Mexiko | Nummer 369 - März 2005

Jacarandoso und sein tanzender Hofstaat

Mexikos einzige Monarchie versteckt sich im südlichen Mérida in einem Altstadtviertel

Jahr für Jahr, ab Oktober, versammelt der Karnevalskönig Jacarandoso der Erste sein Volk um sich. Sein Haus wird zur Werkstatt, sein Hof zum Probenraum, wo sich jung und alt gemeinsam auf die fünfte Jahreszeit vorbereiten. Auf ihren großen Auftritt beim Karneval.

Dinah Stratenwerth

Hier, mitten in der Altstadt Méridas, residiert Jacaran-doso der Erste. Er regiert keine Beamten und braucht keine Soldaten. Sein Hofstaat besteht aus Tänzern und seine Schätze sind Federboas und Pailletten. Jacarandoso ist seit 25 Jahren einer der Höhepunkte des Karnevals in der tropischen Stadt. Fünf- bis sechshundert Tänzer wirbeln in der Karnevalswoche um ihn herum. Der gelernte Tanzlehrer denkt das ganze Jahr über an nichts anderes als an seine Choreographien.
Jacarandosos Viertel liegt im historischen Zentrum von Mérida. Die einstöckigen Häuser sind bunt und verschnörkelt, die Bürgersteige schmal. Das Schloss des Karnevalsmonarchen ist rosa-orange mit einem kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Tor. Bis zum ersten Auftritt auf dem Karneval ist noch eine Woche Zeit, und vor der Tür drängt Jacarandosos Gefolge. Hinter der Tür hat sich das großzügige Haus seit Oktober Stück für Stück in eine Werkstatt verwandelt. In einer Ecke stapeln sich blaue Federkronen, in einer anderen Silberne, und auf den Lampenschirmen sitzen Fantasiehüte. Und überall Menschen, die arbeiten: Ein Junge näht konzentriert an einer Rüschenhose. Zwei Mädchen basteln an einem silbernen Zepter.
Mittendrin waltet der König: Jacarandoso der Erste, eigentlich Marcelo Sanguinetti Briseño. Klein, gedrungen, mit einem gepflegten Schnauzbart und lebhaften Kulleraugen. Seine Haltung ist trotz des gemütlichen Bauches tänzerisch leicht.
Er sorgt für die Seinen und bestimmt, wo’s langgeht: „Hier herrschen Ordnung und Disziplin”, sagt er bestimmt in sattem yukatekisch: Die letzte Silbe wird immer ganz besonders betont.

Den Karneval machen wir, das Volk

Professionalität ist Sanguinetti wichtig, denn Karneval ist in Mexiko ein gesellschaftliches Ereignis. Er dauert eine Woche, bis zum Aschermittwoch. Am Haupttag fahren in Mérida vierzig bis fünfzig Gruppen mit geschmückten Wagen, Tänzern, Federkronen und riesigen Schultergestellen auf. Die meisten davon organisieren Schulen, Firmen oder die Stadtregierung.
Jacarandoso hingegen ist unabhängig. Seine Tanzgruppe repräsentiert das Volk, wie er sagt. Tänzer, die zu ihm kommen, müssen weder schön noch begabt noch jung sein. Sie müssen noch nicht einmal tanzen können. Nur eines ist Voraussetzung: „El espíritu del carneval!“ Lust auf’s Tanzen und Engagement. Und natürlich müssen sich alle Jacarandosos Ordnung und Disziplin beugen. Das wollen viele. Die Kleinsten sind gerade mal sechs Jahre alt. Violetta, heute Mitte zwanzig und die rechte Hand des Königs, hat genau in diesem Alter angefangen. Sie kennt alle Namen, Kostüme und Tänze. Dennoch steht fest: Jacarandoso der Alleinherrscher erfindet die Choreographien, er entwirft die Kostüme. Er weiß jetzt schon, was er beim nächsten Karneval machen will.
Mario Sanguinetti selbst war mit elf das erste Mal Karnevalskönig seiner Schule. Er lernte tanzen und später lernte er, es zu lehren. Nebenbei dekoriert er noch Kirchen und Tanzsäle für Hochzeiten und Geburtstage. Glanz und Tanz das ganze Jahr über. 1980 nahm Sanguinetti das erste Mal mit seiner Gruppe beim Karneval in Mérida teil und wurde zum Karnevalskönig ernannt. Daher stammt sein Name: „Jacarandoso”, der Lustige, der Tanzwütige. Der Name blieb, und obwohl er nicht jedes Jahr König war, behielt er doch seine kleine Monarchie, und sein Reich wuchs.
Mit Politik hat das alles nichts zu tun. „Ich bin neutral”, sagt der Spaßsouverän. Das Karnevalskomitee ist von der Stadtregierung abhängig und ändert sich daher bisweilen nach den Wahlen. Aber das schert Jacarandoso wenig. Er arrangiere sich mit allen, meint er selbstbewusst. „Den Karneval machen wir, das Volk. Nicht irgendwelche Politiker.” Deswegen bezahlt er auch fast alles aus eigener Tasche. Nur die Lastwagen und die Getränke sind von Coca Cola gesponsert.

Die Generalprobe

Inzwischen sind es Hunderte, die den tanzenden Hofstaat bilden. Der Hof hinter dem Haus ist der Freiluft-Probenraum. Kurz vor der Probe stehen hundertfünfzig Jugendliche herum, streiten, lachen, balgen sich. Dann kommt der König mit der Trillerpfeiffe. Drei scharfe Triller und die ersten Takte der Musik, und plötzlich stehen alle in Reihen, aufrecht, den linken Arm erhoben, erwartungsvoll. Ein weiterer Pfiff, und die Masse beginnt sich synchron zu bewegen. Hier im Hof in San Sebastián tanzen noch alle mit Badelatschen oder barfuß, manche kauen verträumt Kaugummi.
Eine Woche später sind die Tänzer wie verwandelt. Ihre Bühne ist eine Andere: Am Samstag vor Fasching sammelt sich die ganze Truppe um fünf Uhr nachmittags auf dem Paseo Montejo, der Prachtstraße von Mérida, an einem Kreisverkehr.
Jacarandoso trägt einen knallpinken Glitzeranzug mit Puffärmeln und Schlaghosen, an denen Glocken baumeln. Klingelnd läuft er zwischen seinen vielfarbigen Schützlingen hin und her. Sein Gesicht ist rot geschminkt und zugleich rot angelaufen, denn jetzt wird es ernst. Die fast sechshundert Komparsen stehen für vier Orte, an denen Karneval gefeiert wird: New Orleans, Kuba, Brasilien und Venedig. Gesehen hat Jacarandoso all diese Orte nur auf Video. Er ist nie aus seinem Bezirk herausgekommen. Ihm reicht die Welt als Karneval.
Jacarandoso gibt kurze und knappe Anweisungen. In diesem Moment ist er nicht freundlich, sondern ein Profi, der gute Arbeit abliefern will. Das, so sagt er, sei er dem Volk schuldig. Er schiebt die Gruppen an ihre Plätze: drei Gruppen vor dem flatternden Drahtgestell, auf dem er selbst tanzen wird, drei dahinter.

Alle wollen den König sehen

Es ist mehr Vorfreude als Nervosität zu spüren, als es endlich losgeht. Die ersten Tänzer, in weiß mit Flitterröcken, ziehen in den Kreisverkehr. Hinter den Absperrungen drängen sich die Zuschauer, alle paar Meter wird Jacarandoso auf einer Bühne angekündigt. Immer wieder werden mit Lachen ins Publikum die Choreographien getanzt. Der Stolz ist jedem anzusehen, ob Kind oder Erwachsener, und alle sind schön mit ihrem Glitzer im Gesicht.
Die Tänzer von Jacarandoso nehmen fast einen Kilometer des Karnevalsumzugs ein. Mittendrin wirbelt der König in seinem rosa-weißen Federgestell wie ein riesiger Wattebausch herum. Von der vierspurigen Prachtstraße geht es in die engen Gassen der Altstadt. Die Musik hallt von den Häusern wieder und das Publikum klatscht im Takt. „Da ist Jacarandoso”, rufen sie immer wieder, damit ihn nur ja niemand verpasst.
Der Wattebausch-König versichert, er sei nicht eitel. Doch als er das Publikum grüßt und immer wieder die seidenen Flügel bewegt, die hinter ihm her flattern, wirkt er selbstverliebt.
Der Zug endet auf einem Kirchplatz in der Altstadt. Jacarandoso steigt aus seinem Gestell und zieht sich seinen Anzug aus. In Unterhemd und blauer Radlerhose setzt er sich auf den Boden, lehnt sich an eine Mauer und sieht gar nicht mehr majestätisch aus. Ein paar Kinder kommen zu ihm, versuchen ihm die Glitzerschminke aus dem Gesicht zu kratzen und kuscheln sich an ihn. Die Erschöpfung macht den König seinem Hofstaat gleich. „Das mache ich nie wieder”, sagt Jacarandoso und lacht dabei. Denn er weiß genau, dass es nicht stimmt. Noch drei Tage lang wird er mit seinem Hofstaat in Méridas Straßen tanzen.
Wäre er gerne ein echter König? „Warum nicht?”, lächelt er verschmitzt, „es lohnt sich, zu träumen.”

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