Deutschland | Lateinamerika | Nummer 287 - Mai 1998

Exilchilenen: Leben in der DDR

„Mit gepackten Koffern hinter der Tür“

An der Ost-Berliner Grenze, Nähe Friedrichstraße, steht eine junge hochschwangere Frau – eine Chilenin. Wie viele andere Emigranten war auch sie über Helsinki und Frankfurt am Main in die DDR gekommen. Als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes in Chile stand sie auf Pinochets Abschußliste. Warum aber wählte sie die DDR als politisches Asyl? Sie sprach kein Wort Deutsch und das bißchen was sie über das Land gehört hatte, klang nicht gerade verheißungsvoll. „Eigentlich war es ja Zufall, daß ich ausgerechnet in die DDR kam,“ sagt sie später. Ihr Mann, ebenfalls aktiver Kommunist, hatte sich nach dem Putsch in die finnische Botschaft in Santiago gerettet, die zunächst die konsularischen Geschäfte der DDR übernommen hatte. (Die DDR hatte nach dem 11. September alle diplomatischen Beziehungen zu Chile abgebrochen). Im Dezember 1973 kam er dann schließlich in seiner „Wahlheimat“ an.

Katrin Neubauer

Über zwei Stunden wartet die junge Chilenin in der Friedrichstraße, bis endlich ein Auto vorfährt. Zwei Männer, vermutlich von der Staatssicherheit, treten auf sie zu und schieben sie, Sekunden später, in den Wagen. Das Ziel ist unbekannt; die Fahrt erscheint unendlich lang. Nach über zwei Stunden kommen sie in Eisenhüttenstadt an. Im Hotel Lanik, der ersten Aufenthaltsstation vieler Chilenen, stehen Dolmetscher und Betreuer bereit. Die junge Frau wird noch am selben Tag ins Krankenhaus gebracht, wo am Abend ihr erstes Kind das Licht der Welt erblickt. Ihr Mann, der bereits einen Job im Dresdner Foto-Betrieb Pentacon bekommen hat, weiß nichts von der Ankunft seiner Frau. Am nächsten Morgen wird er knapp vom Abteilungsleiter informiert: „Es ist ein Mädchen.“
Bereits am 25. September 1973, zwei Wochen nach Pinochets Putsch, beschloß das DDR-Politbüro „Solidaritätsmaßnahmen“ zur Aufnahme politischer Flüchtlinge aus Chile. Die Unterbringung und Eingliederung der Emigranten lief – für DDR-Verhältnisse – relativ unbürokratisch ab. Über den FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) und das Solidaritätskomitee der DDR wurden Mittel bereitgestellt, um die Unterbringung, Betreuung und Einkleidung der Chilenen zu finanzieren. Bis Dezember 1974 flossen insgesamt 9,6 Millionen Mark, zum großen Teil aus Mitteln des FDGB, in die Eingliederungsmaßnahmen der chilenischen Flüchtlinge. So erhielt jede Emigrantenfamilie mindestens 2.500 Mark Übergangsgeld um die Zeit, bis ein Job für sie gefunden wurde, zu überbrücken. Das entsprach mehr als dem Dreifachen des durchschnittlichen Monatsverdienstes einer ArbeiterIn in der DDR. Zur Einrichtung von Wohnungen gewährte der Staat langfristig zinslose Kredite, die in sehr niedrigen Raten (5% des Nettoeinkommens) abzuzahlen waren (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv [SAPMO, BArch-ZP], Sign.-Nr. DY 301 IV B 2/20/201).
Die ersten zwei Monate verbrachten die chilenischen Neuankömmlinge zunächst in größeren Sammelstellen, meist Hotels oder FDGB-Ferienheimen, wo sie medizinisch betreut und ihre Papiere in Ordnung gebracht wurden. Danach teilte man sie auf die verschiedenen Bezirke, wie Halle, Dresden, Gera, Suhl, Cottbus, Leipzig und Rostock auf. Dort hatten die Bezirksräte die unpopuläre Aufgabe, Wohnungen und „zumutbare“ Jobs für die Emigranten zu finden. Das Erste war angesichts chronischer Wohnungsnot und dementsprechend langer Wartelisten von Wohnungssuchenden ein besonders delikates Unterfangen. Von oben hieß es, die Chilenen müßten bei der Bereitstellung von Wohnungen unbedingt bevorzugt werden – so schrieb es die internationale Solidarität vor.
Aber der „normale“ DDR-Bürger war diesbezüglich weniger einsichtig und ließ hin und wieder seinen Unmut über die „Wohnungsräuber“ freien Lauf. Sonia Cifuentes, Emigrantin und ehemals Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes in Chile erzählt: „Ich arbeitete am Fließband in der Endfertigung bei Pentacon. Eine Frau neben mir warf mir immer böse Blicke zu und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand. Später erfuhr ich, daß sie mir vorwarf, den Leuten in der DDR die Wohnungen wegzunehmen und mir riet, doch wieder nach Chile zurückzukehren.“ Derartige Kritik erfuhr jedoch schnell einen Dämpfer von oben – und Ruhe war.
Hin und wieder gab es auch Prügeleien zwischen chilenischen und deutschen Arbeitern, aus ähnlichen Gründen. Aber irgendwann hörten die Feindseligkeiten auf. „Als wir die DDR-Arbeiter besser kennenlernten, merkten wir, Arbeiter sind überall auf der Welt gleich. Nur deutsche Arbeiter können nicht tanzen,“ fügt Sonia amüsiert hinzu.
Aggressive Ausländerfeindlichkeit kam aber auch deshalb nicht auf, weil die Zahl der Emigranten relativ gering war. Im April 1975 lebten knapp 1.000 chilenische Flüchtlinge in der DDR, wovon – nach Angaben des Politbüros – ca. 880 bereits Arbeit und Wohnung hatten. Fast ein Drittel von ihnen waren Mitglieder der KP bzw. des Kommunistischen Jugendverbandes. Daneben waren etwa 130 Mitglieder des Sozialistischen Jugendverbandes und die Führung der Sozialistischen Partei in die DDR emigriert. Der Rest gehörte der Radikalen Partei, linken Splittergruppen (MAPU, MIR) oder keiner politischen Gruppierung an.

Aller Anfang ist schwer

Für viele chilenische Flüchtlinge bedeutete das Asyl in der DDR eine radikale Veränderung ihres Lebens. Während der ersten Jahre glaubten die meisten, bald zurückkehren zu können. „Wir lebten ständig mit gepackten Koffern hinter der Tür.“ Diese dauerhafte Aufbruchsstimmung wurde bis 1978 auch von den chilenischen Parteiführungen geschürt, die sich in der DDR zum Antifaschistischen Chile-Komitee, einer Art kleinen Unidad Popular im Exil, zusammengeschlossen hatten. Das Komitée, insbesondere die KP, orientierte die Emigranten nur auf einen kurzfristigen Aufenthalt und warb für eine schnelle Rückkehr nach Chile, um in den Reihen des Volkes gegen Pinochets Diktatur zu kämpfen. Einige kamen den Aufforderungen, ihren Ideen doch Taten folgen zu lassen, nach. Viele aber kostete die Rückkehr in ihre Heimat das Leben.
Innerhalb des DDR-Politbüros gab es verhaltene Kritik an den Aufbruchsermutigungen der KP-Führung. Schließlich war die Eingliederung der Emigranten mit einem erheblichen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden. Chilenische Studenten brachen ihr Studium oder ihre Ausbildung ab, um den Aufforderungen der KP nachzukommen. Einige wollten gar nicht erst Deutsch lernen, weil sie eine „Germanisierung“ befürchteten (SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 301 IV B 2/20/102). In der Basis der Kommunistischen Partei erweckte die Schieberei lukrativer Studienplätze unter emigrierten Mitgliedern der KP-Führung Unmut und Verdrossenheit.
Trotz einiger argwöhnischer Blicke in Richtung innere Angelegenheiten der Emigranten, enthielt sich die SED-Führung jedoch jeglicher Einmischung. Ihre Verantwortung endete da, wo die sozialen Belange der Chilenen einigermaßen befriedigt waren. Unstimmigkeiten politischer Natur hatten sie unter sich zu lösen.
Ein weiteres Problem für die Chilenen war die völlige Umstellung ihrer sozialen Gewohnheiten. Zunächst mußte sich die Mehrheit der Emigranten mit Hilfsarbeiterjobs und einem Monatsverdienst von 400 bis 600 Mark zufriedengeben, ein Gehalt das einen bescheidenen Lebensstandard, aber auch nicht mehr, sicherte. „Die verschiedensten Leute vom einfachsten Arbeiter, gefolterten Gefangenen bis hin zum Wissenschaftler kamen in die DDR. In Cottbus zum Beispiel, waren die Massen der emigrierten Arbeiter untergebracht. Aber die Mehrheit der Emigranten waren Studenten, Akademiker, Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte. Mindestens 90% der Leute hatten ein Abitur,“ erklärte Sonia. Am schwersten fiel es jedoch emigrierten Bürgerlichen, wie zum Beispiel dem ehemaligen Justizminister der Allende-Regierung, und Künstlern, in der DDR Fuß zu fassen. Erstere vermißten die Standards gehobener gutbürgerlicher Lebensweise. Die KünstlerInnen, hauptsächlich in Rostock angesiedelt, kamen wahrscheinlich mit der Kultur des sozialistischen Realismus und der künstlerischen Enge in der DDR nicht zurecht. Einige kapitulierten schließlich vor der Realität einer Gesellschaft, die sie in Chile besungen hatten; sie zogen dem lieber das kapitalistische, aber an künstlerischen Freiheiten weit mehr bietende Frankreich, ja sogar Venezuela und Peru vor.

Und heute?

Nach dem Mauerfall herrschte unter den DDR-Chilenen Verwirrung gepaart mit Aufbruchsstimmung – Aufbruch in eine Heimat, die vielen über die Jahre hinweg politisch fremd geworden war. Die meisten kehrten Anfang der 90er Jahre zurück. Andere wiederum hatten sich an die Beschränkungen, die Ecken und Kanten der DDR gewöhnt, eine mehr oder weniger bescheidene Karriere gemacht und eine neue Heimat gefunden. Mit der Wiedervereinigung wurde ihnen nun plötzlich auch diese, wie ein Teppich unter den Füßen, weggezogen. Trotzdem kam ein Zurück nach Chile nicht in Frage. Sonia erzählt offen: „Als die Mauer fiel, habe ich geheult, denn ich wußte ja, was nun kommen würde. Ich hatte den Kapitalismus in Chile noch gut in Erinnerung. Meine schöne heile Welt war zusammengebrochen.“
Am belastendsten war zunächst die juristische Unsicherheit. Viele fürchteten, ausgewiesen zu werden. Nachdem sich das antifaschistische Chile-Komitee aufgelöst hatte, gründeten die im Osten Berlins verbleibenden Chilenen im November 1991 den Verein „Gabriela Mistral,“ der ihnen Rechtsbeistand in Sachen Aufenthaltsgenehmigung bot. In Rostock bildete eine kleine Gruppe von Chilenen den Arbeitskreis TALIDE, eine Organisation, die sich für Entwicklungsprojekte in Chile engagiert.
Heute leben noch rund 6.700 Chilenen in der gesamten Bundesrepublik. Die meisten sind auf ihrer jeweiligen Seite der ehemaligen Mauer geblieben. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die Ost- und Westchilenen während des Exils sammelten, haben neue, voneinander verschiedene Identitäten geformt. Während viele in der DDR gebliebenen Chilenen ihre Exilzeit, wenn auch mit Abstrichen, überwiegend positiv beurteilen – viele schätzen noch heute die Ausbildungsmöglichkeiten in der DDR – klagen einige Westchilenen über die geringen beruflichen Chancen, die ihnen das Leben im Exil zuweilen sehr schwer machten. Hin und wieder fiel dann auch ein neidendes Wort über die „privilegierten“ Schwestern und Brüder im Osten. „Die beiden verschiedenen Systeme haben uns stärker geprägt als unsere gemeinsame Vergangenheit in Chile,“ erklärt Manuel Huertas, Präsident von „Gabriela Mistral.“ „Wir sind inzwischen mehr mit der DDR als mit Chile verwachsen. Einige von uns waren seit ihrer Ausreise nach dem Putsch nie wieder dort.“ Und schmunzelnd fügt er hinzu, daß unter den Berliner Ostchilenen, wie in der DDR eben, weit mehr Solidarität und Zusammenhalt herrsche als unter den „Wessis.“ Heute sind die aufreibenden Streitereien der Nachwendezeit beigelegt, die erhitzten Gemüter beruhigt, man lernt miteinander umzugehen, spricht höflich voneinander und lebt nach wie vor jeder auf seiner Seite der ehemaligen Mauer.

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