Brasilien | Nummer 275 - Mai 1997

Hühnchen und Joghurt

Die brasilianische Wirtschaft im Zeitalter der Globalisierung

Hühnchen und Joghurt sind die wichtigsten Wirtschqftsindikatoren Brasiliens geworden. Zumindest wenn es nach der Regierungspropaganda geht. Der gestiegene Konsum dieser beiden Nahrungsmittel soll nämlich belegen, dqß die unteren Schichten um meisten vom Plano Real zur Stabilisierung der Währung profitiert haben. Das Rühren der Werbetrommel geht soweit, daß der Fernsehsender Rede Globo in den Abendnachrichten triumphierend vermeldet, der Plastikanteil im Müll der Favelas sei markant gestiegen -Beweis, daß die Armen mehr Joghurt konsumieren!

Andreas Missbach

Der Erfolg des Plano Real zur Inflationsbekämpfung ist unbestritten. Die Monatsinflation, die bis Mitte 1994 noch über 40 Prozent betrug, ist auf unter ein Prozent gefallen. Ebenso unbestritten ist, daß die Armen vor dem Plan über keine Möglichkeiten verfügten, sich gegen die Hyperinflation zu schützen und deshalb die Hauptleidtragenden der Geldentwertung waren. Daß die Klassen D und E, wie die Armen Brasiliens in den Wirtschaftsstatistiken euphemistisch bezeichnet werden, insgesamt ins glückliche Konsumparadies ein- gezogen wären, ist jedoch zu bezweifeln. Wohl läßt sich auch in den unteren Schichten eine Zunahme des Besitzes von dauerhaften Konsumgütern feststellen. Nur wird alles auf Pump gekauft und in Raten bezahlt, wobei die Zinsen zunächst vergessen wer- den. Der Gesamtpreis beträgt dann allerdings am Ende fast das Doppelte des Barpreises. So steht in vielen Hütten der Favelas ein fabrikneuer Kühlschrank, der, um die Raten bezahlen zu können, leer bleibt.
Die wirklichen Verlierer des Plano Real leben auf dem Lande. Wer nicht über ein festes Geldeinkommen verfügt, dem nützt die Währungsstabilität nichts. Der überbewertete Wechselkurs hat die Landwirtschaft in eine fatale Krise gestürzt: Wer den Mais anbaut, den die Indikatorhühnchen fressen, kann nicht einmal seine Produktionskosten decken.
Der Preis der Stabilität
Die Kritik am Plano Real zielt auf die Kosten, mit denen die Stabilisierung der Währung er-kauft wird. Durch einen sogenannten “Anker” ist der Real an den US-Dollar gebunden, was seine Stabilität garantieren soll. Die brasilianische Wahrung ist dadurch jedoch massiv über-bewertet, was dazu führt, daß ausländische Waren in Brasilien billig zu haben sind, brasilianische Güter im Ausland aber schwer abzusetzen sind. Der Dollaraufschwung der letzten Monate hat den Red mitgezogen und diesen Effekt weiter verstärkt Seit der Plano Real in Kraft ist, wird massiv mehr im-portiert als exportiert. Zudem kämpft Brasilien mit einem strukturellen Kapitalsabfluß. Allein in den ersten zwei Monaten dieses Jahres wurden 758 Millionen US-Dollar Zinsen auf die Außenschuld bezahlt, 844 Millionen US-Dollar
Dienstleistungsbilanzdefizit zusammen bewirken eine laufende Außenrechnung, die tief in den Roten Zahlen steckt. Im letzten Jahr ist dieses Defizit um 138 Prozent auf über 24 Milliarden US-Dollar hochgeschnellt.
Kamikaze á Brasileira
Der Plano Real kann werden, wenn ständig ausländisches Kapital in Form von Direktinvestitionen, langfristigen Krediten oder kurzSpekulationskapitaLand strömt. Die Regierung brüsich damit, daß gelang, die “Qualität” des Kapitazu verbessern, d.h. daß kurzfristiges Spekulabenöwird. Doch auch die anderen Kapithaben ihre Pferdefüße. Direktinvestitionen fü, der Zukunft die Gewinnrücküansteigen und das in der Dienstleistungsbilanz vergrößern wer-den. Dieser Effekt zeigt sich schon jetzt: in den letzten füJahren haben die abgefüGewinne und Dividenden 458,2 zugenommen. müssen auch, Kapitalien anzuziehen, die Zinsen in Brasilien hoch gehalten werden, was das Wirtschaftswachstum behindert. Insgesamt hat die Verwundbarkeit Brasiliens stark zugenommen; 48.4 Prozent des Staatshaushaltes mußte das Land 19% für den Schuldendienst aufwenden. Geht es in diesem Stil weiter, so wird Brasilien nach vier Jahren unter der Regierung Fernando Henrique Cardoso zusätzliche Auslandsverbindlichkeiten von 120 Milliarden US-Dollar angehäuft haben.
Das Ende des Plano Real könnte von zwei Seiten kommen: Durch eine Krise der Weltwirtschaft oder dadurch, daß das internationale Kapital das Vertrauen in Brasilien verliert. Beeinflussen kann die Regierung nur Letzteres. Um das internationale Kapital bei der Stange zu halten, muß sie wirtschaftliche Reformen in dessen Sinne durchführen. So ist die umstrittene Privatisierung des Minenkozerns Companhia do Vale do Rio Doce zu erklären. Das Unternehmen ist ein hoch lukrativer Staatsbetrieb, der im vergangenen Jahr 600 Millionen US-Dollar Gewinn erzielte und über Erzreserven in unbekanntem Wert verfügt. Die plan-gemäße Verscherbelung der ‘Vale” ist das Faustpfand, welches das internationale Kapital als Beweis für den weiteren Reformeifer der Regierung fordert.
Der Fall der Zollmauern
Die “erfolgreiche” Stabilisierung der Währung hat Brasilien den Weg in die schöne neue Welt der Globalisierung geöffnet. Anfang der neunziger Jahre begann ein Prozeß, der die gesamte industrielle Struktur des Landes umkrempelt. Brasilien nahm endgültig Abschied vom Modell der Importsubstitution. Die Vermeidung von Importen durch den Aufbau einer “nationalen” Industrie hinter hohen Zollmauern sollte in den sechziger und siebziger Jahren wirtschaftliche Prosperität bringen. In den achtziger Jahren mußte die Importsubstitution unfreiwillig aufrechterhalten wer-den, um die riesigen Export-Überschüsse zu erwirtschaften, die als Schuldendienst ins Ausland abgeführt wurden.
Der Abbau der Zollschranken verachte, durch die Überbeertung verstärkt, eine Import-welle. Die Mittelklasse frönt dem Kaufrausch, endlich läßt sich in jeder größeren lianischen Stadt einkaufen wie üher nur im Kurzurlaub in Florida.
Hinzu kommen die Kapitalgüterimporte. Wer angesichts der offenen Grenzen konkurrenzfähig bleiben will, dem bleibt nichts anderes übrig als massiv zu investieren und dafür modernste Technologie aus dem Ausland einzuführen.
Auch die Rolle der Multis in Brasilien ändert sich grundlegend, wie das folgende Beispiel aus der Autoindustrie verdeutlicht.
Vom BrasiIia zum World Car
Hinter den hohen brasilianischen Zollmauern produzierten die europäischen und US-amerikanischen Automultis mit ausrangierten Maschinen Schrott auf Rädern -wie der Brasilia, der aussah wie ein zum Rechteck gestauchter VW-Käfer. Diese Zeiten sind vorbei: In den lezten Jahren haben die Automultis ihre Produktion weltweit neu organisiert; in keiner anderen Sparte ist die Globalisierung der Produktion so weit fortgeschritten. Nationale Nischenprodukte wie den Brasilia wird es in Zukunft nicht mehr geben, statt- dessen kommt das “World Car”: An verschiedenen Produktionsstandorten, die strategisch über den Globus verteilt sind, wird mit denselben Zulieferern überall exakt das gleiche Modell hergestellt. Die größtenteils noch nationale Autoteileindustrie Brasiliens hat dadurch einen schweren Stand Nur wenige Teilehersteller sind in der Lage, als Anbieter für ein World Car aufzutreten. Ihr Niedergang wird noch beschleunigt durch die Politik der niedrigen Einfuhrzölle, mit denen die Regierung den Wünschen der Multis entgegenkommt. Zudem buhlen mögliche Standorte mit großzügigen Steuergeschenken, fertig ausgebauter Infrastruktur und teilweise sogar Kapitalbeihilfen um die Gunst der montadoras, wie die Automultis genannt werden. Zugleich haben Importkonkurrenz und Rationalisierungsinvestitionen dazu geführt, daß die Autoteilebranche im letzten Jahr zehn Prozent ihrer Stellen abgebaut hat.

Die Globalisierung der Arbeitslosigkeit
Was mit der brasilianischen Autoteileindustrie , ist exemplarisch für die gesamte brasilianische Industrie. Ein Teil der Industrie wird durch die globale Konkurrenz hinweggefegt oder aufgekauft. In den übUnternehmen nimmt der Technologieandie Produktivität massiv zu; Rationalisierung werden vor allem unqualifiArbeitsplätze abgebaut. Diese Prozesse sind dieselben, die auch in den Indusändern vor sich gehen. Nur ß aufgseiner Altersstjedes Jahr eine Million Arbeitsplätze zusätzlich benötigt.
Die offizArbeitslosigkeit im ß, dem indusBades Landes, liegt bei knapp 15 Prozent; bereits die Hälfte der Beschäftigten arbeitet im Sektor. Der offizielle Arbeitsmarkt ist gespalten. Ein Viertel der Beschäftigten, 11 Menschen, haben einen einigermßen sicheren Job in einem der Multis oder der mittund gßebrasilianischen Betriebe und verdienen mehr als 1200 -Dollar. Auch in diesem modernen Sektor selbst öffnet sich die Lohnschere: Die Gehäim oberen sind in Brasilien schon 30 Prozent höher den USA.
Die anderen drei Viertel der Beschäverdienen weniger Mindestlöhne: unter 200 -Dollar. Viele dieser Jobs sind von der Rationalisierung bedroht.

Standortrisiko Cardoso
Fernando Henrique Cardoso, der Vater der Dependenztheorie, hat als Präsident das in eine neue Depengeführt. Kurzfristig seine Eitelkeit und seine Machtambitionen die größfüProjekt, Ende Jahres gelang in einer beispiellosen Schacher-Runde, vom Parlament eine Verfassungsänderung zu -kaufen, die eine erneute Kandidatur ermöglicht. Es ist absehbar, daß die Wiederwahl als Retter der Währung und Hüder Stabilität – mittels Hühnchen- und Joghurtpropaganda -will. Bis zum Wahltermin werden deshalb am Real keine grösseren Anpassunvorgenommen werden, auch wenn sie angezeigt wären. Währenddessen steigt die Gefahr, daß das Kapital kaFüße iegt und sich in andere Jagdgrunde aufmacht.
Längerfristig wird die globalisierte brasilianische Industrie weder in der Lage sein, einer Mehrheit der Arbeitskräfte Auskommen und Perspektive zu bieten, noch ist es wahrscheinlich, daß die Globalisierung aufgehalten werden kann. Die soziale Bombe könnte dennoch entschärft durch eine radikale Reform der Steuer- und Sozialpolitik und vor allem- durch eine umfassende Landreform. Dann ließe sich vielleicht- trotz Globalisierung- wieder über ein „Nationales Projekt“ für Brasilien nachdenken.

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