Brasilien | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Es muss nicht immer MST sein…

Brasiliens Landarbeiterinnen mobilisieren für großen „Sternmarsch der Margeriten“

Dieses Jahr veranstaltet die Landarbeiterinnengewerkschaft MMTR (Movimento de Mulheres Trabalhadoras Rurais – Bewegung der Landarbeiterinnen) erneut ihren „Sternmarsch der Margariten“ – so benannt nach der 1983 ermordeten Gewerkschafterin Margarida Maria Alves (siehe Kasten). Sie wollen damit ihren Forderungen Nachdruck verleihen, die weit über die Forderung nach einer Agrarreform – wie sie die MST fordert – hinaus gehen. Als eine Frauengewerkschaft arbeitet sie vor allem für die Würde der Frauen im ländlichen Brasilien.

Tina Kleiber

Alle kennen die rote Fahne mit dem grünen Konterfei Brasiliens, mit einem Machete schwingenden Bauern und der an seiner Seite stehenden Frau. Dank einer hervorragenden Öffentlichkeitsarbeit und einer zentralen Organisation, ansässig im urbanen Süden Brasiliens, kann das MST niemand übersehen. Aber wer kennt schon die MMTR und die Marcha das Margaridas? Die MMTR ist eine Gewerkschaft für Landarbeiterinnen – ausschließlich von Frauen organisiert. Und bei dem „Sternmarsch der Margeriten“ handelt es sich um die bisher größte landesweite Mobilisierung der Landarbeiterinnen und Kleinbäuerinnen. Im Gedenken an die Gewerkschaftsführerin Margarida Alves (Siehe Kasten) kamen im August 2000 knapp 20.000 im ländlichen Raum arbeitende Frauen nach Brasilia.
Ihr Protest galt dem Hunger, der Armut und der Gewalt, die zu sehr ihren Alltag bestimmen. Die Frauen der MMTR verstehen sich als unabhängige Bewegung, gewerkschaftsnah, aber autonom in ihrer Organisierung, in ihren Entscheidungen und Forderungen. Mit dem MST gibt es kaum Berührungspunkte, denn die politischen Visionen und der Weg dorthin sind zu verschieden.
Dieses Jahr am 26. August hoffen die Veranstalterinnen die Teilnehmerzahl der Marcha zu verdoppeln. Das blumige Outfit der Frauen steht dabei in scharfem Gegensatz zu ihrer deutlichen Kritik an der Agrarpolitik sowie ihren klaren Forderungen nach Land, Wasser, einem würdigen Gehalt, Gesundheitsversorgung und einem Ende der sexistischen Gewalt. Lautstark soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die 19 Millionen Landarbeiterinnen eine wichtige Stütze der PT-Regierung sind und von Lula deutliche Zeichen für eine Wende in der Agrarpolitik erwarten.

Für mehr als „nur“ eine Landreform

Die Geschichte der Organisierung der auf dem Land arbeitenden Frauen ist bereits über zwanzig Jahre alt. Mit dem Ende der Diktatur knüpften die Landarbeiterinnen an die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit der brutal unterdrückten Ligas Camponesas an. 1981/82 begannen in verschiedenen Staaten des Nordostens wie Pernambuco und Paraíba, erstmals Frauen sich autonom zu organisieren und für eine Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen einzusetzen. Landbesetzungen waren damals wie heute letztes Mittel im Bemühen um soziale Gerechtigkeit. Denn anders als beim MST steht für die Frauen des MMTR nicht die Landfrage im Vordergrund sondern ihr „Empowerment“, ihre Selbstbestimmung. Natürlich wird keine der frauenbewegten Kleinbäuerinnen vergessen, die Landreform zu erwähnen, wenn man sie nach ihren Forderungen fragt. Aber sie nennt sie in einem Atemzug mit dem Kampf für den Zugang zu Wasser, zu Gesundheitsversorgung, zu kleinbäuerlichen Fördermaßnahmen sowie dem Wunsch nach einem würdigen Einkommen und dem Respekt vor ihrer Arbeit und Person.
Die Bewegung der Landarbeiterinnen existiert in ganz Brasilien und besteht aus einem Netzwerk von unzähligen Klein- und Kleinstgruppen, wobei der Nordosten mit rund 800 solcher Vertretungen über eine besonders hohe Organisationsdichte verfügt. In den frühen 80er Jahren – während einer jahrelangen Dürre – begannen die Frauen sich zu organisieren, um für bessere Hilfsmaßnahmen zu streiten. Denn Frauen hatten keinen Zugang zu den Notbeschäftigungsprogrammen der Regierung, der einzigen Arbeits- und Einkommensquelle während der Trockenheit. Für einen halben Mindestlohn im Straßen- und Brunnenbau arbeiten zu dürfen, das war das Ergebnis ihres ersten gemeinsamen Kampfes.

Als Frauen nicht ernst genommen

Dass sich die Frauen separat versammelten lag zunächst daran, dass die Gewerkschaften sie nicht ernst nahmen und ihnen teilweise sogar die Mitgliedschaft verweigerten. Was als Krisentreffen begann, wurde bald zu einem regelmäßigen Austausch. Auf ihren Treffen behandeln sie alle Themen, die das Leben der Frauen bestimmt: wie das tägliche Überleben der Familie organisiert werden kann und dass die Mehrfachbelastung der Landfrauen nicht wertgeschätzt wird. Aber auch konkrete Kampagnen zur Verbesserung der rechtlichen und damit auch sozialen Situation der Landarbeiterinnen werden besprochen und durchgeführt. Im Austausch mit der städtischen Frauenbewegung machten die Frauen auch Fragen der Gesundheit, insbesondere reproduktive Rechte und selbstbestimmte Sexualität zum Thema.
Den Großteil ihrer Arbeit macht aber die alltägliche gegenseitige Hilfe aus: in basisdemokratischen Netzwerken tauschen sie Informationen über den Zustand der Böden und die Wasserversorgung aus. Außerdem kümmern sie sich um den Aufbau von Schulen und machen Sendungen in kommunalen Radios.

Combatendo mentalidades de submissão – Die Unterwürfigkeit bekämpfen
Das Hauptproblem der Landarbeiterinnen des Sertão liegt nicht zuletzt darin, dass sie kaum über eigene Produktion und vermarktbare Waren verfügen. Anders als beispielsweise bei den Sammelwirtschafterinnen des Nordens machen die periodische Trockenheit, der fehlende Zugang zu Land, Wasser und Vermarktungsmöglichkeiten jegliche Chance auf selbstständige Einnahmequellen zunichte.
Die Folge ist eine massenhafte Migration in die Städte vor allem des Südens, wo die Frauen meist als Hausangestellte arbeiten und die Männer im Baugewerbe, vorausgesetzt sie bekommen überhaupt eine Arbeit. Die Bevölkerung des Sertão ist geschwächt durch Mangelernährung auf Grund von Dürreperioden. Aber auch eine ausreichende Gesundheitsversorgung fehlt genauso wie ein adequates Bildungssystem. Klientelismus und Unterwürfigkeit gegenüber den Gutsbesitzern charakterisieren das Verhältnis der Bevölkerung zu den politisch Verantwortlichen.
In dieser Hinsicht hat das MMTR am allermeisten geleistet: Die hier organisierten Frauen trauen sich den Mund auf zu machen, sie hinterfragen staatliche Politik und Maßnahmen der öffentlichen Hand, von denen sie ausgeschlossen werden: Wenn öffentliche Bewässerungsanlagen auf privatem Gelände gebaut werden oder wenn Frauen in Programmen der Agrarreform nicht berücksichtigt werden. Sie fordern die Versorgung „trockener Dörfer“ mit Wassertankwagen oder die korrekte Auszahlung von Hilfsgeldern wie z.B. bolsa escola (Schulgeld) oder vale gas (Gutscheine für Gas) für bedürftige Familien. Und sie haben mit eigenen Ideen bewiesen, dass Desertifikation und Hunger kein Schicksal sind sondern menschengemacht und veränderbar. In Zusammenarbeit mit kirchlicher und internationaler NRO-Unterstützung haben die MMTR-Frauen nicht nur beachtliche Bildungsarbeit geleistet sondern mit einfachen Maßnahmen bewiesen wie konkrete Verbesserungen in der Wasserversorgung und Ernährung möglich sind. Convivência com a seca – Zusammenleben mit der Trockenheit, nennen sich Schritte wie das Auffangen von Regenwasser, der Versuch kleine Wasserbecken anzustauen, Bachbetten zu säubern und Ufer zu bepflanzen und trockenresistentes Obst und Gemüse anzubauen.

2003 razões para marchar – 2003 Gründe zu demonstrieren

Besonders deutlich sichtbar werden die Erfolge des MMTR an dem neuen Selbstbewusstsein und dem Mut der einzelnen beteiligten Landarbeiterinnen. Aus dem Bewusstsein heraus, einer weitgehend rechtlosen Gruppe anzugehören, haben sie in den letzten 20 Jahren die Anerkennung des Berufs, den Respekt für die geleistete Arbeit in der eigenen Familie sowie konkrete Arbeits- und Sozialrechte erkämpft: z. B. das Recht auf Rente und Mutterschutz. Dieser Anspruch auf einen – wenn auch sehr geringen – Minimallohn (ca. 80 Euro) ist im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern ein Fortschritt, denn häufig gelten Mindestlöhne dort nicht für Landarbeiterinnen.
Gelungen ist auch die Beteiligung der Landfrauen an den Entscheidungsstrukturen der Gewerkschaften. Zwar sind Frauen insgesamt in den Vorständen weiterhin in der Minderheit, aber sie haben es geschafft, „ihre“ Anliegen auf die Agenda der Interessenvertretung zu setzen, ohne dass sie ihre Selbstorganisation aufgegeben haben. Die Kampagne für eigene Papiere und der Aufbau einer lateinamerikaweiten Vertretung haben die Mobilisierungskapazitäten des MMTR unter Beweis gestellt. Im Frühjahr wurde nach langem Ringen um Finanzierung das Sekretariat für die lateinamerikanische Koordination eröffnet. Seit dem ersten kontinentalen Treffen 1996, ebenfalls in Brasilien, bemühen sich die Vertreterinnen aus rund 25 Ländern um eine Institutionalisierung ihres Netzwerkes und die Vorbereitung des 2. Treffens im Mai 2005 in Mexiko.
Natürlich gibt es auch Rückschläge, Schwierigkeiten und jede Menge unerfüllte Forderungen – sonst müssten nicht Tausende Frauen nach Brasilia ziehen.
Die MMTR fordert, in Ernährungssouveränität, innovatives Wirtschaften und umweltverbessernde Maßnahmen zu investieren. Stattdessen lässt die Regierung Subventionen in die ökologisch fatale Sojaproduktion fließen und vergibt Kredite an die großen Viehwirte. Da bleibt den Landarbeiterinnen keine andere Wahl als sich selbst zu helfen.
Das schwierigste Thema war schon immer die Frage der Gewalt und der Straflosigkeit: Kürzlich wollte eine Filmemacherin das Leben der 1996 ermordeten Gewerkschafterin Expedita dokumentieren und stieß allseits auf beharrliches Schweigen. Zu lang ist die Liste der Frauen, die eines gewaltsamen Todes starben, egal ob durch einen Gutsbesitzer oder durch ein Familienmitglied. A paz no mundo começa em casa – Der Friede in der Welt beginnt im eigenen Haus – ist ein häufig getragenes Banner der MMTR-Frauen. Seit ein paar Jahren gibt es auch die Kampagne „Weisse Schleife“ in Anlehnung an die rote Aids-Schleife. Die Kampagne richtet sich an Männer, die bereit sind sich gegen häusliche Gewalt zu engagieren.

Die Autorin ist Lateinamerika-Referentin bei der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e.V.; die ASW unterstützt verschiedene lokale Gruppen der Bewegung der Landarbeiterinnen. www.aswnet.de

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