“Ich bete für den Papst und für Fidel“
Kuba im 45. Jahr der Revolution: Mit jeder neuen Generation wachsen die Ansprüche an das sozialistische System
Die Presslufthämmer hinterlassen Wirkung. Nur wenige Menschen flanieren derzeit tagsüber den Malecón entlang. Die legendäre Hafenpromenade Havannas wird wieder einmal überholt. Nach Einbruch der Dunkelheit wandelt sich das Bild freilich. Die magische Anziehungskraft von Meereshorizont und Kaimauer zieht die Nachtschwärmer an – neben TouristInnen sind es vor allem turtelnde einheimische Pärchen, die die laue Nachtluft genießen. Die Zukunft der kubanischen Revolution treibt sie weniger um – und doch werden sie bald die Verantwortung dafür tragen, ob sie wollen oder nicht.
Auf alle Fälle: Dollarklamotten
Die hervorstechende städtische Jugendbewegung in den letzten Jahren ist die Hip-Hop-Szene. In Havanna trifft man Hip-Hopper in jedem Stadtteil und meist als Kleingruppe um die Häuser ziehend. Erkennbar sind sie leicht, schließlich ist ihr Kleidungsstil global, ob in New York, Berlin oder Havanna: Kopftücher in Piratenmanier oder Baseball-Kappen, weit geschnittene Jeans, so genannte baggy pants, oder Drei-Viertel-Hosen. Und nicht zu vergessen: Sweat- oder T-Shirts mit markigen USA-Emblemen oder Sprüchen. Auf alle Fälle: Dollarklamotten. Obwohl Dollars knapp sind, wie jeder Kubaner und jeder Hip-Hopper in nahezu jedem Gespräch betont.
Der Rap-Sänger Arturo aus Havannas Trabantenvorstadt Alamar klärt den Widerspruch auf: „Wir sind, wie wir sind, wir geben alles für unsere Klamotten“. Auf die Revolution gibt Arturo hingegen nichts. Über 40 Jahre Fidel sind genug. „Wir brauchen einen radikalen Wandel.“ Den fordern auch die Dissidenten, doch mit denen will Arturo nicht in einen Topf geworfen werden. „Die Dissidenten interessieren sich nicht für den Alltag der Bevölkerung, und die Bevölkerung interessiert sich nicht für die Dissidenten“, distanziert er sich kategorisch. Dissident zu sein, sei eine Möglichkeit an Dollars zu kommen, vermutet Arturo ohnehin eher ein materielles denn ein ideelles Motiv im Tun der Regierungskritiker. Ob er denn wirklich glaube, dass der Kapitalismus für ein Dritte-Welt-Land wie Kuba die bessere Alternative sei, ungeachtet der Erfahrungen anderer Entwicklungsländer? Klar, schlechter könne es nicht mehr werden.
Diese extreme Position ist selbst in der sozialkritischen Hip-Hop-Szene nicht weit verbreitet. Kapitalismus oder Sozialismus ist nicht die reale Frage. Die Texte der raperos handeln vom beschwerlichen Alltag. Nicht zufällig nahm die Hip-Hop-Bewegung ihren Aufschwung während der período especial, der seit 1989 währenden Sonderperiode. Durch eine Art Kriegswirtschaft in Friedenszeiten versuchte und versucht die kubanische Regierung den Ausfall des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) auszugleichen. Damit konnte zwar der harte Fall des Lebensstandards abgebremst werden, viel mehr aber auch nicht. Immerhin gelang es, die sozialen Kosten der Krise halbwegs gleichmäßig zu verteilen. Damit einher ging eine kontrollierte Öffnung nach außen, denn das Land brauchte unweigerlich neue Devisenquellen. Der Ausbau des Tourismus und das Werben um ausländische Investitionen in Form von Gemeinschaftsunternehmen sind die Grundpfeiler dieser Wirtschaftsstrategie.
Und vor allem: Am 26.Juli 1993, dem 40. Jahrestag des Sturms auf die Moncada-Kaserne, wurde der Dollar als Zweitwährung legalisiert. Ein von Fidel Castro offen als Notmaßnahme deklarierter Schritt: „Das Leben und die Wirklichkeit veranlassen uns, Dinge zu tun, die wir sonst niemals getan hätten… Das ist kaum der Sozialismus, den wir wollen.“ Mit dieser Maßnahme wurde eine Devisenquelle von kaum zu überschätzender Bedeutung erschlossen: die so genannten remesas, Geldüberweisungen von Verwandten aus dem Ausland – inzwischen mit über einer Milliarde US-Dollar jährlich die größte Deviseneinnahmequelle des Landes, knapp vor dem Tourismus.
Auch wenn nicht zuletzt durch die Dollar-Legalisierung der Höhepunkt der Krise von 1993/1994 überwunden wurde, sind die Lebensbedingungen alles andere als einfach. Die meisten Hip-Hopper sind in den Zeiten der Sonderperiode groß geworden. Kein Wunder, dass sie sich in ihren Songs vor allem mit den schwierigen Lebensbedingungen auseinander setzen.
Der Rap-Sängerin Maygorie sind die verschlechterten Bedingungen für Frauen und Mädchen ein Dorn im Auge. Sie selber habe Glück, eine eigene Wohnung, und sie sei nicht auf Prostitution angewiesen. Doch sie kenne viele junge Mädchen und Frauen, die zur Prostitution gezwungen seien, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Vor allem ältere Touristen aus Europa und Nordamerika nützten die Not von Kubanerinnen aus. Obwohl viele von ihnen in ihren Heimatländern bestimmt selbst Familie hätten, kritisiert Maygorie das Verhalten mancher Dollartouristen. Sie selbst hält sich mit kleineren Geschäften auf der Straße über Wasser, mehr als die umgerechnet paar Dollars in einem Peso-Job kommt da allemal zusammen. „Für Pesos würde ich nie arbeiten“, sagt sie. Vollzeit für fast nichts komme für sie nicht in Frage. Staatliche Repressalien scheint sie wegen ihrer Arbeitsverweigerungshaltung nicht zu fürchten.
Mit Pesos ist kein Staat zu machen
Wer nicht arbeitet, hat viel Freizeit. Und um eine Party zu machen, braucht es nicht viel. Eine Flasche weißen Rum für zwei, drei Dollar, kollektiv gekauft und kollektiv getrunken. Selbstverständlich werden die ersten Tropfen den Göttern geschenkt – ein paar Spritzer auf den Boden sind Pflicht, bevor man sich selbst die Plastikbecher voll gießt, ob in der Kneipe, an der Ecke oder beim Rap-Konzert.
Wer in einem Peso-Job arbeitet, hat wenig Freizeit und wenig Geld. Wie der Afrokubaner Frances. Hip-Hop-Klamotten kann sich der Bauarbeiter nicht leisten. Dabei ist auch der Mittzwanziger ein begeisterter Rapper, was er mit einem Solo auf der Baustelle unter Beweis stellt. Frances kann sich nicht mal vernünftige Schuhe leisten. Oft genug bekommt er auf der Baustelle nasse Füße in seinen abgewrackten Turnschuhen. Frances steht dem System kritisch gegenüber. Nicht ideologisch, sondern praktisch. „Ich will einfach einen adäquaten Lohn für meine Arbeit, Sozialismus oder Kapitalismus hin oder her.“ 150 Peso erhält er im Monat, knapp sechs US-Dollar beim derzeitigen Wechselkurs von 27 Peso für einen US-Dollar. Davon kann mensch in der Stadt kaum überleben. Sicher: Jeder Kubaner erhält dank der so genannten Libreta kostenlos Grundnahrungsmittel wie Reis und Bohnen und, wenn vorhanden, auch Seife und einiges andere zugeteilt. Mehr als zwei Wochen kommt man damit aber nicht über die Runden, gilt als Faustregel.
Um die Anfang der neunziger Jahre extrem prekäre Ernährungssituation zu verbessern, wurde 1993 ein Großteil der agrarischen Staatsbetriebe in so genannte UBPC (Basiseinheiten der genossenschaftlichen Produktion) umgewandelt. Per Gesetz wurde Kleinkooperativen Land zur privaten Nutzung übereignet, um den Anbau zu diversifizieren. Allerdings müssen die Produkte fast ausschließlich an den Staat verkauft werden.
Der weit lukrativere Verkauf auf den Bauernmärkten ist nur eingeschränkt möglich. Die 1986 verbotenen Bauernmärkte wurden erst im Herbst 1994 wieder zugelassen. Nicht aus Überzeugung, sondern aus der Not, wie die Begründung von Armeechef Raúl Castro verdeutlichte: „Das wichtigste politische, militärische und ideologische Problem unseres Landes ist jetzt die Suche nach dem Essen.“ Auch wenn die Suche nach dem Dollar inzwischen die Suche nach dem Essen abgelöst hat, sind viele Nahrungsmittel für viele Kubaner Luxus.
Früher, vor 1989, gab es alles, schwelgt Frances in Erinnerungen an seine Kindheit. Seit dem Tod seiner Mutter ist er auf sich alleine gestellt. Fleisch oder Käse könne er sich nicht leisten. 37 Peso kostet rund ein Pfund (460 Gramm) Schweinesteak, 20 Peso ein Pfund Käse. Selbst Tomaten kosten fünf Peso. Richtig billig ist fast nur Yucca, das als Kartoffelersatz tauglich ist. Bei Kubanern, die wie Frances keine nennenswerten Dollarquellen haben, ist Schmalhans Küchenmeister. Die Loyalität zur kubanischen Revolution erhöht das nicht.
Systemloyalität ist eine Generationenfrage
Für Miguel, den baumlangen Rastafari, ist die Frage der Loyalität zur Revolution vor allem eine Generationenfrage. Er selbst als Mittdreißiger verschwende keinen Gedanken an Ausreise wie so viele junge Kubaner. Miguel, von allen nur Kiki genannt, arbeitet als selbständiger Fleischverkäufer auf einem Bauernmarkt in Havanna. „Ich mag den Markt, das Kommunizieren mit den Menschen, und ich bin mein eigener Herr.“ Wie viel er verdiene? Das komme drauf an. Manchmal sei es weniger als die zu zahlende Pauschalsteuer für Selbständige. Wie das geht? Es geht irgendwie, lacht Kiki. Missmutige KubanerInnen zu treffen ist ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit – allen Widrigkeiten des Alltags zum Trotz.
Die Jungen nehmen die Errungenschaften der Revolution, Bildung und Gesundheit, für selbstverständlich, meint Kiki. Seiner Generation sei in der Schule noch vermittelt worden, dass das alles andere als selbstverständlich sei. Die nächste Generation, meint er, werde darüber entscheiden, ob die kubanische Revolution Zukunft habe.
In der Tat scheint die Zustimmung zur Revolution eng an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation geknüpft zu sein. Die Mittsechzigerin Yolanda macht aus ihrer Sympathie für Fidel Castro keinen Hehl. Die gläubige Katholikin betet jeden Tag für den Papst und für Fidel. „Ich musste noch jeden Tag über zehn Kilometer zu Fuß zur Schule gehen, meine Neffen und Nichten haben alle studiert“, bringt sie die Fortschritte im Bildungssystem auf einen familiären Nenner. „Das haben wir Fidel zu verdanken“, ist sie überzeugt. Doch der US-Dollar macht Fidel mehr und mehr Konkurrenz. Viele kubanische Kinder kennen angeblich nur einen Berufswunsch: Tourist.