Literatur | Nummer 511 – Januar 2017

HINTER DEN KULISSEN DER CIDADE DE DEUS

Im international wohl berüchtigsten Viertel von Rio de Janeiro fand im November das Favela-Literaturfestival FLUPP statt

Die FLUPP, die Festa Literária das Periferías (Literarisches Festival der Peripherien) zeigt die andere, die künstlerische Seite der brasilianischen Armenviertel. Es zeigt, dass Brasilien jenseits der kulturellen Hegemonie der Mittelschicht eine rege Kulturszene mit politischem Anspruch besitzt. Eine Reportage über ein Festival, das Klischees aufbricht und Grenzen überwindet.

Von Gundo Rial y Costas

Für viele Menschen liegt die Cidade de Deus ganz weit draußen, im Niemandsland. Drei lange Busstunden vergehen, bis die „Gottesstadt” im tiefen Westen Rios endlich erreicht ist. Selbst Fahrgast Mario aus dem Nachbarviertel Rio das Pedras hat noch nie einen Fuß in den berühmt berüchtigten Favelakomplex gesetzt. Ächzend unter der Mittagshitze stößt er hervor: „Also Cidade de Deus, da war ich noch nie, Gott sei Dank! Ich mag das Klima einfach nicht”. Befragt, ob es denn dort zu heiß sei, entgegnet er mit ernster Miene: „Nein, wegen des Klimas der Gewalt.”

Brasilianischer Poetry Slam: Lucienne Carvalho über die Welt der vergessenen Psychiatriepatient*innen (Fotos: Katja Hölldampf)

Angekommen, im Grundschulzentrum an der Praça Cidade de Deus. Dort findet die FLUPP, die Festa Literária das Favelas in Rio de Janeiro statt. Es ist die Hölle los. Heiße Rap-Battles spielen sich in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Freiluftzelt während des Jugend Poetry Slam Finales ab. Fast ausschließlich Teenager*innen aus über einem halben Dutzend Schulen der Peripherie von Rio de Janeiro treten auf, mitunter auffällig gestylt: Mit blau- und grüngefärbten Haaren tragen sie selber etwas vor oder unterstützen lautstark die Mitschüler*innen. Unter tosendem Applaus, Stühle in die Höhe recken und Umarmungen inklusive, kürt die Publikumsjury die 17-jährige Poliana Oliveira zur Siegerin. „Literatur kann alles verändern”, sagt sie strahlend, gelehnt an ihre Partnerin Carina. „Sie verleiht uns eine eigene Stimme, andere Leute erfahren so von unserer Positionierung”. Carina stellt klar, dass es in ihren Texten um ihr Leben als junge, schwarze Frauen aus der Favela gehe, die sich für Soziales, Politik und Umwelt interessieren. Dazu passen sowohl der gegen den repressiven Interimspräsidenten gerichtete „Temer raus”-Sticker auf Polianas Kleid als auch der Aufkleber auf Carinas Polo-Shirt. Auf dem wird der Kandidat der Linkspartei PSOL Marcelo Freixo für die Bürgermeisterwahl beworben.
Das mehrere hundert Leute fassende Auditorium ist gefüllt mit aufmerksamen Schüler*innen, Anwohner*innen und (inter)nationalen Festivalteilnehmer*innen. Kritisch diskutieren Kommunalmedien- und Politik-Aktivist*innen die eher negative Auswirkung des mitunter klischeebehafteten Films City of God. Der von Regisseur Fernando Meirelles nach dem Favelakomplex benannte, preisgekrönte Kinohit habe zu einer verfälschten Wahrnehmung von „Favela gleich Drogenkriminalität” beigetragen. Das stellt René Silva fest, international bekannter Herausgeber der Favelazeitung Voz da Comunidade. Applaus. Über der Bühne prangt in geschwungenen Lettern „Wir sind alle eins”, das diesjährige Motto des Festivals. Damit werde die Gleichheit der Menschen hervorgehoben. Dies mache sich auch an dem hohen Anteil von afrobrasilianischen Teilnehmer*innen, Frauen und Vertreter*innen der Trans*-Community deutlich, erklärt FLUPP-Veranstalter Ecio Sales stolz.
Zwischen Auditorium und Zelt herrscht  Schulhof-Stimmung. Die versammelten Teenager*innen aus der Nachbarschaft tuscheln, flirten, rauchen. In einem kleinen Plastikzelt wird zur Teilnahme an dem Kunstprojekt „The Machine to be Another” geladen. Durch eine Kameramaske könne man per Videoanimation virtuell in den Körper eines anderen hineinschlüpfen, erklärt Chester Preston. Er gehört zum Künstler*innen-Kollektiv BeAnotherLab. Julio Ludemir, Co-Festivalveranstalter, führt aus, er habe die Installation auf einer Kunstausstellung in Paris gesehen und sofort daran gedacht, sie in einer Favela zu zeigen. An einem Ort, an dem viele schwarze Jugendliche von der Polizei getötet werden. Neugierig nehmen die beiden Teenager afrobrasilianischer Herkunft Felipe und Paulo Cesar an dem Projekt teil. „Ah, das macht Angst, sich wie jemand anderes zu fühlen!”, ruft Felipe. Lachend verschwinden die beiden in der Menge.
Auch am Bücherstand herrscht großes Gedränge. Unter anderem werden die preisgekrönten Werke der durch die FLUPP entdeckten Autor*innen angeboten. Lyrik, Kurzgeschichten und auch ein autobiographischer Roman von Raquela Oliveira stehen zur Auswahl. In ihrem Band Die Nummer Eins erzählt die Autorin vom Leben an der Seite eines mächtigen Drogenbosses in der Rocinha, Rio de Janeiros größter Favela. Innovativ ist auch der schmale Band Cidade de Deus Z, in dem der kürzlich verstorbene Regisseur Julio Pelcy eine Zombi-Invasion in der Cidade de Deus beschreibt. Die FLUPP-Schirmherrin und berühmte Literaturkritikerin Heloisa Buarque de Holanda erklärt: Ein Großteil dieser Texte gehöre zu der sogenannten Marginalliteratur und könne als neues Subgenre der brasilianischen Literatur betrachtet werden.
An einem aus Holzkisten improvisierten Büchergabentisch nebenan, tobt der Bär. Riesige Stapel an „freigelassenen Büchern”, wie Veranstalter Ecio die Buchspenden nennt, dürfen gratis mitgenommen werden. Eine Teenagerin aus der „Gottesstadt” streitet lautstark mit einer Freundin um die drei Bände der Vampirsaga Twilight.

Vor dem neuen Schulhofgraffitit: FLUPP Veranstalter Ecio Sales mit DJ TR und MC Mingau

In ihrer mittlerweile fünften Auflage ehrt die FLUPP auch das 50 Jahre junge Geburtstagkind Cidade de Deus. An einem eigens dafür auserkorenen Baum auf dem Schulhof kann man auf kleinen weißen Zetteln seine Wunschbotschaft für die nächsten fünfzig Jahre des Stadtviertels anbringen. Drei Buchstaben bringt der Schüler Jonathan zu Papier. Darauf steht in krakeligen Lettern „Paz”, Frieden. Genau das, was aufgrund der Bandenkriege und der Polizeigewalt ein kostbares Gut in der Region ist, wie TR, Jugend-Sozialprojektleiter und brasilianischer Vertreter der weltweit ersten Hip-Hop School, der Zulu Nation, versichert. Seine zehnjährige Tochter verfolgt mit großen Augen das bunte Festival-Treiben.
TR, beide Sozialaktivisten, Veranstalter Bruno Rangel und MC Mingau sind einflussreiche Integrationsfiguren des Favelakomplex. Über ein Jahr haben sie den Dialog zwischen Community, Drogenbanden und der hiesigen Befriedungspolizei (UPP) geführt. Alle Seiten haben einen Waffenstillstand für die Dauer der FLUPP zugesagt, beteuern sie. MC Mingau verfolgt das wuselige Geschehen am Buchstand mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht: „Für mich ist Literatur das fünfte Element des Hip Hops, zusammen mit DJ, MC, Graffiti und Breakdance.”
Über mehrere Tage wird auch ein nationaler und internationaler Poetry Slam ausgetragen. Vertreter*innen aus ganz Brasilien, Lateinamerika, Afrika, Kanada und Europa batteln sich, einige auch in Gebärdensprache. In den Beiträgen geht es hauptsächlich um Alltagsthemen. Die Teilnehmer*innen behandeln Machismo, Homosexualität und Diskriminierung. Ein Beispiel ist das Leben der „Unsichtbarsten aller Unsichtbaren”, wie Lucienne Carvalho aus Matto Grosso die Welt der vergessenen Psychiatriepatient*innen in ihrem Slam bezeichnet.
Durch den Wettbewerb führt Roberta Estrella mit ihrer Bassstimme. Knisternd und ansteckend ist die Stimmung. Lautstark unterstützt das Publikum die Vortragenden mit Gesten und Geräuschen. Als der Kanadier Chris Tse in einem seiner Nonsense-Reime „Temer raus” anstimmt, schreit das Publikum aufgebracht mit.
Die Protestrufe wenden sich nicht nur gegen den Interimspräsidenten, sondern auch gegen den neuen, ultrakonservativen evangelikalen Bürgermeister Marcelo Crivella. Dieser hat mit alternativer Kultur nicht viel am Hut. Das Ministerium für Kultur ist dem Tourismus-Ministerium unterstellt worden, erklärt Mine Monix besorgter Mine, die in der ärmlichen Nordzone der Stadt aufgewachsen ist und früher selbst an der FLUPP teilgenommen hat. Aufgrund des Politikwechsels werden viele Kulturveranstaltungen Fördermittel verlieren. Die neue Stadtregierung unterstütze lieber kommerzielle Megaevents im wohlhabenden Copacabana-Viertel, kritisiert die Poetin. Da die Stadt und das Kultusministerium zu den Hauptsponsoren gehören, steht die Zukunft des Festivals nicht unter dem besten Stern.
Die politische Dimension des Festivals wird überall deutlich. An Wäscheklammern ist eine Fotoserie über die Zwangsumsiedlungen in der Favela Vila Autódromo aufgehängt. Das Viertel musste mehrheitlich dem Bau der Einrichtungen für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro weichen. An der Wand des Schulgebäudes gibt es eine Schau von Plakat-Repliken. Sie rufen zum Widerstand auf, gegen den kalten Putsch und Kürzungen des Bildungsetats.
Die diesjährige FLUPP ist besonders politisch. Davon zeugen auch die Diskussionsrunden über Polizeiwillkür, Rassismus im Kino und der Modewelt, und schwarze, sowie indigene Frauen-Diasporaliteratur. Auch die an ihrem dritten Roman arbeitende Jungautorin Nadifa Mohamed ist positiv von dem Enthusiasmus der Menschen angetan: „Auf vielen anderen Literaturfestivals weltweit, wo ich aus meinen Romanen vorlese und an Diskussionsrunden teilnehme, geht es oft mehr um das Luxuriöse der Glitzerwelt.” Hier sei das aber anders, stellt die charismatische somali-britische Schriftstellerin fest: „Das passt gut zu mir, ich bin schließlich selbst eine wandelnde Peripherie, ich bin immer die Outsiderin”, und lacht dabei. Im vollbesetzten Auditorium sinniert der in Martinique aufgewachsene französische Schriftsteller und Theoretiker Patrick Chamoiseau darüber, „dass man lernen muss, die Favela zu verstehen, besser fruchtbar für postkoloniale Theorien zu machen, um Rassismus und menschliche Distanz zu verringern.” Tosender Applaus.
Diese zur Sprache gebrachte menschliche Nähe findet man vielerorts auf der Veranstaltung. Wie auf den lachenden Gesichtern der Kinder, wenn sie mit „FLUPP” bedruckte Drachen steigen lassen. Oder wenn die taubstumme Gebärdenslammerin Catherine Moreira zusammen mit ihren deutsch-schweizerischen Mitstreiter*innen Fatima Moumouni und Adrian Merz Bedeutungen von Gesten austauscht.
Ein spontanes Hip-Hop-Battle zeigt, wie sich diese gelebte Nähe anfühlt. Sogar der südafrikanische Teilnehmer des internationalen Poetry Slams Adryan van Wyk macht mit. Spontan rappt er mit den Locals. Der siebzehnjährige MC 4-0 aka Claudio Santos gewinnt. Applaus. Durchgeschwitzt kommentiert er das coming together, seine Battle-Siegerurkunde hält er dabei stolz in die Kamera: „Ja, wir haben alle zusammen Spaß hier. Ich weiß nicht genau, was der Südafrikaner erzählt hat. Aber es ist egal, ob das in der Favela hier oder dort im Hood passiert, die Probleme sind die Gleichen.”
Was bleibt von fünf Tagen Literaturfestival im November 2016? Am Schulgebäude prangen jetzt zwei Graffitis, eins zeigt lesende Schulkinder, das andere ist der Entstehung des Hip-Hop gewidmet. Es trägt den Zusatz: „Alles begann mit einem Schulaufsatz”. Über Hip-Hop und Poetry Slam  versuchen Ecio Sales und Julio Ludemir den Menschen in der Peripherie Literatur näher zu bringen. Wenn Favela-Hipster und Südzonen-Intellektuellen gemeinsam auf Hip-Hop-Konzerten abfeiern, kann man spüren, wie sich Menschen öffnen und Barrieren überwinden. So wie die aus Barbados angereiste Adaeze in ihrem Song „Foreigner” singt. Anders sein zu dürfen und darauf stolz zu sein, das spreche die Menschen an, bringt Julio Ludemir auf den Punkt.
Wer slammt, der schreibt und wer schreibt, der liest. Über das nächste Jahr verteilt wird es wieder Schreibworkshops geben, um begabte Jungautor*innen weiter auszubilden und ihre Werke zu publizieren. Man kann nur hoffen, dass es 2017 in der Favela Vidigal genauso enthusiastisch und sozialkritisch weitergeht mit der FLUPP.

FRAGMENT AUS “WILLKOMMEN IN DER WELT DER UNTERNEHMER”

Der ganze Sinn, den Planeten zu retten
wird von ihnen mystifiziert.
„Pflanzt Bäume”, obwohl sie nur Giftmüll produzieren
aus Dingen, aus denen man Produkte hätte herstellen können
für den Verbraucher ist‘s zweitrangig.
Aber schau doch mal: Im Fernsehen haben sie gerade gesagt,
dass es notwendig war, zum Totlachen…
Herzlich Willkommen beim Großhandel der Unternehmer!
// Poliana Oliveira
Der Beitrag hat auf dem FLUPP den ersten Preis des Jugend Poetry-Slams gewonnen

MASSAKER IN CIDADE DE DEUS

Am 19. November dieses Jahres fanden Bewohner*innen von Cidade de Deus die Leichen von sieben jungen Männern in einem nahegelegenen Waldstück. Am Tag vorher kam es in dem Stadtteil zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und dem lokalen Drogenkommando. Bei den Toten habe es sich um Drogendealer gehandelt, hieß es. Laut den Familienangehörigen der Opfer, wurden die Männer von der Polizei ermordet. Alle Spuren am Tatort deuten auf eine Massen-Hinrichtung hin. So wurden einige der Opfer durch Schüsse in den Hinterkopf exekutiert, andere erstochen aufgefunden. Außerdem waren die Männer unbewaffnet. In sozialen Netzwerken und der populären lokalen Presse feierten Polizeibeamte und Leser*innen indes das Massaker. Der mediale Fokus konzentrierte sich insbesondere auf den Absturz eines Polizeihubschraubers in Cidade de Deus, bei dem vier Polizisten starben – auch nachdem klar war, dass der Hubschrauber ohne Fremdeinwirkung verunglückte. Als Reaktion auf den Absturz besetzte die Militär-Polizei den Stadtteil. Was folgte waren willkürliche Kontrollen, rechtswidrige Hausdurchsuchungen und Einschüchterungen der Bewohner*innen durch die Polizei. Wieder starben zahlreiche Menschen bei Auseinandersetzungen. Der „Kampf gegen die Drogen“ hat sich in Brasilien schon vor langer Zeit zu einem „Krieg gegen die Favelas“ entwickelt. Das Massaker in Cidade de Deus ist lediglich das jüngste Kapitel der tödlichen Polizeigewalt. In keinem Land der Welt mordet die Polizei so häufig wie in Brasilien. Im Jahr 2015 starben mehr als 3.000 Menschen durch Polizeikugeln. Alle zweieinhalb Stunden tötet die brasilianische Polizei einen Menschen – Tendenz steigend. Vorgeschoben wird von Polizist*innen häufig, in Notwehr gehandelt zu haben. Statistiken zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Opfer in den armen Randgebieten der Städte lebt. Schwarze Brasilianer*innen sind überproportional von Polizeigewalt betroffen. Opferverbände und NGOs sprechen daher von einem „Genozid“ an der armen, schwarzen Bevölkerung.
// Niklas Franzen

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