Nummer 354 - Dezember 2003 | Peru

„Die Generäle werden davonkommen“

Interview mit Salomón Lerner, dem ehemaligen Vorsitzenden der peruanischen Wahrheitskommission

Mehr als zwei Jahre recherchierte eine Wahrheits- und Versöhnungskommission die Hintergründe der Verbrechen im peruanischen Bürgerkrieg zwischen 1980 und 1992. Ihr Vorsitzender, der Philosoph Salomón Lerner, übergab Präsident Alejandro Toledo Ende August einen mehrere tausend Seiten umfassenden Abschlussbericht. Diesem zufolge wurden etwa 70.000 Menschen getötet; die Hälfte allein von der maoistischen Guerrilla Leuchtender Pfad, mit deren Aufruf zum bewaffneten Kampf der Krieg begann. Der Armee wird vorgeworfen, über 20.000 Zivilisten massakriert zu haben. Die LN sprachen mit Lerner in Berlin über den schwierigen Umgang mit der Wahrheit.

Rolf Schröder

Über zwei Monate nach Übergabe des Berichts hat Präsident Toledo immer noch keine Stellungnahme dazu abgegeben. Dabei hat die Kommission eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen. Wird die Regierung darauf eingehen?

Ich bin skeptisch. Toledo hat mehrfach eine offizielle Stellungnahme zu unserem Bericht angekündigt. Wie Sie richtig feststellen, ist es dazu allerdings noch nicht gekommen. Wir haben zum Beispiel empfohlen, Reparationen an die Angehörigen der Opfer zu zahlen. Doch die Regierung steckt angesichts der angespannten Haushaltslage in Schwierigkeiten. Wir hoffen auf die Möglichkeit einer Finanzierung über unsere Auslandsschulden. Bereits jetzt ist die italienische Regierung damit einverstanden, dass ein Teil unserer Schuldenrückzahlungen in Entwicklungsprojekte umgeleitet wird.
Die Kommission hat darauf hingewiesen, wie wichtig die Bestrafung der Täter für einen Versöhnungsprozess ist. Fakt ist: Während tausende Rebellen des Leuchtenden Pfads in den Gefängnissen verschwanden, wurde bis heute kein einziger Soldat vor ein Zivilgericht gestellt.
Wir haben der Staatsanwalt genügend Material für Anklagen übergeben. Aber ich glaube nicht daran, dass die wirklich Verantwortlichen verurteilt werden.

In der peruanischen Presse war indes zu lesen, dass der ehemalige Leutnant Telmo Hurtado angeklagt werden soll. Hurtado kommandierte eine Truppe, die 1985 im Dorf Accomarca Frauen vergewaltigte und insgesamt 69 Einwohner ermordete.

Ja. Es gibt einige solcher Fälle, in denen es möglicherweise zur Anklage kommt. Aber höhere Offiziere und Generäle, also diejenigen, die im Hintergrund die Verantwortung trugen, werden wohl davonkommen.

Sie haben nicht nur Reparationen empfohlen, sondern auch eine Armeereform, um solche Verbrechen künftig zu verhindern.

Zur Zeit wird an einer Reform gearbeitet, aber sie ist zu zaghaft. An den Strukturen in der Armee wird sich kaum etwas ändern, eine wirkliche demokratische Kontrolle der Streitkräfte steht leider nicht an. Wir haben Vertreter der Armee zu einer öffentlichen Anhörung eingeladen, aber sie sind nicht gekommen. Gleichzeitig starteten einige Parlamentsabgeordnete eine regelrechte Hetzkampagne gegen uns. Für sie war der Kampf der Armee gegen den Leuchtenden Pfad heldenhaft. Punkt. Deshalb werfen sie uns vor, das Ansehen dieser Institution verunglimpft zu haben. Im Übrigen: Wenn wir wollen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, dürfen wir nicht bei der Armee stehen bleiben. Wir müssen die gesamte Gesellschaft demokratisieren. Viele Menschen sind extrem autoritätsgläubig. Ein Beispiel: Würde der ehemalige Präsident Fujimori erneut bei Wahlen kandidieren, erhielte er vermutlich um die 30 Prozent der Stimmen. Zum Glück kann Fujimori nicht so leicht aus seinem Exil in Japan zurückkehren …

… Dank Ihrer Arbeit. Die Wahrheitskommission wies eine direkte strafrechtliche Verantwortung Fujimoris für Morde und Massaker der paramilitärischen Gruppe Colina nach.

Genau. Fujimori trägt außerdem die Verantwortung für die Hinrichtung von 42 gefangenen Führungskadern des Leuchtenden Pfads im Jahre 1992. Die Staatsanwaltschaft ermittelt sogar wegen wirtschaftlicher Delikte. Zum Beispiel sind Gelder von Schenkungen aus Japan auf den Konten von Verwandten Fujimoris gelandet.

Die schlimmsten Verbrechen der Armee wurden aber vor dem Amtsantritt Fujimoris registriert. Inwieweit sind die Regierungen der ehemaligen Präsidenten Fernando Belaúnde und Alan García verantwortlich für Massaker an der Zivilbevölkerung? García will immerhin im Jahre 2006 wieder Präsident werden.
Wir stellten unter beiden Regierungen systematische Menschenrechtsverletzungen fest. Diese wurden toleriert und zum Teil vertuscht. Der Gipfel: Ehemalige Minister Belaúndes geben bis heute nicht einmal Exzesse der Armee zu. Alan García gibt hingegen Exzesse zu. Er bemühte sich anfangs sogar um die Respektierung der Menschenrechte. Doch seit die Armee 1986 etwa 260 Gefangene des Leuchtenden Pfads nach einer Meuterei tötete, ließ er den Streitkräften weitgehend freie Hand.

García soll sogar die Ermordung der Gefangenen angeordnet haben.

Das konnten wir nicht nachweisen. Fest steht nur: Hätte der Präsident interveniert, als die ersten Opfer starben, wären weniger Gefangene umgekommen.

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