„Die Schule ist auch ein politisches Zentrum”
Interview mit der Wayúu-Aktivistin Remedios Fajardo über ein eigenständiges indigenes Schulsystem
In den 1980er Jahren hat die kolumbianische Regierung die sogenannte etnoeducación (deutsch etwa: ethnische Bildung) eingeführt. Wie unterscheidet sich die etnoeducación von der konventionellen Schulbildung?
In der Provinz Guajira hat die Organisation Yanama ihre Arbeit mit der etnoeducación angefangen. Wir begannen mit unserer Gründung 1975 unsere Rechte einzufordern, darunter das Recht auf Bildung. Bis dahin wurden wir in katholischen Indigeneninternaten unterrichtet, wo uns unsere Sprache, unsere Kultur und Kleidung verboten wurden. Dadurch, dass uns gesagt wurde, unsere Weltanschauung würde gegen die Moral der katholischen Kirche verstoßen, entwickelten wir eine Art ethnische Scham. Wir lernten Literatur, Mathematik, Orthographie, Geographie. Natürlich waren die Inhalte völlig verschieden von unserer Kultur. Mit der Politik der etnoeducación erlaubte uns der kolumbianische Staat unsere Sprache und Kultur in der Schule zu unterrichten.
Ihre Forderungen gingen aber über die Politik der etnoeducación hinaus…
Wir benutzten damals auch den Begriff der etnoeducación, weil uns der Staat bei der Einführung der neuen Unterrichtsinhalte begleitete. Die indigenen Gemeinschaften wollten aber ein eigenes Schulsystem, das Wort etnoeducación sollte verschwinden. Innerhalb von vier Jahren erarbeiteten wir dafür ein Profil. Vor einem Jahr begannen wir mit der Regierung über die Anerkennung zu verhandeln. Am 7. Oktober 2014 unterzeichnete der Präsident das Autonomiedekret, das aus der kolumbianischen Verfassung von 1991 hervorgeht. Es erkennt fünf Bereiche der Selbstverwaltung an, darunter das Schulsystem.
Wie kam es zu Ihrem Engagement gerade im Bereich der Schulbildung?
Als wir als Studienabsolventen aus Bogotá zurückkehrten, wollten wir uns für unsere Kultur einsetzen, und erkannten, dass der Schlüssel in der Bildung lag. So kam es, dass wir mit dem venezolanischen Linguisten Esteban Emilio Monsonyi begannen, eine Grammatik des Wayuunaiki zu erarbeiten. Heute haben wir eine vollständige Grammatik unserer Sprache und unterrichten sie. Aber schon damals führten wir den Begriff der „bilingualen interkulturellen Bildung“ ein. 1986 errichteten wir in Übereinkunft mit dem Bildungsministerium eine Experimentalschule mit dreißig Schülern in Media Luna bei El Cerrejón und Puerto Bolívar. Heute hat sie zweitausend Schüler und betreut weitere 40 Zweigschulen in der Umgebung.
Was sind die Unterrichtsinhalte?
Da es sich um eine interkulturelle Ausbildung handelt, gehen die Inhalte über die Kultur und Sprache der Wayúu hinaus. Über neue Medien sollen die Kinder die Möglichkeit haben, mit der Welt in Kontakt zu treten, von anderen Kulturen und Technologien lernen, um schwierigen Situationen wie Krankheiten und Konflikten besser begegnen zu können. Im Bereich der Naturwissenschaften haben wir zwar selbst ein umfangreiches Wissen über die Kontrolle der Umwelt beizutragen, aber wir können auch von den Erfahrungen anderer indigener und nicht indigener Gemeinschaften lernen, um unser Territorium ökologisch wie sozial nachhaltig zu bewahren. Für uns ist die Schule auch ein politisches Zentrum. Über die Schule wollen wir unsere Gemeinden weiterentwickeln. Der Kampf der indigenen Gemeinschaften in Kolumbien hat mit dem Territorium begonnen, später kam die Bildung dazu. Obwohl wir in Kontakt mit anderen Kulturen stehen, wollen wir uns in voller Autonomie um die Bildung unserer Kinder kümmern, auf unseren Territorien regieren und als indigene Gemeinschaften fortbestehen.
Wie ist die Ausbildung der Lehrer*innen organisiert?
Im Fall von Yanama verwalten wir Schulen mit insgesamt etwa 12.000 Kindern in acht Bezirken. Wir kümmern uns um die Qualifizierung und Weiterbildung der Lehrer, damit sie das indigene Schulwesen kennen, Lehrpläne oder Unterrichtsprojekte entwickeln. Wir arbeiten auch am Programm Semillas de Vida („Lebenssamen“), das sich der indigenen Kindheit widmet. Das indigene Schulsystem berücksichtigt nämlich den ganzen Entwicklungsprozess, von der frühen Kindheit über Grund- und Sekundarschule bis zur Universität. Eine indigene Universität haben wir allerdings noch nicht. Die einzige, die in Kolumbien existiert, ist die Interkulturelle Autonome Universität Cauca in Popayán. Sie steht kurz davor, von der Regierung anerkannt zu werden.
Was sind die Perspektiven und Interessen der jungen Wayúu-Generation heute?
Wir haben in einem Bezirk eine Studie über die Berufswünsche indigener Jugendlicher durchgeführt: Alle wollten Ärzte und Ingenieure werden, und von den Spezialisierungen im Ingenieurwesen wollten sie die machen, die im Cerrejón (Steinkohletagebau in der Guajira; siehe LN 492) gebraucht werden. Viele Jugendliche wollen studieren, arbeiten, ein gutes Auskommen haben. Allerdings ist in den letzten Jahren das Bewusstsein für die Entwicklung der indigenen Gemeinden gewachsen, weil die kolumbianische Regierung Stipendien gefördert hat. Die meisten Stipendiaten entschieden sich für konventionelle Studiengänge, aber einige auch für Anthropologie oder Soziologie, und sie interessieren sich sehr für den Schutz der indigenen Rechte. So hat sich eine Gruppe junger Menschen gebildet, die in ihren Gemeinden Prozesse anleiten. Aber das ist erst im Entstehen.
Remedios Fajardo
ist Universitätsdozentin für Pädagogik und Mitgründerin der Wayúu-Organisation Yanama. Nachdem sie ein katholisches Indigeneninternat in Uribia besucht hatte, trat sie in einen Nonnenkonvent ein – der einzige Weg, um in Bogotá studieren zu können. Als Direktorin ihrer Schule kehrte Fajardo nach Uribia zurück und setzt sich seither mit Yanama für die Rechte der Wayúu ein. Das indigene Gebiet Alta y Media Guajira befindet sich im Nordosten Kolumbiens. An den Verhandlungen mit der Regierung über ein eigenständiges indigenes Schulsystem war sie als Delegierte der Wayúu beteiligt. Ab 2016 soll es umgesetzt werden.