Argentinien | Nummer 421/422 - Juli/August 2009

„Die USA schauen nicht auf Argentinien“

Interview mit Beatriz Sarlo über das Verhältnis Lateinamerika und Argentiniens zu den USA

In Argentinien gibt es große Ressentiments gegen die USA. Beatriz Sarlo spricht über die Hintergründe und bewertet die neue Rolle Brasiliens in Südamerika.

Timo Berger

Frau Sarlo, Sie haben sich in ihren Kolumnen viel mit den USA beschäftigt. Wo muss man ansetzen, wenn man das aktuelle Verhältnis zwischen Lateinamerika und den USA verstehen will?
In jedem Fall muss man unterscheiden zwischen dem Grad an Hegemonie, den die USA auf Mittelamerika, auf einige Zonen der Anden und auf Südamerika ausüben. Argentinien ist ein Land, das in seiner Geschichte mehrere koloniale Abhängigkeiten erlebt hat: eine sehr starke von Großbritannien am Anfang des 20. Jahrhunderts, eine andere von den USA. Aber das Land hatte auch einige privilegierte Handelspartner. In der Militärdiktatur, die 1976 an die Macht kam, war der bevorzugte Handelspartner die Sowjetunion. Argentinien ist also ein Land, das nie einen einzigen Besitzer hatte. Auch wenn die antiamerikanischen Ressentiments in dem Land sehr stark sind, kann man es nicht vergleichen mit Mittelamerika, wo die USA mehrfach militärisch interveniert haben. Die USA wiederum blicken allein schon aus Gründen der Entfernung zu ihrem nächsten Nachbarn Mexiko. Brasilien, die Nation mit dem größten Potenzial in Lateinamerika interessiert sie kaum. Für Argentinien, ein zweitrangiges Land, also noch viel weniger.

Wie erklären Sie sich die starken antiamerikanischen Ressentiments in Argentinien?
Die USA werden in Argentinien nicht geliebt, weil die Parteien – nicht nur die der Linken, sondern auch Parteien wie zum Beispiel die Radikale Bürgerunion und nationalpopulistische Parteien wie der Peronismus – die militärischen Abenteuer der USA im Rest Lateinamerikas immer verurteilt haben. Und aus dem umgekehrten Grund sind – ob mir das gefällt oder nicht – Hugo Chávez und Fidel Castro zwei äußerst beliebte Figuren, weil sie die USA auf der internationalen Bühne angreifen. So ist Argentinien, das nie eine US Intervention erlebt hat, paradoxerweise eines der Länder, in denen die USA in Meinungsumfragen bei der Bevölkerung auf die höchste Ablehnung stoßen. Eine Rate, die sogar höher ausfällt als in Chile, wo der Staatsstreich gegen Salvador Allende von den USA mitvorbereitet wurde. Beim Putsch in Argentinien war die US Botschaft nicht beteiligt. Jimmy Carter, der US Präsident in jenen Jahren, verurteilte den Staatsstreich sogar.

Was denken die Menschen in Ihrer Heimat Argentinien von Obama?
In Argentinien haben sich alle Politiker einen Blackberry gekauft. Und alle Politiker sind jetzt auf Facebook. Das ist der erste „Obama-Effekt“. Aber es gibt auch andere Effekte: Die Menschen in Argentinien verspüren eine große Sympathie für Obama. Ich denke aber aus den falschen Gründen. Viele Argentinier halten ihn für einen Underdog, der eine Wahl gewonnen hat. Aber Obama hat eine Parteikarriere hinter sich, er ist Anwalt. Doch das wird nicht gesehen. Die große Sympathie für ihn speist sich also aus einer Unkenntnis des politischen Systems der USA und der Rolle, die Obama darin bislang gespielt hat.

Wie wird sich das Verhältnis zwischen den USA und Lateinamerika künftig gestalten?
Die USA haben zurzeit sehr viele Probleme, Südamerika steht nicht auf ihrer Prioritätenliste. Sie haben wichtigere Probleme in anderen Weltregionen. Obama hat seine Schwerpunkte gesetzt: Der Nahe Osten, Israel, die moderaten islamischen Länder, Afghanistan. Auch gibt es zurzeit in Lateinamerika kein Problem für die USA: Die Beziehung zu Mexiko ist stabil, das Land ist durch das NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) ein vitaler Teil der nordamerikanischen Wirtschaft. Hugo Chávez ist aufgrund des gesunkenen Ölpreises gezähmt. Ungelöst sind aber weiterhin die Probleme Afrikas. Ich hoffe, dass Obama dafür aufgrund seines eigenen Familienhintergrunds eine größere Sensibilität hat. Ohne wirtschaftliche Hilfe ist es ausgeschlossen, dass Afrika etwas erreicht. Brasilien zum Beispiel hat ein Verhältnis zu Afrika, wie es sonst kein anderes amerikanisches Land hat. Präsident Lula reist nach Afrika und unterhält Beziehungen zu afrikanischen Regierungen.

Also wird sich Südamerika eher auf die Beziehung mit Brasilien konzentrieren als Hoffnungen in die USA setzen?
Wenn man in die Zukunft sieht, ist Brasilien mit Indien eines der wichtigen aufstrebenden Länder. Und fast alle Länder Südamerikas grenzen an Brasilien. Brasilien ist für die Südamerikaner das Tor zur Welt. Damit meine ich nicht, dass sie sich in Pagen am brasilianischen Hof verwandeln sollen, sondern so wie Mittelamerika nach Mexiko schaut, so muss man auch die Beziehung zu Brasilien unterhalten und das Land gleichzeitig davon überzeugen, dass ihr Territorium hier ist, dass sie konsequent sein müssen mit der wirtschaftlichen Integration im Rahmen des Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR). Denn Brasilien ist in der Versuchung, sich als Mittelmacht abzuheben und zu lösen. Man muss den MERCOSUR vertiefen, sonst macht sich der Reiche der Familie davon und es bleiben nur die Armen zurück.

// Interview: Timo Berger

Beatriz Sarlo
wurde 1942 in Buenos Aires geboren und ist eine der bekanntesten Intellektuellen in Argentinien. Nach dem Studium Moderner Literatur an der Universität von Buenos Aires, lehrte sie an der dortigen Philosophischen Fakultät sowie an den Universitäten Columbia, Berkeley, Maryland und Minnesota. Frau Sarlo ist Fellow des Wilson Centers in Washington, „Simón Bolívar Professor of Latin American Studies” an der Universität Cambridge, Mitgründerin des Kulturjournals Punto de Vista und Mitglied im Kreis lateinamerikanischer KritikerInnen mit Forschungsschwerpunkt Postmoderne des Subkontinents, den sie Periphere Moderne nennt. Neben ihren Tätigkeiten im universitären Bereich veröffentlicht sie regelmäßig in den Tageszeitungen Página 12 und Clarín.

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