Die Basis der MAS will mehr
Turbulenter Wahlkampf um die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 12. Oktober mit der Bewegung zum Sozialismus an der Spitze
An Evo Morales kommt keiner vorbei. Seit Monaten können der amtierende Präsident und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) auf hohe Umfragewerte für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 12. Oktober blicken. Im August hätten 59 Prozent der Wahlberechtigten Morales als Präsident wiedergewählt, so das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos. Zentrale Gewerkschaftsverbände und soziale Organisationen (wie COB, FENCOMIN, Bartolina Sisas und CSUTCB) unterstützen öffentlich den Präsidenten. „Die sozialen Organisationen werden an der Macht bleiben“, erklärte CSUTCB-Gewerkschaftsführer Damián Condori. Nach acht Jahren Morales-Regierung also weiterhin rückhaltlose Unterstützung?
Ganz so klar gestalten sich die Verhältnisse in den Monaten vor der Wahl jedoch nicht. Neben Präsident und Vizepräsident_in werden 36 Senator_innen und 130 Abgeordnete neu gewählt. Die sozialen Bewegungen, die der Regierungspartei MAS kritisch gegenüber stehen, existieren zum Teil nicht mehr: Die indigene Organisation des Tieflands CIDOB wurde schon im Juli 2012 gespalten, die indigene Organisation des Hochlandes CONAMAQ folgte im Januar dieses Jahres nach der Besetzung ihres Büros in La Paz durch die regierungsnahe Gruppe um Hilarión Mamani. Die entmachtete regierungskritische Gruppierung um Cancio Rojas und Rafael Quispe nennt sich nun CONAMAQ „orgánico“, in Abgrenzung zum von Mamani geführten CONAMAQ. Für Leonida Zurita, die Internationale Sekretärin der MAS, vertreten Chávez und Quispe nur eine kleine Interessengruppe. „Die Spaltung ist nur der politische Machtkampf zwischen kleinen Gruppen“, sagt Zurita gegenüber den LN. Mit dieser Argumentationsweise werden Regierungskritiker_innen delegitimiert.
Erst Ende August versuchten Regierungsanhänger_innen auch den Sitz der Organisation Subcentral Sécure, die Gemeinden im indigenen Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé TIPNIS repräsentiert, einzunehmen. Durch die Spaltung kritischer indigener Organisationen hat die MAS ihre Opposition in sozialen Bewegungen geschwächt. Auf Parteienebene bleiben die meisten Konkurrent_innen ohnehin chancenlos.
Das Oberste Wahlgericht hat fünf Parteien für die Wahlen im Oktober zugelassen. Für die MAS tritt wieder das Duo Morales und Álvaro García Linera als Vizepräsidentschaftskandidat an. Deren dritte Kandidatur in Folge war nicht unumstritten, da die Verfassung nur zwei Amtsperioden erlaubt. Allerdings wurde die jetzige Kandidatur als erst zweite Kandidatur seit Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2009 ausgelegt. Der Versuch der Opposition, mit einem breiten Bündnis gegen das Duo anzutreten, ist gescheitert, so dass vier politische Kräfte die MAS herausfordern: Zwei davon sind in der klassischen rechten Opposition zu verorten. Der konservative Ex-Präsident Jorge „Tuto“ Quiroga Ramírez, der nach dem Tod des Generals Hugo Banzer als dessen Stellvertreter an die Macht kam, tritt mit der indigenen Yarhui Tomasa als Vizepräsidentin an. Seine neu gegründete Christdemokratische Partei PDC kommt laut der Umfrage von Ipsos auf vier Prozent. Erfolgreicher ist der Kandidat des Mitte-Rechts-Bündnisses Demokratische Einheit UD Samuel Doria Medina. Medina ist Unternehmer im Zementgewerbe und Inhaber mehrerer Hotels und Fast-Food-Ketten. Ihm prognostizieren die Umfragewerte 17 Prozent, womit er zurzeit an zweiter Stelle hinter Morales liegt.
Die beiden anderen Kandidat_innen hoffen auf die Stimmen von unentschlossenen und von der MAS enttäuschten Wähler_innen. Der ehemalige Bürgermeister von La Paz, Juan del Granado, tritt für die Mitte-Links-Partei MSM (Bewegung ohne Angst) an. Der MSM haben sich mehrere Aktivist_innen der MAS angeschlossen, auch Del Granado ist einstiger MAS-Anhänger. Laut Ipsos kommt Del Granado lediglich auf drei Prozent der wahlberechtigten Stimmen. Die zweite linke Oppositionspartei spielt politisch überhaupt keine Rolle. Die Grüne Partei Boliviens mit dem indigenen Aktivisten Fernando Vargas als Präsidentschaftskandidat, der 2011 und 2012 die Protestmärsche gegen den Bau der Straße durch das TIPNIS organisierte, werden nicht einmal ein Prozent der Stimmen vorhergesagt. Die Grüne Partei findet vor allem bei ausländischen Nichtregierungsorganisationen Anklang. Die Umfragewerte sind unter den Oppositionsparteien jedoch nicht unumstritten. Die noch Unentschlossenen machen zudem 17 Prozent aus. Diese gilt es zu gewinnen.
Die MAS tritt als die linke Kraft an. Nach ihrer Definition ist keine der anderen Parteien links und sie sieht sich weiterhin als die politische Partei der sozialen Bewegungen. Auf der Regierungsagenda der MAS stehen unter anderem die Entwicklung der Produktion und Industrialisierung der natürlichen Ressourcen und die Beseitigung der extremen Armut. Wie auch die Oppositionsparteien verspricht sie den Ausbau des Gesundheitssystems, der Infrastruktur und der Elektrizitätsversorgung. Weitere Aspekte sind die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Sicherstellung der Technologie- und Nahrungsmittelsouveränität. Unverändert dient als Entwicklungsmodell der Export von Rohstoffen, der sogenannte „Neue Extraktivismus“. Trotz der ökologischen und sozialen Kosten, sind es die Einnahmen dieses Entwicklungsmodells, die dem Regierungschef Erfolg bringen. Morales verweist auf die Erträge nach der Nationalisierung der fossilen Brennstoffe, die von 600 Millionen US-Dollar im Jahr 2005 auf mehr als fünf Milliarden US-Dollar in 2013 gestiegen sind. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen hat sich laut Regierungsangaben in den letzten neun Jahren auf 3.000 US-Dollar verdreifacht, der nationale Mindestlohn ist auf umgerechnet gut 200 US-Dollar pro Monat gestiegen. Wirtschaftsminister Luis Acre hat für das erste Quartal dieses Jahres einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 5,6 Prozent verkündet. Damit liegt Bolivien im lateinamerikanischen Vergleich mit an der Spitze. Die extreme Armut ist auf 18 Prozent der Bevölkerung gesunken. Es sind Erfolge, die Morales Zustimmung bringen und deren Kosten gleichzeitig zunehmend das Land spalten.
Die Opposition kritisiert, dass die Macht der MAS auf Klientelismus, der gewaltsamen Teilung der indigenen Organisationen und der Kriminalisierung ihrer Führungspersonen beruhe. Die sozialen Organisationen würden kooptiert und ihre Führungspersonen seien teilweise auch Kandidat_innen der MAS. Weiterer Kritikpunkt ist die Korruption. Die MAS tut diese Vorwürfe als „Verrat am Prozess des Wandels“ ab.
Dennoch: Strategie der Regierungspartei ist es, ehemals Angehörige rechter Parteien in ihre Reihen aufzunehmen, um so der Opposition Wind aus den Segeln zu nehmen. Außerdem wird um die Gunst der Mittelklasse geworben. „Die Zeiten der Konfrontation sind vorbei“, ließ der Präsident in seiner Rede zum Nationalfeiertag am 6. August verlauten. Eine Etappe der Versöhnung werde eingeleitet. Die Argumentation: Da die popularen Sektoren, Indigenen und Bäuer_innen ihre Führungsrolle im Prozess des Wandels deutlich gemacht haben, seien die Bedingungen so, dass auch andere Bevölkerungssektoren integriert werden könnten. Auch wenn sie vormals Unterstützer_innen der Rechten waren. Ehemalige Feinde werden zu Verbündeten, ehemalige Verbündete zu Verräter_innen.
Die MAS will erneut die Zweidrittel-Mehrheit erlangen, wodurch Verfassungsänderungen oder beispielsweise die Besetzung der Posten der Höchsten Gerichte ermöglicht würden. Dafür wird mit harten Bandagen gekämpft. Jüngst wurde der MSM-Kandidat Mario Orellana für acht Tage inhaftiert. Dieser hatte Tonaufnahmen von Morales von einem internen Parteitreffen veröffentlicht, die ihm aus der MAS zugespielt worden waren. Die Aufnahmen gaben aber nicht mehr preis als das, was die Opposition schon länger kritisiert: Regierungsveranstaltungen würden zu Wahlkampfzwecken missbraucht.
Benachteiligt fühlt sich die Opposition auch durch eine Resolution des Bundeswahlgerichts TSE, die die Nutzung von Bild oder Stimmen der Kandidat_innen in den Massenmedien bis zum 12. September verbietet. Der offizielle Wahlkampf beginnt drei Monate im Voraus, Medienkampagnen sind jedoch seit der neuen Resolution gesetzlich erst einen Monat vor den Wahlen gestattet. Der Verabschiedung gingen Medienkampagnen voraus, in der sich die politischen Gegner_innen untereinander attackierten. Eine öffentliche politische Debatte möchte die MAS nicht führen. Ehemalige Anhänger_innen der MAS glauben, dass die MAS sich einer öffentlichen Rechtfertigung über ihre Politik und ihr extraktivistisches Entwicklungsmodell entziehen möchte. Das TSE vereinbarte mit der Organisation Amerikanischer Staaten den Einsatz von mindestens 50 ausländischen Wahlbeobachter_innen.
Nicht nur bei der amtierenden Regierung, auch bei der Opposition gibt es fragwürdige Wahlversprechen und Wechsel zwischen den verschiedenen politischen Lagern. Die indigene Guaraní-Anführerin Justa Cabrera erregte Aufsehen, als sie sich im Wahlkampf wieder unter die Unterstützer_innen der MAS gesellte, da sie sich im Jahr 2011 nach dem gewaltsamen Eingreifen der Polizei im Zuge der TIPNIS-Proteste gegen die Regierung gestellt hatte. Sie befolge das Mandat der Guaraní-Organisationen, sagte die Aktivistin, die den achten Marsch zur Verteidigung des TIPNIS organisiert hatte.
Indigene spielen als Kandidat_innen bei den Wahlen nur eine untergeordnete Rolle, wie die Zeitschrift Pukara analysiert: Der MAS reiche es, einen indigenen Präsidenten in den Wahlkampf zu schicken. In allen anderen Fällen werde den neuen Alliierten bei der Vergabe von Kandidaturen vor den ehemaligen indigenen Aktivist_innen Vorrang gegeben. Beim MSM spielt das Indigene laut Pukara keine große Rolle. Die PDC hingegen schickt mit der Vizepräsidentschaftskandidatin Yarhui eine Indigene ins Rennen, die das Gegenteil zu Morales verkörpern soll. Andere indigene Repräsentant_innen sind bei der PDC jedoch nicht zu finden. Bei der Grünen Partei steht Vargas zwar an der Spitze, große Unterstützung hat er jedoch nicht. Die Kandidatur des ehemaligen Vorsitzenden des CONAMAQs und MAS-Gegners Quispe für die rechte UD wird von der Pukara als Wahltaktik von deren Präsidentschaftskandidat Samuel Doria Medinas gesehen. Medina ginge es nicht um die Schaffung eines neuen Diskurses oder die Integration Indigener. Sondern Quispes Stärke liege darin, dass ihn jene für die Rechte von Indigenen sensibilisierte Mittelklasse unterstützt.
Neben politischen Schlammschlachten und Wahlkampfversprechungen darf man gespannt sein, welche Themen noch auf der Agenda stehen werden. Angesichts von einem Feminizid alle drei Tage (59 im ersten Trimester 2014) ist es wichtig, dass das Thema Gewalt gegen Frauen Eingang in den Wahlkampf gefunden hat und öffentlich thematisiert wird. Die verschiedenen Parteien setzen sich alle im Wahlkampf dafür ein, dass der Staat eine stärkere Rolle gegen Gewalt gegen Frauen einnehmen soll.