Haiti | Nummer 361/362 - Juli/August 2004

Katastrophe hausgemacht

Überlebenden der Flut droht jetzt die Willkür der Behörden

Die verheerende Flutkatastrophe auf der Karibikinsel forderte tausende von Menschenleben und beraubte die Bevölkerung in den überschwemmten Gebieten ihrer Existenzgrundlage. Nach den reißenden Wassermassen leiden die Betroffenen nun unter der verebbenden Hilfe und der Furcht vor den Behörden.

Hans-Ulrich Dillmann

Bonicia Antoine wollte sich gerade hinlegen. Ihr Mann schlief schon. Die Kinder, ein zweijähriger Junge und ein fünfjährige Mädchen, hatte sie schon zu Bett gebracht. Es war Mitternacht, die Nacht zum 24. Mai. Es schüttete wie bei der Sintflut;, sagt sie mit leiser Stimme. In der Hochebene von Mapou, knapp 50 Kilometer Luftlinie von der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, sind die Menschen an starke Regenfälle gewöhnt. Im Mai ist Regenzeit und im Mai wird gepflanzt. Bonicia lebte in einer kleinen Hütte, deren Wände aus geflochtenen Weidenästen bestanden. Das Dach war aus Palmblättern. Wasser floss unter der Tür durch, aber das schreckte die 24 Jahre alte Frau nicht. Dann brach die fragile Eingangstür mit einem berstenden Knall, die Schlammfluten rissen alles mit. Ihren Mann und die Kinder verschluckte das Wasser. Bonicia kämpfte gegen die reißende Strömung, mit letzter Kraft gelang es ihr, in die Krone einer Kokospalme zu klettern, so hoch stand das Wasser. Zwei Tage verbrachte sie dort.
Knapp 30 Kilometer Luftlinie entfernt ergoss sich zur gleichen Zeit eine riesige Flutwelle aus den haitianischen Bergen über die dominikanische Grenzstadt Jimaní. Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich die KaribikinselHispaniola;, wie sie die spanischen Eroberer nannten. Janin Desir hat ihre gesamte Familie verloren. Ihren Mann habe man tot aufgefunden, ebenso zwei Töchter, berichtet sie mit unbeweglichem Gesicht. Meine Adoptivtochter und drei weitere Kinder hat der Fluss mitgenommen. Vor neun Jahren war die Frau mit ihrem Lebensgefährten aus dem Nachbarland Haiti gekommen, dort gab es noch weniger zu essen. Hier fand der Familienvater wenigstens ab und an als Gelegenheitsarbeiter ein ärmliches Einkommen. Die Familie lebte in einer kleinen Hütte in Stadtteil La Cuarenta, im unmittelbaren Überflutungsbereich des Río Blanco, aber der hat seit Jahren kein Wasser mehr getragen. Sie selbst hat die Flut nur überlebt, weil sie in Santo Domingo, der dominikanischen Hauptstadt, als Hausmädchen arbeitet, vier Stunden Fahrzeit entfernt. Kopflos hat sie ihre Arbeitsstelle verlassen und ist nach Hause geeilt.
Der Stadtteil La Cuarenta war ein Armutsviertel am Rande der dominikanischen Grenzstadt. Die letzte Volkszählung von Oktober 2002 hat dort 226 Häuser registriert, viele aus Lehm gebaut oder mit Holzlatten zusammengeschustert und mit Wellblech gedeckt. Zwölf davon sind stehen geblieben. Knapp 1.000 Menschen haben hier nach offiziellen Angaben gelebt, davon ein Drittel Kinder. Die Zahlen dürften schon vor knapp zwei Jahren nicht korrekt gewesen sein. Niemand weiß wirklich, wie viele Menschen in der kreuz und quer gebauten Häuserlandschaft gelebt haben.

Angst vor der Hilfe
Ein Großteil der Bewohner von La Cuarenta sind MigrantInnen aus dem nahe gelegenen Haiti. Sie existieren offiziell nicht, werden aber geduldet, solange sie miese Arbeitsbedingungen akzeptieren und für Hungerlöhne auf den wenigen bebauten Flächen schuften oder sich als TagelöhnerInnen in der Umgebung bei Bauarbeiten verdingen. Die Sin Papeles haben Angst, zum Teil halten sie sich noch immer in den Trümmern und halb eingestürzten Gebäuden versteckt, andere haben sich in Kirchen gerettet oder sind in der hinter Jimaní beginnenden Gebirgslandschaft verschwunden. Weil sie keine gültige Aufenthaltsgenehmigung und zum Teil noch nicht einmal haitianische Ausweispapiere besitzen, fürchten sie, festgenommen und in die Nachbarrepublik, die noch schlimmer von der Unwetterkatastrophe heimgesucht wurde, abgeschoben zu werden. Razzien waren in La Cuarenta keine Seltenheit. Wer dann nicht das nötige Kleingeld hatte, um die MigrationsbeamtInnen gnädig zu stimmen, landete auf der anderen Seite der Grenze. Jetzt traut sich niemand, Hilfe zu reklamieren, sagt Solange Pierre vom Movimiento de Mujeres Dominico-Haitianas (MUDHA). Die Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen versucht jetzt mit Unterstützung der Diakonie Katastrophenhilfe diesen MigrantInnen zu helfen.
Aber das ist ein Teufelskreislauf. Die haitianischen WanderarbeiterInnen melden sich nicht bei den Behörden. Für die dominikanische Katastrophenhilfe existieren die Menschen offiziell nicht, weil sie nicht belegen können, dass sie in Jimaní gemeldet sind und damit haben sie auch keinen Anspruch auf Hilfe. Das dominikanische Militär ist inzwischen dazu übergegangen, die überlebenden haitianischen Sin Techos in Lagern unterzubringen, umgeben von Stacheldraht und bewaffneten Posten. Die Haitian@s dürfen das Lager nur mit Genehmigung verlassen. Viele fürchten, sagt Solange Pierre, deren Eltern einst aus Haiti in die Dominikanische Republik einwanderten, dass sie abgeschoben würden.
405 offizielle Tote auf dominikanischer Seite hat die Defensa Civil registriert, knapp 250 werden als vermisst bezeichnet. Die Mehrzahl davon dürfte in den Massengräbern gelandet sein, die überhastet ausgehoben wurden, um der Seuchengefahr zu begegnen. In der haitianischen Region Belle-Anse ist die Situation wesentlich schlimmer gewesen. Das UN-Büro für die Koordinierung von humanitärer Hilfe OCHA nennt die Zahl von über 1100 gefundenen Toten, noch immer würden 1.600 Personen vermisst.

Düstere Aussichten für Haiti
Die Bilder aus der Region um Fonds Vérettes, Thiotte und Mapou waren grauenerregend. Leichen hingen in den Baumwipeln. Manche Teile der verschiedenen Hochebenen glichen riesigen Staubecken, in denen sich das Brackwasser angesammelt hatte, zum Teil drei bis fünf Meter hoch so hoch, dass einige wenige sich in die Wipfel von Kokospalmen retten konnten. In den ersten Wochen waren die Menschen dort auf Lebensmittelversorgung aus der Luft angewiesen, die einzige Zugangsstraße in die Region über Fonds Vérettes war völlig zerstört. Private Hilfsorganisationen charterten Hubschrauber, um wenigstens einen Teil der Nahrungsmittel schnell vor Ort zu schaffen. Unterstützt wurden sie anfänglich von US-Hubschraubern, die als Teil der internationalen Streitkräfte seit dem erzwungenen Abmarsch von Ex-Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide die Sicherheit im Land garantieren sollten.
Nach einer knappen Woche stellten die US-Streitkräfte allerdings ihre Hilfsflüge ein. Begründung: Durch die Übernahme des UN-Blauhelmmandats zum 1. Juni gebe es kein Mandat für die Flüge. Eine zynische Argumentation angesichts der Notlage. Die Flut hat sämtliche Lebensmittelvorräte der Menschen zerstört, vielen ist nur das geblieben, was sie in jener Nacht auf dem Leibe trugen. Zurzeit ist Pflanzzeit. Die Vorräte sind aufgebraucht, sagt Ute Braun von der Deutschen Welthungerhilfe. Hier in dieser Gegend ist es schon zu normalen Zeiten schwierig, sich ausreichend ernähren zu können. Das durchschnittliche Tageseinkommen beträgt laut einer offiziellen Statistik gerade mal 40 Cent. Die Deutsche Welthungerhilfe unterhält in der Gegend ein Wiederaufforstungsprojekt. Seit Mai vergangenen Jahres versucht die Welthungerhilfe unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung Baumschulen aufzubauen, um langfristig die Berge wieder zu bewalden. Forêt des Pins, die größte Forstreserve des Landes, ist durch Raubbau reichlich gerupft worden von den ansässigen Köhlern und skrupellosen Holzhändlern. Die einstmals 38.470 Hektar große Waldfläche hat sich auf einen zusammenhängenden Waldbestand von circa 10.000 Hektar reduziert. Mit ein Grund, warum die sintflutartigen Regenfälle Ende Mai den Boden von den Felsen gewaschen und in das Hochtal gespült haben.

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