Gewerkschaftlicher Aufwind
Arbeit und Einkommen sind heute das wichtigste Thema für die Bevölkerung
Nelson Cantillo ist ein besonnen auftretender Mann. „Wir nehmen nicht mehr als unsere Rechte war, die vom Staat verletzt werden“, erklärt der mittelgroße Mann mit dem hohen grau melierten Haaransatz. Cantillo ist Vorsitzender der Justizgewerkschaft Asonal Judicial und als solcher in Kolumbien in den letzten Wochen häufiger in den Medien zu sehen. Seine Gewerkschaft befand sich über Wochen im Arbeitskonflikt mit der Regierung und Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos und in kaum einer Stadt des Landes waren Richter_innen, Staatsanwält_innen und Angestellte der Gerichte nicht auf den Beinen.
„Der Staat hat ihnen einen fairen Lohnausgleich vorenthalten“, so der Abgeordnete des Linksbündnisses Alternativer Demokratischer Pol (PDA), Iván Cepeda Castro. „Dann auf die Straße zu gehen ist legitim, denn unter steigenden Preisen haben auch Staatsanwält_innen, Ermittlungsbeamt_innen und Büroangestellte zu leiden. Anders als früher mussten sich die Mitarbeiter_innen im Justizsektor diesmal immerhin nicht von den Medien angreifen lassen“.
Noch 2008 war das der Fall. Da griff der damalige Präsident Álvaro Uribe Vélez die Richter_innen, Staatsanwält_innen und Justizangestellten heftig an, und die Medien assistierten ihm. 2012 haben sich die Vorzeichen vollkommen geändert. „In der Bevölkerung wurde der Streik als berechtigt wahrgenommen“, erklärt Alirio Uribe, ein international bekannter Menschenrechtsanwalt. Und nicht nur in den großen Städten wie Bogotá oder Medellín, sondern auch in kleineren wie Popayán gingen die Leute auf die Straße. Die Bereitschaft, für die eigenen Rechte einzutreten, hat zugenommen, konstatieren Beobachter_innen wie Alirio Uribe oder Luciano Sanín. Beide stehen den sozialen Bewegungen sehr nahe. Uribe vertritt indigene Dorfgemeinschaften genauso wie Opfer von Menschenrechtsverbrechen. Sanín ist Leiter der Gewerkschaftsschule in Medellín, wo neue Konzepte und Strategien für die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung erdacht werden.
Die sah lange überaus düster aus, denn Kolumbien ist weltweit das gefährlichste Terrain für Gewerkschafter_innen. Seit Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts sind rund dreitausend organisierte Arbeiter_innen in Kolumbien ermordet worden. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad sank von einst rund zwanzig auf vier Prozent, wie Anwalt Alirio Uribe berichtet. Er ist gerade in Europa gewesen, um beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen der systematischen Gewerkschaftsmorde vorstellig zu werden. Internationaler Druck auf allen Ebenen ist das Rezept, mit dem es in den letzten zwei, drei Jahren gelungen ist, die Verfolgung der Gewerkschafter_innen in Kolumbien etwas zu mindern. Diese Atempause zeitigt Wirkung, denn in Kolumbien wird deutlich mehr gestreikt als noch vor ein paar Jahren. Das hat etwas mit steigenden Preisen zu tun, aber auch damit, dass die Arbeiter_innen und Angestellten ihren Anteil am beachtlichen Wirtschaftswachstum der letzten Jahre fordern. Das bestätigen auch Umfragen von Meinungsforschungsinstituten wie Gallup. Während sich die Kolumbianer_innen vor einigen Jahren noch am meisten Sorgen über die Sicherheit machten, ist es heute die Arbeits- und Einkommenssituation. Luciano Sanín erklärt: „83 Prozent der Bevölkerung haben das angegeben, und dazu passt, dass die Gewerkschaftsbewegung in Kolumbien heute deutlich aktiver ist, besser wahrgenommen wird. Es wird gegen die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen und für die Formalisierung von Arbeitsverhältnissen eingetreten“. Der Leiter der Gewerkschaftsschule (ENS) von Medellín ist ein umtriebiger, bestens vernetzter Aktivist, der sich für Arbeitsrechte einsetzt. Im Kontext des Freihandelsvertrages zwischen den USA und Kolumbien hat er gemeinsam mit den Gewerkschaften in den USA versucht, Mindestanforderungen für die Kolleg_innen in Kolumbien durchzusetzen. Auch in Brüssel, Berlin und Paris war der hagere Mann mit dem streng nach hinten gekämmten Haarschopf zugegen, um bei der EU-Kommission und deren wichtigsten Mitgliedern auf ein Mehr an Arbeits- und Menschenrechten zu dringen. Mit gemischtem Erfolg.
Aber immerhin hat der internationale Druck, der in diesem Kontext aufgebaut wurde, dafür gesorgt, dass sich der Handlungsspielraum der Gewerkschaften in Kolumbien erweitert hat. Diesen Spielraum hat die Gewerkschaftsschule in den letzten Jahren zu neuen Initiativen genutzt, um die drei Dachverbände, die es gibt, zu stärken. Dies ist Aufgabe der Einrichtung, die in einer von Handwerksbetrieben geprägten Fußgängerzone im Zentrum von Medellín ihren Sitz hat. Über einem Elektrofachgeschäft weisen die drei Buchstaben ENS, die an die Scheiben montiert sind, auf die Bildungseinrichtung hin. Der von einer Kamera bewachte und mit einer Panzertür gesicherte Eingang ist Beleg dafür, dass Gewerkschaftsarbeit in Kolumbien überaus riskant ist. Daran hat sich trotz aller internationalen Hilfen nichts geändert. „Aber wir haben es geschafft, einige neue Initiativen zu starten, und wir können kleine Zuwächse verzeichnen“, erklärt Sanín in seinem Büro, das im über einen Innenhof zugänglichen Hinterhaus der weitläufigen Schule liegt. Dort befindet sich im Untergeschoss die Bibliothek, wo geforscht und analysiert wird, in den drei Stockwerken darüber die Verwaltung der Schule. Diese beschäftigt rund 50 Mitarbeiter_innen, darunter Wissenschaftler_innen, Dozent_innen und auch Medienprofis, die sich um die Außendarstellung der Gewerkschaften Gedanken machen.
Diese ist deutlich besser geworden. „Das alte Vorurteil, dass die Gründung einer Gewerkschaft gleich den Untergang des ganzen Unternehmens nach sich zieht, ist zwar noch präsent, aber auch auf dem Rückmarsch“, erklärt Sanín schmunzelnd. Er ist mit einer ganzen Reihe von Unternehmen im Gespräch, verhandelt gerade mit den Stadtverwaltungen von Medellín und Bogotá, um Tarifverträge umzusetzen und Arbeitskonflikte beizulegen, hat aber auch die Gründung der Carrefour-Betriebsgewerkschaft im November 2011 begleitet. Carrefour, die zweitgrößte Supermarktkette der Welt, hatte in Kolumbien jahrelang keine eigene Gewerkschaftsvertretung. Und das trotz eines internationalen Abkommens, welches zwischen dem internationalen Gewerkschaftsdachverband UNI Global Union und Carrefour existiert und den Gewerkschaften Organisationsfreiheit zusichert. Die Umsetzung dessen haben die Carrefour-Mitarbeiter_innen schließlich eingefordert, erklärt Sanín. „Das war die Eintrittskarte für die Gründung der Gewerkschaft, der heute rund 4.000 der 10.500 Mitarbeiter_innen angehören. Ein Organisationsgrad, der für Kolumbien sehr hoch ist, denn im Landesdurchschnitt sind gerade fünf Prozent der Arbeitnehmer_innen gewerkschaftlich organisiert. Allerdings mit steigender Tendenz.
„Es gibt leichte Zuwächse, weil das Klima nicht mehr ganz so feindlich ist und weil wir neue Ansatzpunkte suchen“, ergänzt Edwin Villamil. Er ist der Organisationsverantwortliche an der ENS und versucht derzeit, das Beispiel Carrefour beim Branchenprimus, der Supermarktkette Éxito mit 400 Filialen und 40.000 Mitarbeiter_innen, umzusetzen. Das ist allerdings ungleich schwieriger, weil es dort kein internationales Abkommen gibt, sondern nur die nationalen Gesetze. Diese billigen den Gewerkschaften zwar das Recht auf Organisation zu, werden in der Praxis jedoch oft unterlaufen. Das ist bei Éxito so und auch bei Claro, dem größten Mobilfunkanbieter Kolumbiens. Ähnlich wie Carrefour haben sie eine junge Belegschaft – und die hat Villamil im Visier. Regelmäßig trifft er sich mit organisierten Arbeiter_innen, um sie zu beraten.
Alles andere als einfach, aber auch diese Form der Grundlagenarbeit trägt Früchte. Ohne Druck von unten bewegt sich nichts. Das zeigen auch die derzeit laufenden Verhandlungen mit internationalen Konzernen wie Kimberly Clark oder Zara. In beiden Unternehmen sind es dabei die internationalen Abkommen, die den Organisationsprozess erleichtern, aber die Organisation an der Basis ist die Voraussetzung.
Diese wird allerdings oft beschnitten, wie das Beispiel des spanischen Versicherungsunternehmens Prosegur zeigt. Letzteres versucht mit allen Mitteln, den Organisationsprozess zu unterlaufen. Einschüchterung der Mitarbeiter_innen, Rahmenabkommen, die so genannten pactos colectivos, die nur mit der Belegschaft unter Umgehung der Gewerkschaften abgeschlossen werden, sind die gängigen Instrumente. Sie werden auch von Unternehmen mit deutschem Stammsitz wie der DHL eingesetzt, wie internationale Studien belegen. Doch es gibt auch Gegenbeispiele wie das Abkommen mit BanColombia, dem größten Bankunternehmen Kolumbiens, wo Sanín derzeit Verhandlungen führt, um den Aufbau einer Gewerkschaft in einer übernommenen Bankengruppe in El Salvador zu ermöglichen. „Wir haben ein relativ gutes Verhältnis mit dem Unternehmen, wo rund 5.000 der 17.000 Mitarbeiter_innen organisiert sind“, schildert Sanín die Verhältnisse. Ähnlich gute Kontakte hat der ENS-Direktor zum größten Zementhersteller des Landes, dem Unternehmen Argos, wo 2006 mit einem Rahmenabkommen alle Konflikte beigelegt wurden.
Dieses Abkommen könnte Pate stehen in den laufenden Verhandlungen mit den Stadtverwaltungen von Medellín und Bogotá. Beide sind große Arbeitgeber, die in der Vergangenheit gewerkschaftliche Organisationsprozesse unterlaufen haben. Nun scheinen sie auf einen Kurs in Richtung Formalisierung von Arbeitsverhältnissen und des Ausgleichs umzuschwenken. Das passt durchaus zum Kurs der Regierung in Bogotá, die statt dem Outsourcing, der Anstellung der Arbeitnehmer_innen bei Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen ohne jegliche Rechte, auf die Formalisierung der Arbeitsverhältnisse setzt. „Eine hundertachtzig-Grad-Wendung im Vergleich zur Vorgängerregierung“, so Sanín. Der sieht die Gewerkschaften nach fast dreißig Jahren im permanenten Niedergang nun im leichten Aufwind. Ein Fortschritt, an dem die ENS ihren Anteil hat, der aber ohne die internationale Unterstützung kaum möglich gewesen wäre. Auf die sind Gewerkschaftsschule und Gewerkschaften auch weiterhin angewiesen. „Der Aufschwung erfolgt schließlich von ganz unten“, wie Luciano Sanín mit einem bitteren Lächeln zu bedenken gibt. Eindrucksvolle Demonstrationen wie die der Justizangestellten sind bisher nämlich noch die Ausnahme.