Nummer 478 - April 2014 | Venezuela

Ein Urwalddorf im Wandel

Eine Reportage über die Geschichte von Nabasanuka, einem „Musterdorf“ im venezolanischen Orinoko-Delta

Kreolische Unternehmer, ausländische Missionare und um Wählerstimmen feilschende Lokalpolitiker_innen nahmen im 20. Jahrhundert Einfluss auf die Kultur der indigenen Waraos. Profesor Benigno Rodríguez, einer der ältesten Schullehrer der Waraos, erzählt von Wurzeln und Entwicklungen.

Ingolf Bruckner

Eine Mittagspause im November. Der Lehrer Benigno Rodríguez nimmt auf einem Kinderstuhl Platz, welcher im Schatten der Betonbaracke steht, die als Schule dient. Sein eines Auge, auf Gegenwart und Zukunft gerichtet, überwacht seine Schüler_innen – die stehen aufgereiht bei der Essensausgabe an oder tollen in ihren kurzen Uniformen im nassen Gras umher, einen Moment Freiheit genießend –, sein anderes Auge, nach innen gekehrt, ruft Bilder herbei aus der Vergangenheit.
Wir befinden uns im Dorf Nabasanuka (ca. 400 Einwohner_innen, alle Indigene der Warao), dessen Zentrum sich entlang des Nordwestufers des Caño Nabasanuka erstreckt, einer der gewaltigen Arterien des fächerförmigen Orinoko-Flussdeltas. Sumpf und Wildnis umgeben uns auf allen Seiten, aber die Siedlung Nabasanuka selbst ist weniger sumpfig und weniger wild als man erwarten würde: Viele Einwohner_innen dösen zu Hause vor sich hin oder haben die Fernseher eingeschaltet, um ihre geliebten Telenovelas zu sehen. Ein paar liegen auf den Türschwellen ihrer langsam in sich zusammenfallenden Hütten und blinzeln den Himmel an. Der Staat hat ihnen irgendwann genormte Holzbaracken gebaut und zahlt den Unterstützer_innen der Regierungspartei überdies ein regelmäßiges Salär für Posten im öffentlichen Dienst, die fast alle ausschließlich auf dem Papier existieren. Außerdem braucht niemand für seine Kinder zu kochen, da es Schulessen gibt.
Benigno Rodríguez hebt an: „Um 1925 kamen europäische Missionare aus Spanien ins Delta und gründeten die Mission Araguaimujo mit dem Ziel, uns ihre Sprache, das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen und – zu taufen. In jener Zeit verstand kaum ein Warao Spanisch. Die Missionare holten Warao-Kinder aus dem gesamten Delta nach Araguaimujo, um sie zu unterrichten und zu disziplinieren. In vielen Fällen hielten sie sich nicht lange damit auf, elterliches Einverständnis zu erbitten. Sie sagten einfach: ‚Du kommst mit uns!‘, hoben das Kind ins Boot und fuhren ab. Andere Kinder kamen freiwillig: Sie sahen es für sich als Chance, europäische Bildung zu erlangen.
In der Mission schliefen alle in Schlafsälen und folgten strengen Regeln von Zucht und Ordnung. Jungen und Mädchen wurden getrennt. Wenn ein Junge 18 war, sagten die Missionare zu ihm: ‚Nun, du solltest jetzt Araguaimujo verlassen und heiraten!‘ Die gleichen Worte bekamen die Mädchen zu hören. Das Prozedere, sich eine Frau zu suchen, bestand darin, Briefe hin und her zu schreiben und so die Zusage eines Mädchens zu erhalten, welches ebenfalls in der Mission unterrichtet worden war.“
Benigno Rodríguez‘ Darstellung wird bestätigt von zwei ehemaligen Zöglingen, die heute am Caño Guiniquina wohnen. Raúl Zapatá und seine spätere Ehefrau wurden 1962, als Elfjährige, nach Araguaimujo gebracht, wo sie sich kennenlernten. Raúl Zapatá erinnert sich an diese Zeit: „In Araguaimujo wurde ich von den Padres unterrichtet, bis ich zwanzig Jahre alt war. Meine Frau erhielt Unterricht von Nonnen. Ich sah sie und mochte sie sofort, also tat ich das, was jeder andere, der sich in einer gleichartigen Lage befand, auch machte: Ich schrieb einen Brief, in dem ich sie bat, mich zu heiraten, und gab diesen Brief meinem Padre. Der Padre gab ihn weiter an die Nonne. Die Nonne gab ihn meiner Frau. Nun war sie an der Reihe: Sie schrieb ihrerseits einen an mich gerichteten Brief: ‚Ja, ich will dich!‘, gab diesen Brief der Nonne, und die Nonne gab ihn dem Padre. Der Padre gab mir den Brief. Der Rest war simpel: Ich heiratete meine Frau, wir verließen die Mission, bauten ein Haus und bekamen Kinder. Ich kenne nicht das Datum, an dem ich geboren wurde. Aber jedes Jahr erinnere ich mich unseres Hochzeitstages: Es ist der 8. September.“
Doch zurück zu Benigno Rodríguez‘ Bericht: „Indem die Missionare das Leben ihrer Zöglinge festen Regeln entsprechend gestalteten, verfolgten sie eine ganz bestimmte Strategie: die Erschaffung von Dorfgemeinschaften. Bevor die Missionare im Delta Einfluss gewannen, lebte noch kein Warao in einem festen Dorf. Praktisch jeder war Nomade. Meine Großmutter erzählte mir, wie sie und ihre Familie die ganze Zeit umherzogen. Sie wohnten nicht am Ufer der großen Flüsse sondern ausschließlich im Dschungel, wo sie sich vom Sago, den Früchten und Larven der Moriche-Palmen ernährten.
Nun aber wurde alles anders: Junge Leute, aufgezogen in der Mission Araguaimujo, heirateten unter der Obhut eines katholischen Pfarrers, der jedem Paar half, ein Haus zu errichten. Außerdem sorgte er dafür, dass sie ein ‚ausgeglichenes, stabiles‘ Dasein führten, das heißt, dass sie sich in die Dorfgemeinschaft einfügen und als Bauern leben sollten. Tatsächlich war er für seine Schützlinge so etwas wie ein Sozialarbeiter.
Fast alle Waraos, die von den Missionaren unterrichtet worden waren, blieben nicht in der Umgebung von Araguaimujo wohnen, sondern wurden ermutigt, flussabwärts, ins ‚Untere Delta‘, zu ziehen. Die Missionare hofften, ‚ihre‘ Waraos würden dort Dörfer gründen. Und tatsächlich: Sehr viele ehemalige Schüler siedelten in Guiniquina und Bamotanoco, beides Gegenden, die nicht allzu weit von hier liegen.
Genau, wie sie es zuvor mit den Missionaren abgemacht hatten, heiratete mein Vater meine Mutter, ging mit ihr fort und baute ein Haus in Bamotanoco. Nach einiger Zeit in Bamotanoco verstarb eine Nachbarin bei der Geburt ihres Kindes. Nun muss man Folgendes verstehen: Die Waraos sind aufgrund alter Tradition der Ansicht, dass sie, wenn eine Frau stirbt, während sie gebiert, besser schleunigst weiterziehen, da der Ort als verzaubert gilt. Dies ist der Grund, warum das gerade erst gegründete Dorf Bamotanoco sofort nach dem Tod der Frau wieder aufgegeben wurde. In großer Eile stiegen alle Bewohner in ihre Einbäume und fuhren ab. Seitdem – und bis heute! – lebt dort kein Mensch, und der hungrige Wald hat jede Spur des Dorfes verschluckt.
Einige Bewohner siedelten in Guayo, andere in Guiniquina oder in Araguabisi, manche kamen hierher. Familien, die miteinander verwandt waren oder sich verbunden fühlten, blieben beim Umzug zusammen. Meine Eltern und ein paar Nachbarn entschieden, hier, in Nabasanuka, zu leben. Es waren zwei Brüder, die meine Eltern ermunterten, am Caño Nabasanuka ihre neue Wohnstatt zu gründen: Antonio und Ualdo Garay. Beide Brüder hatten geheiratet und waren direkt nach Nabasanuka gezogen, nicht nach Bamotanoco, wie so viele andere. Antonio und Ualdo Garay betrachten wir als Gründer von Nabasanuka, was in unserer Sprache ‚Kleiner Wasserlauf‘ bedeutet. Wohl um 1944 hatten sie ihre Hütten errichtet – nah an dem einzigen Haus, das in jenen Zeiten bereits existierte. Dieses Haus gehörte einem Kreolen namens Chéché. Chéché baute entlang des Caño Nabasanuka Reis an und benötigte manchmal Arbeitskräfte. Als meine Eltern hier siedelten, standen nur drei Hütten: Chéchés, Antonios und Ualdos.
Ich kam noch in Bamotanoco zur Welt, im Jahr 1951. 1955 wurde meine Mutter nach Tucupita, die Hauptstadt der Delta-Region, geschickt, um als Krankenschwester ausgebildet zu werden. Während der drei Monate, die sie fort war, blieben ich und mein Vater in der Mission Araguaimujo. Kaum, dass sie zurück war, fuhren wir hierher, wo sie anfing, als Schwester tätig zu sein. Sie arbeitete lange, lange Jahre, und zwar sehr hart. Zwei ihrer großen Feinde hießen Cholera und Tuberkulose. Inzwischen ist sie Rentnerin.
Als die Missionare sahen, dass ‚ihre‘ Leute sich hier in großer Zahl ansiedelten, klatschten sie im Wortsinne Beifall und bauten in Nabasanuka eine Schule. Etwa 1957/58 erkoren sie Tomasa Garay, eine Schwester von Antonio und Ualdo, dazu aus, die erste Lehrerin des Dorfes zu werden. Sie ist noch am Leben und wohnt in Nabasanuka.
Mitte der 1950er Jahre sah das junge Dorf – damals noch am gegenüberliegenden, südöstlichen Ufer gelegen – wie ein ganz gewöhnliches, traditionelles Warao-Lager aus: Es bestand aus palmgedeckten, offenen Pfahlhütten, die im Sumpf steckten. Doch das änderte sich schon bald. Die Missionare kümmerten sich über die Jahre weiter um ihre ehemaligen Schüler und überließen sie nie ganz sich selbst. Sie übten weiterhin starken Einfluss auf die Entwicklung des Dorfes aus – bis es schließlich wurde, was es heute ist: ein moderner Ort“, erzählt Benigno Rodriguez.
Tatsächlich notierte der berühmte Kapuziner-Padre Basilio de Barral 1957, dass die Bevölkerung in der Gegend um Caño Araguao und Caño Sacupana im Wesentlichen aus „zivilisierten Ex-Schülern“ der Mission Araguaimujo bzw. der Mission Amacuro in Waussa bestand. Er bezeichnete Nabasanuka als „Musterdorf“.
1964 ging Benigno Rodriguez nach Araguaimujo, um sich zu bilden. Im gleichen Jahr brachten die Missionare einen Generator nach Nabasanuka und errichteten hier ein einfaches Missionshaus. Auf diese Weise wurde, gefördert von Monseñor Argimiro García de Espinosa, eine neue Mission gegründet, die Mission Nabasanuka. Hier wirkten – zeitlich aufeinander folgend – Padre Rafael Felizimo, Padre Enrique, Padre Damián de Larios und Padre Julio Lavandero. Auch jetzt, nachdem sich die meisten Kapuziner aus dem Delta zurückgezogen haben, besuchen Padre Damián und Padre Julio von Zeit zu Zeit die inzwischen aufgegebene Mission und halten die Messe. Padre Julio hat in Caracas zahlreiche Bücher über die Warao-Kultur veröffentlicht.
Benigno Rodriguez fährt fort: „1967 kam ein Schwimmbagger in den Caño Nabasanuka, schüttete das sumpfige Ufer mit Sand auf und schuf so die solide Uferbefestigung, die wir heute haben. Die Dörfler pflanzten eine Reihe Mangobäume darauf an. In den folgenden Jahren zeigten – insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes – immer mehr Politiker Interesse und organisierten auch den Bau des Betonweges, der an der Wasserfront entlang durch das Dorf führt. Darum benötigen wir in Nabasanuka – anders als in den meisten Delta-Siedlungen – keine Stege. Die Regierung ließ zwölf Wohnhäuser errichten – ohne die traditionell üblichen hohen Stelzen, sondern auf kleinen Sockeln beinahe zu ebener Erde, mit geschlossenen Holzwänden. Die Häuser sind inzwischen morsch geworden, weil die Leute sich nicht gekümmert haben. Sie sind es eben noch von den traditionellen palafitos (Pfahlbauten) gewöhnt, dass Reparaturen und Pflege wenig bringen, da die Hütten ohnehin kaum zehn Jahre halten und man dann eine neue bauen muss.
Auch eine Medizinstation und unsere Schule – die größte in weitem Umkreis – wurden gebaut. Leider gibt es aber oft überhaupt keine Medikamente. Die meisten Einwohner arbeiten in der Verwaltung. Wir kaufen Fisch und Früchte von anderen Dörfern, die traditioneller leben. Unsere Krankenschwestern und Lehrer stammen alle von hier. Wir sind 13 Lehrer für etwa 200 Schüler, von denen etliche aus umliegenden Siedlungen herkommen.
Wie ich Lehrer wurde? Ich verbrachte fünf Jahre in der Mission Araguaimujo, bis ich die Sechste Klasse absolviert hatte. Während meiner Zeit dort sah ich viele Filme von ‚draußen‘, also von der großen, weiten Welt, und diese Filme ließen in meinem Herzen eine Sehnsucht keimen, einen unbändigen Wunsch, ferne Länder zu bereisen. Ich schrieb meiner Freundin, die ich in der Mission kennengelernt hatte, nicht den obligatorischen Brief, sondern ging zur Marine. Jahrelang fuhr ich auf großen Schiffen umher und sah so das gesamte Karibische Meer.
Jedoch kehrte ich schließlich heim nach Nabasanuka: Meine Mutter brauchte mich hier. Weil mein Vater früh gestorben war, hatte sie irgendwann neu geheiratet – allerdings einen Mann, der zu viel Rum trank. Eines Tages, als er betrunken war, tötete er jemanden und musste ins Gefängnis. Meine Mutter war daher nun ganz allein. Als ihr ältester Sohn musste ich sie unterstützen.
Wie ich – nach all den Jahren – in Nabasanuka eintraf, war die erste Person, die mir zu Gesicht kam, meine Freundin von damals. Und so heirateten wir, und sie ging nach Tucupita, um Krankenschwester zu werden. 1976 suchte die Regierung aufgrund des Lehrermangels in der Delta-Region junge, lokal ansässige Menschen für ein Studium zu gewinnen. Ich war bereit“, schließt Benigno Rodriguez und lächelt. Die Mittagspause ist zu Ende. Er steht auf und trägt den kleinen Kinderstuhl, auf dem er gesessen hat, zurück in den Klassenraum.


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