles fort. Die Hafenstadt Antofagasta hält bisher einen traurigen Weltrekord: laut Studien der Weltgesundheitsorganisation werden dort im internationalen Vergleich die meisten Kinder ohne Gehirn (Acephalie) geboren. Ärzte und andere Experten stimmen darin überein, daß die Ursachen dieses alarmierenden Phänomens in der hohen Konzentration von Arsen und Quecksilber liegen, die im Trinkwasser der Stadt zu finden sind. Auf der Suche nach den VerursacherInnen dieser hohen Giftkonzentration stieß man auf den Kupferbergbau, der in der Hochebene des Nordens Grundwasser benutzt, um die abgebauten Mineralien zu raffinieren, und Abwässer ungeklärt im Boden versickern läßt. Diese Giftbrühe erreicht den Grundwasserspiegel, aus dem die Stadt ihr Trinkwasser gewinnt. Die ganze Bevölkerung Antofagastas wird allmählich vergiftet. Die Führung des größten Kupferbergbaubetriebs der Welt in Chuquicamata ist trotz der Proteste von UmweltschützerInnen und Bevölkerung nicht bereit, Filter geschweige denn andere Techniken der Kupfergewinnung einzusetzen.

Kaum Hoffnung auf ökologische Kehrtwende

Die ökologische Sündenkartei des neoliberalen Wirtschaftsmodells ist groß und läßt sich anhand vieler Beispiele klar darstellen. Chile ist zwar in die Kategorie eines Schwellenlandes aufgestiegen, bezahlt aber einen unglaublich hohen Preis dafür. Fünf Millionen Menschen, die in Armut leben, und die ungezügelte Zerstörung der Lebensgrundlagen machen ein Umdenken und ein Ende des Raubbaus an Naturressourcen dringend erforderlich. Aber die Herren des Wirtschaftsmodells können nicht mehr so ungestört ihre Politik fortsetzen. Seit langem wird seitens der Umweltorganisationen und Basisgruppen Widerstand geleistet. Dabei sind nicht nur die AktivistInnen des CODEFF, sondern auch das Instituto de Ecologia y Politica und andere bis hin zu der grünen Partei aktiv. An vielen Fronten versuchen diese Organisationen gemeinsam das neoliberale Wirtschaftsmodell mit alternativen Entwicklungs- und Produktionsmodellen zu konfrontieren.
Die chilenische Linke hingegen tut sich mit dieser Problematik schwer. Immer noch mit alter ideologischer Verkrustung und Volksfrontmentalität behaftet, entwickelt sie keine Fähigkeiten, sich dieser Herausforderung zu stellen. Allzuoft werden Umweltprobleme als eine Art politisches Feigenblatt von der Linken benutzt, und es sieht so aus, als ob es noch lange dauern wird, bis eine solide Umweltpolitik und ein alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell entworfen wird, das die Bedürfnisse der Bevölkerung zufriedenstellt, ohne die Lebensgrundlagen zu zerstören.
Es ist spät geworden über Santiago. Das Gespräch mit den UmweltakivistInnen hinterläßt einen bitteren Geschmack, trotzdem gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer. Allmählich formieren sich umweltbewußte Menschen in mehreren Vereinen im ganzen Land, und die Umweltproblematik ist aus der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken.
Der schwarze Humor der ChilenInnen ist auch nicht wegzudenken. Wegen des Ozonlochs über dem Südpol befinden sich zur Zeit mehrere Forschergruppen aus Industrieländern auf der südlichen Spitze Chiles und untersuchen die Auswirkungen auf Flora und Fauna. Sie sind mit viel Ausrüstung und Geld gewappnet. Kommentar der ChilenInnen: “Es ist wie immer. Sie bringen Know How und Geld, und wir stellen das Loch zur Verfügung”.


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