Im Schmelztiegel der Reformen wird’s immer heißer
Drei Monate nach der Amtseinführung Calderas steht das Land vor der inneren Zerreißprobe
Am 2. Februar sollte der neue Präsident von Venezuela, Rafael Caldera, sein Amt in aller Ruhe antreten. Der Monat zuvor war von spontanen Aufständen und Brandanschlägen in der alten Kolonialstadt Barcelona, nah der karibischen Küste, der anliegenden Stadt Puerto La Cruz und dutzenden kleinen Städten im Inneren des Landes geprägt. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte: die Erhöhung der lokalen Bustarife. Auch der Versuch der Händler vor Ort, die neu eingeführte 10 Prozent Mehrwertsteuer zu erheben, wurde mit spontanen Demonstrationen im ganzen Land beantwortet. Ihr war nur ein kurzes Schicksal beschieden. Kurz nach den Unruhen wurde sie wieder aufgehoben. Die Bevölkerung, die schon eineinhalb Jahrzehnte lang mit ständigen Einkommensverkürzungen leben mußte, reagierte mit Gewalt.
Gewalt hat massiv zugenommen
Venezuela befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Die Gewalt, die nicht immer nur politisch erklärt werden kann, eskaliert. Letzte Weihnachten wurden über 100 Morde in Caracas begangen, und an nahezu jedem Wochenende werden 20 bis 30 Caraqueños getötet. Zum einen lassen sich die Morde mit der fehlenden Polizeipräsenz in den armen Stadtteilen begründen. Der Polizeichef Orlando Hernandez führt sie jedoch auf die “sich in den Städten ausbreitende soziale Zersetzung” zurück. Die “soziale Dekomposition” hängt mit der Verschlechterung des Lebensstandards zusammen. War 1978, zur Zeit des Ölbooms, ein Maximum des durchschnittlichen Realeinkommens erreicht, so fallen die Einkommen seitdem ständig, und es wird immer schwerer für die große Mehrheit, den täglichen Kampf ums Nötigste zu gewinnen. Im Gegensatz dazu fällt die geradezu luxuriöse Lebensweise einer Minderheit von VenezolanerInnen auf, die zum großen Teil von den marktorientierten Reformen profitiert haben. Der Unterschied zwischen Arm und Reich nimmt kontinuierlich zu, Resignation und Frustration machen sich breit. Die soziale Struktur insgesamt ist zerrissen.
Die Mehrwertsteuer hat vielen den Rest gegeben
Die Einführung der Mehrwertsteuer sowie die Erhöhung von Benzin- und somit Transportpreisen waren zwei grundlegende Punkte des marktorientierten Reformprogramms, dem paquete, der alten Regierung von Carlos Andrés Pérez. Internationale Kreditinstitute befürworten diese Form der Besteuerung, da sie leicht zu erheben ist und daher einen sicheren Weg darstellt, den Staatshaushalt auszugleichen. BefürworterInnen der Steuer behaupten, daß dem Haushalt 1994 mit dem Wegfall der Steuer ohne die Erhöhung der innerländischen Preise für staatlich produziertes Öl 2 Milliarden US-Dollar fehlen würden. Präsident Caldera betonte jedoch, gerade das riskieren zu wollen und das Loch im Haushalt durch eine progressive Steuerpolitik füllen zu wollen, wobei er die Erhebung einer Luxussteuer oder einer erhöhten Einkommenssteuer vorschlägt. Mit dem Antritt der Mitte-Links-Koalition findet die Haushaltsdebatte demnach in einem Spannungsfeld zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen statt. Die Besitzlosen haben das durch die Unruhen deutlich gemacht, die Besitzenden, indem sie klarstellten, auf ihrem Rücken werde es keinen Haushaltsausgleich geben.
Revolten, Putschversuche, Unruhen
Auseinandersetzungen verlagern sich mehr und mehr auf die Straße. Die militanten Aufstände im Januar waren die logische Folge der prekären sozialen und politischen Situation in Venezuela während der letzten fünf Jahre. Die dramatischsten Unruhen kennen die traumatisierten EinwohnerInnen Venezuelas, der am längsten existierenden konstitutionellen Demokratie Südamerikas, kurz und knapp als 27F, 4F und 27N. Mit 27F sind die spontanen Aufstände und Plünderungen gemeint, die ganz Venezuela am 27. Februar 1989 heimsuchten und eine Reaktion auf die Erhöhung der Bustarife waren, sowie auf die Ankündigung des damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, die IWF-Maßnahmen zur Reduzierung des staatlichen Defizits seien akzeptiert. Die offiziellen Angaben sprachen von 276 Toten durch die Aufstände, nach inoffizielle Einschätzungen waren es über 1000.
4F und 27N. Synonyme für zwei erfolglose Putschversuche – die intentonas -, die von populistischen Offizieren mittleren Ranges am 4. Februar und 27. November 1992 getragen wurden. Obgleich die Unruhen schnell von loyalen Offizierseinheiten zerschlagen wurden und die Putschisten im Gefängnis landeten, sind sich viele VenezolanerInnen einig, daß die intentonas, besonders der am 4. Februar, zu einer Verlangsamung der neoliberalen Reformen führte. “Auch wenn der Umsturzversuch im Februar scheiterte”, so der Ex-Indstrieminister Moises Naim, “mobilisierte er gleichzeitig andere Individuen und Gruppen, die bisher wenig am politischen Prozeß beteiligt waren, und kurz darauf befanden sich traditionelle PolitikerInnen in der Defensive.” Also rückte das paquete und eben nicht der Putsch in den Mittelpunkt intensiver Debatten. Viele VenezolanerInnen glauben, daß Pérez nicht wegen der Unterschlagung von 17,2 Millionen US-Dollar im Mai 1993 angeklagt worden wäre, hätte man ihn nicht für das Leid, das durch seine ökonomischen Reformen hervorgerufen wurde, verantwortlich gemacht.
Erwartungshaltung macht Wandel schwierig
Es gibt viele Erklärungen für die wirtschaftliche Krise in Venezuela. Ob ihnen geglaubt wird, hängt von der sozialen Situation und der ideologischen Empfänglichkeit der einzelnen ab: Mal ist es die Abhängigkeit vom Öl und die ständig fehlende Planung; mal die Auslandsschulden; mal die Korruption und ein aufgeblasener Staatsapperat; mal die Abhängigkeit von transnationalem Kapital; oder mal neoliberale exportorientierte Wirtschaftsstrategien. Einige Erklärungen treffen nur auf Venezuela zu, andere gelten für viele Länder Lateinamerikas.
Erklärungen, die sich speziell auf Venezuela beziehen, kreisen meist um Venezuelas Abhängigkeit vom Öl oder darum, daß sich ein ganzes Land daran gewöhnt hat, vom Öl zu leben. Eine generelle Erwartungshaltung hat sich breit gemacht, von der Arbeit und den Investitionen anderer zu leben. Im alten “Modell des Zurücklehnens und Abwartens” war der zentralisierte Staat in Form von politischen Parteien dafür zuständig, den nationalen Besitz zu verteilen und industrielles Wachstum zu fördern. Dilemma dieser Politik: Die berechtigte und wichtige Erwartung, der Staat habe sich um die Rechte der Armen zu kümmern, war verbreitet. Aber: Diese Rechte wurden nur passiv wahrgenommen, ohne die aktive Beteiligung, die für eine demokratische Gemeinschaft von so entscheidender Bedeutung ist. Die Parteien dominierten das politische und soziale Leben, die zivile Gesellschaft entpuppte sich als schwach und einflußlos, und es setzte sich eine kundenorientierte Politik durch. Die Kritik des neoliberalen Ökonomen Ricardo Hausmann an dieser Form des Populismus ist nicht unberechtigt: “Die Bürger forderten vom Staat einen annehmbaren Lebensstandard, trugen aber selbst nichts dazu bei. Der Populismus führte zu Ansprüchen ohne Verpflichtungen, Umverteilung ohne Beschränkung des Haushalts.” Als die staatlichen Ressourcen während der 80er Jahre knapper wurden, verloren die Parteien an Glaubwürdigkeit, da sie die von ihnen erwartete Funktion – nur das Gute zu bringen – nicht mehr erfüllen konnten.
Statistiken belegen: Die Armut explodiert
Venezuelas staatliches Amt für Statistic und Information (OCEI) berichtet, daß 1993 acht Millionen VenezolanerInnen, ca. 40 Prozent der Bevölkerung, in Armut lebten, davon 20 Prozent in extremer Armut. Dem OCEI zufolge hat die Armut zugenommen, da für 1986 eine Armutsrate von 34 Prozent angenommen wird. Viele Studien gehen jedoch von doppelt so hohen Zahlen aus, so zum Beispiel die des Nationalen Institutes für Medizin, das erst kürzlich von einer “kritischen” Armutsrate von 40 Prozent sprach. Damit sind Menschen gemeint, die an ernstzunehmender Unterernährung leiden, dazuzurechnen seien aber nochmal 40 Prozent, die in relativer Armut leben. Zwar gibt es verschiedenste Möglichkeiten, Armut zu definieren und zu messen, eines bleibt aber klar: die Zahlen steigen dramatisch.
Es wäre zu oberflächlich, die Armut nur als Folge von sinkenden Staatseinkünften zu betrachten. Ein Teil ist sicherlich durch die Ineffizienz eines korrupten Staatsapparats bedingt.
Aufgeblähte Bürokratie lähmt Bildung
Die Weltbank berichtet zum Beispiel, daß Venezuela zwar 20 Prozent des Staatshaushalts für Bildung verwendet, was einmalig für Südamerika ist, davon aber wiederum 70 Prozent in die Verwaltung fließen. Überfüllte staatliche Schulen sind symptomatisch für den bürokratisch aufgeblasenen und uneffizienten Staat. Resultate dieser Bildungspolitik: 11 Prozent SchulabbrecherInnen und im ersten Schuljahr eine WiederholerInnenrate von 28 Prozent.
Die Kinder, die in der Schule bleiben, haben weniger Lehrer und nur bedingt Arbeitsmaterial. Die Tageszeitung El Nacional aus Caracas meldet, daß viele Lehrer die Schulen verlassen und versuchen, im wachsenden informellen Sektor unterzukommen. Der Rückgang von Pflegepersonal in den staatlichen Krankenhäusern ist auf ein ähnliches Phänomen zurückzuführen. Im Bereich der privaten Kinderbetreuung ist heute beispielsweise mehr zu verdienen als die durchschnittlich 170 US-Dollar pro Monat, die ein Lehrer oder eine Krankenschwester nach Hause trägt. Folgt man den konservativen Schätzungen, so arbeiten ca. 2,6 Millionen Menschen, was 38 Prozent der arbeitenden Bevölkerung entspricht, im informellen Sektor, zwei Drittel davon im kommerziellen Sektor, was meistens dem Verkauf auf der Straße gleichkommt. Zwar hat das paquete die Situation verschärft, doch es gab schon zur Zeit des Amtsantritts von Pérez 1988 einen informellen Sektor, in dem 35,8 Prozent der venezolanischen ArbeiterInnen beschäftigt waren.
Zwei Reformideen im Clinch
Mitte der 80er Jahre stand fest, daß auf die ökonomische Krise des Landes mit neuen Ideen reagiert werden mußte. Zwei Reformbewegungen, die sehr unterschiedliche Ziele im Auge hatten, fanden Unterstützung bei der Regierung: Die Dezentralisation des politischen Systems, die mehr Macht für die Bevölkerung vorsah, auf der einen Seite; auf der anderen die Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft, die die ökonomische Sicherheit des Einzelnen beschneiden würde. Diese Kombination von Ansätzen war und ist gefährlich, da einerseits mehr Demokratie eingeführt werden soll, gleichzeitig aber soziale Rechte angetastet werden. Staatliche Planung und Korruption wurde von beiden Reformansätzen kritisiert. Keiner der beiden griff jedoch die Klassenstruktur an.
Die 1984 gegründete “Präsidentiale Kommission für die Reform des Staates” (COPRE) förderte mit Erfolg die Reformen, die die politische Kultur öffnen sollten; unter anderem wurde die Dezentralisation der Macht zugunsten der Gemeinden, die Direktwahl von regionalen und lokalen Vertretern sowie von einigen Kongreßabgeordnetern beschlossen. Hiermit war mehr Partizipation möglich geworden, auch für Außenstehende, und der Graben zwischen ziviler und politischer Gesellschaft war überwunden.
Den anderen großen Vorstoß gegen die Krise stellte das neoliberale paquete dar, das offiziell “el gran viraje”- die große Wende bezeichnet wird und 1989 von der Regierung Carlos Andrés Pérez vorgestellt wurde. Es bestand die Hoffnung, daß das paquete die Wirtschaft durch Öffnung, Privatisierung und Umstrukturierung stabilisieren könnte. Die Stabilität wurde an folgenden Kriterien gemessen: Stimmigkeit der Preise, Ausgleich des Haushalts und die Autonomie der Geldinstitute.
Unter stimmigen Preisen wurden die Preise verstanden, die sich im Rahmen des Marktmechanismus (Prinzip Angebot-Nachfrage) einpendeln würden, wobei Kontrollen von Wechselkursen, Zinsraten und Preisen im privaten Sektor wegfallen sollten. Mit der Forderung nach Haushaltsausgleich war die Reduzierung öffentlicher Gelder, die Einführung der Mehrwertsteuer und auch die Erhöhung von Preisen im öffentlichen Dienstleistungssektor gemeint. Eine autonome Zentralbank sollte etabliert werden, frei vom Einfluß des parlamantarischen Systems. Dahinter stand die Idee, die Geldpolitik zu entpolitisieren, damit nötige aber unbeliebte Änderungen möglich würden, z.B. könnte die Inflation durch die Reduzierung der im Umlauf befindenden Geldmenge gebremst werden und neues Vertrauen in die venezolanische Währung, den bolivar, entstehen. Im Großen und Ganzen stand ein Härteprogramm bevor: Die arbeitende Bevölkerung befürchtete, bei geringerer Kaufkraft mit weniger staatlichen Angeboten auskommen zu müssen.
Mit der Strukturreform sollte versucht werden, die Wirtschaft exportorientierter und kapitalfreundlicher zu gestalten. Daher wurden Handelsgesetze gelockert, finanzielle Märkte dereguliert, direkte Investitionen freudig aufgenommen und gefördert und viele Staatsbetriebe privatisiert. Der Verzicht auf Wechselkurskontrollen führte zu einem Verfall des bolivar, die innere Kaufkraft wurde noch geringer und der Exportsektor explodierte.
Für den sozialen Rand: Prinzip Hoffnung
Im paquete wurde die Subventionen abgeschafft, um sich statt dessen gezielter um marginalisierte Gruppen zu kümmern, was in der Praxis bedeutete, den sozialen Bereich zugunsten religiöser Gruppen und Nicht-Regierungsorganisationen zu privatisieren.
Am stärksten wurde der Volkssektor von den Preissteigerungen getroffen. Da Venezuelas privater Sektor eine oligopolische Struktur aufweist, führte die Aufhebung der Preiskontrollen nicht zu Preisen, die der Markt steuerte, sondern zu welchen, die die Oligarchien vereinbarten. Ein markantes Beispiel: Die Preise für Medikamente: Sie stiegen in der Zeit zwischen 1989 und 1991 um 513 Prozent. Die Regierung Perez schaffte es nicht, politische Strategien zu entwickeln, die die Armen vor den Folgen des paquete hätten schützen können bzw die Last gerecht hätte verteilen können. Im Gegenteil: Die Regierung nahm an, ökonomisches Wachstum werde automatisch zu sozialer Gerechtigkeit führen, die alte Idee aus den 50er Jahren vom trickle-down Effekt. Da die meisten VenezolanerInnen schon mit ständig fallenden Löhnen zu kämpfen hatten, war schon die kleinste Preissteigerung eine enorme Belastung, die den Kessel zum Überlaufen bringen konnte.
Nur eine kurze Durststrecke?
Die Verteidiger des paquete hatten immer betont, daß es eine kurze Durststrecke geben werde, die sich aber nach wenigen Jahren durch die Früchte des ökonomischen Wachstums auszahlen würde. Allerdings ist das ökonomische Wachstum nun auf bedrückende Weise zum Stillstand gekommen, was vielleicht auch mit den Unruhen der Bevölkerung zusammenhängt. Nach 3 Jahren, in denen das Wirtschaftswachstum 8 Prozent betragen hatte – die höchste Wachstumsrate Lateinamerikas -, ging das BSP auf 2,2 Prozent zurück, das Haushaltsdefizit wuchs auf 1,9 Milliarden US-Dollar an und die Inflationsrate stieg auf 46 Prozent, der zweithöchste Wert in der Geschichte des Landes.
Das paquete scheiterte, da es die soziale Sicherheit zerstörte, die bei der Einführung von kapitalistischen Strukturen unbedingt vorhanden sein muß. Perez, der immer die Richtung der historischen Entwicklung einzuschätzen wußte, wollte sich zum Ende des 20. Jahrhunderts auf der Seite der GewinnerInnen wissen. In seiner Erklärung an die Weltgemeinschaft stellte er fest, daß “schmerzhafte Umstrukturierungen, die den freien Markt zum Ziel haben, sich auszahlen, und daß ein demokratisches Regime die unbeliebten Entsscheidungen, die die Wirtschaftsreform verlangt, fällen kann, ohne dadurch die Macht abgeben zu müssen.”
Aber wenn sich diese schmerzhaften Veränderungen in einer demokratischen Umgebung auszahlen sollen, so muß der Eindruck entstehen können, daß das Leid geteilt wird und von wahrnehmbaren Veränderungen begleitet ist. Falls die Mitte-Links-Koalition Rafael Calderas den Kapitalismus anders gestalten will als die Rechte, so sollte sie sich um ein soziales Netz bemühen und solidarisches Verhalten im täglichen Leben zum Grundprinzip machen. Der freie Markt in seiner Dynamik zerstört diese Solidarität. Das paquete mag technisch machbar gewesen sein, es übersah jedoch die soziale Komponente und ignorierte die Erwartungen der Bevölkerung sowie die Tatsache, daß es keinen politischen Konsens für das Programm gab.
Schlaues aus dem Norden
Ein weiterer Grund für das Scheitern des paquete war, daß der Umbruch in der Sowjetunion falsch interpretiert wurde. Mit dem Ende des Kalten Krieges ging man von dem unzweifelhaften Sieg des “freien Marktes” und des “demokratischen Systems” aus, staatliche Intervention und jede Form autoritärer Staatsführung war verpönt. Diesem vereinfachten Schema folgend, fanden Deutschland, Thatchers England und Japan zur Macht, indem sie sich auf unabhängige private InvestorInnen stützen; demgegenüber verharrten Polen, Labor Partys England und Venezuela bei alten Konzepten einer ineffizienten, staatlich geführten Wirtschafsform. Nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika wurden historische Erfahrungen ignoriert, um, so Jorge Castañeda, “sich dem ideologischen Fieber der 90er Jahre hinzugeben.”
Die überbordernde Menge an Problemen hat zu überstürzten Lösungsversuchen geführt. So argumentiert der Ökonom Viktor Fijardo, daß das paquete problematisch war, weil es nicht für Venezuela, sondern für ein künstliches, stereotypes Staatsgebilde entworfen wurde: Für ein Land, daß unabhängige, risikofreudige InvestorInnen besitzt, wo der Markt nach dem Konkurrenzprinzip perfekt funktioniert, und die Armen Verschlechterungen protestlos hinnehmen. Zwar gab es in jedem lateinamerikanischen Land gesonderte Widersprüche, der ökonomische Kollaps in den 80er Jahren war jedoch ein kontinentaler Trend, der auf die Schuldenkrise zurückzuführen ist. Die den ganzen Kontinent betreffenden Gemeinsamkeiten legten eine Gesamtlösung für alle betroffenen Länder nah, die unter dem Namen “Konsens aus Washington” bekannt geworden ist und die am Markt orientierte Anpassung der Wirtschaft der einzelnen Länder vorschlug. Der “Konsens aus Washington” – Strukturanpassung als Allheilmittel – kommt einem sehr allgemein gefaßten Plädoyer gleich, die lokalen Unterschiede zwischen den Ländern werden kaum beachtet. Pérez’ Minister betonten zwar des öfteren die spezifischen Bedingungen Venezuelas, wandten dann aber doch die allgemeinen “Gesetze” an.
Caldera in der Zwickmühle
In dieser immer drastischer werdenden ökonomischen Situation wurde der Außenstehende Rafael Caldera zum Präsidenten gewählt, Causa R, die Arbeiterpartei, bekam 22 Prozent der Stimmen, und generell hatten DissidentInnen größeren Einfluß auf den Ausgang der Wahl. Im Wahlkampf hatte sich Caldera auf die Seite derer gestellt, die das paquete ablehnen, was ja schon deutlich wurde, als er es nach dem ersten Putschversuch in einer Fernsehansprache massiv kritisierte. Aber Anklage allein wird nicht ausreichen, Caldera muß seine Wahlversprechen einhalten und eine fortschrittliche Alternative zur Mehrwertsteuer anbieten. Er muß einen Weg finden, wie Defizite ausgeglichen werden können, ohne den Preis für Benzin – der unter den Produktionskosten liegt – sowie all das, was vom Öl abhängt, unbezahlbar zu machen. Zudem liegt es an ihm, Wachstum zu stimulieren, ohne dabei die soziale Solidarität und den Schutz der Bevölkerung zu vergessen.
Mit den Umsetzungen der Reformen ist die Rolle des Staates, des privaten Kapitals und der lokalen Gemeinde wieder in Frage gestellt worden. In Venezuela, einem Land, wo die große Mehrheit in Armut lebt und Sozialismus nicht aktuell ist, werden momentan drei mögliche Optionen diskutiert: Von rechts nach links gesehen fordert die erste Fraktion ein neoliberales Programm nach dem Vorbild Pinochets oder Fujimoris. Auf diese Position stößt man automatisch, wenn man sich auf Gespräche mit Leuten aus dem Bereich des Business einläßt. Die zweite Position favorisiert “Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz”, es wird von einem sozialen Netz gesprochen, das die Armen auffangen soll, außerdem sollte die Notwendigkeit marktorientierter Reformen den Armen besser vermittelt werden. Diese Position geht auf die beiden traditionellen Parteien, AD und Copei, zurück. Beide Positionen brechen nicht mit der neoliberalen Logik, die besagt, daß eine Durststrecke unvermeidlich ist und die Last nicht von den Reichen getragen werden kann, da sonst die privaten Investitionen gefährdet wären. Folglich muß die Notwendigkeit der Durststrecke den Armen verständlich gemacht und von ihnen getragen werden.
Auf der Suche nach der kreativen, menschlichen Lösung
Als letztes bleibt der sozialdemokratische Vorschlag, der die Beteiligung der Armen nicht nur in Form eines Dialogs vorsieht, sondern die Interessen der Armen in dem Modell vertreten sehen möchte. Da ein aufrichtiges neoliberales Programm nur mit autoritären Methoden umgesetzt werden kann, in ähnlicher Weise, wie Pinochet und Salinas Politik verstanden, so bleibt als einzige demokratische Alternative ein Modell des “sozialen Kapitalismus”, oder auch der Sozialdemokratie. Die meisten sozialistischen und regimekritischen Christdemokraten, die die Koalition um Caldera bilden, sowie deren Koalitionspartner Causa R vertreten diese Position. Vielleicht holt Caldera auch einige Modelle aus einer ganz alten Kiste: Einbindung der Armen durch höhere Einkommen, die die Kaufkraft erhöhen und somit die Wirtschaft ankurbeln; Förderung des inländischen Marktes und die Protektion ausgewählter venezolanischer Firmen. Auch Elemente des paquete sollen herangezogen werden: Die Entwicklung einer Mikroindustrie, ausgewählte Privatisierung und die Öffnung des Marktes nach außen. Privates Kapital soll weiterhin den Motor der Wirtschaft bilden, jedoch kontrolliert von einem demokratischen, öffentlichen Sektor. Caldera glaubt, daß eine gerechtere Verteilung möglich ist, wenn das wirtschaftliche Wachstum dafür genutzt wird, das Humankapital zu fördern, sprich im Bildungsbereich und Gesundheitswesen eine Priorität zu setzen.
Im Gegensatz zu den Erfahrungen in anderen lateinamerikanischen Ländern haben die politischen Reformen eine verstärkte Demokratisierung in Venezuela bewirkt, insbesondere in der Zeit, in der die wirtschaftlichen Härtemaßnahmen eingeführt wurden. Die politischen Unruhen sind eine Folge. Die aktive Teilnahme von Basisorganisationen, unabhängigen Vereinigungen und politischen Parteien, die nicht von Eliten kontrolliert werden, läßt die Hoffnung für eine demokratische, basisorientierte Lösung realistisch erscheinen. Auf alle Fälle wird vieles von der Caldera-Koalition und Causa R abhängen. Die Mitte-Links-Koalition muß versuchen, kreative, menschliche Lösungen zu finden, um die akuten Probleme wie die Inflation und den Haushaltsausgleich bewältigen zu können, langfristig ist die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums unabdingbar. Das alte Paradigma des Systems, in dem der Staat für alles Sorge trägt, ist noch nicht vollständig überwunden. Es besteht die Chance, die momentane “Systemkrise” kreativ zu nutzen, da durch die Dezentralisierung ein neuer Blick auf die Basis möglich wurde. Die Form des neuen politischen Systems wird entscheidenden Einfluß darauf haben, wie Venezuela seine Krise überwinden wird.