Literatur | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Keine Flucht vor der Wirklichkeit!

Der salvadorianische Literaturwissenschaftler Ricardo Roque Baldovinos über Möglichkeiten und Grenzen politischer Literatur in den 90ern

In der Mai-Ausgabe der LN (Nr. 287) plädierte
Mario Delgado Aparaín dafür, nicht zwischen politischer und unpolitischer, sondern zwischen guter und schlechter Literatur zu unterscheiden. In der April-Ausgabe (Nr. 286) hatte Carlos Monsiváis von den SchriftstellerInnen der 90er das Engagement für das geschriebene Wort selbst verlangt. Der letzte Beitrag von Cristina Nord (LN Nr. 289/290) befaßte sich mit dem politischen Gehalt der jüngsten Literatur Nicaraguas. Unser jetziger Autor sieht die Potentiale einer post-utopischen politischen Literatur vor allem darin, uns auf neue Formen und Möglichkeiten politischen Tuns zu verweisen.

Ricardo Roque Baldovinos

Bevor ich hier in die Debatte einsteige, würde ich gerne klarstellen, daß ich mich von solchen Rundumschlägen wie „alle Literatur ist politisch“ (Siehe LN Nr. 286 S.30) distanziere. Diese haben ihren Ursprung in der totalitarismusverdächtigen Annahme, daß letztendlich alles Politik sei. Solch lapidare Behauptungen sind nicht nur zweifelhaft und geschwollen, sondern führen uns schnell in eine theoretische und ethische Patsche. Politik besitzt einen eigenen Geltungsbereich: Die Welt der Machtbeziehungen zwischen Menschen, sowie zwischen Regierung und Gesellschaft. Und natürlich gibt es eine Literatur, die nicht politisch, ich meine, nicht ausdrücklich politisch ist. Trotzdem ist sie gerechtfertigt und würdig, gelesen zu werden.

Politische Literatur und Realismus

Natürlich kann es politische Literatur geben. [Replik des Autors auf einen ästhetischen Fundamentalismus der Äußerungen mit politischem Gehalt den Literaturstatus absprechen will, Anm. d. Red] Politische Literatur bemüht sich nun darum, das konfliktreiche und antagonistische Zusammenleben von Menschen ästhetisch auszuleuchten.
Darüber gab es schon in der Antike und auch unter den Literaten der Aufklärung bereits Auseinandersetzungen. Ihre moderne Gestalt nahm diese Auseinandersetzunng im 19. Jahrhundert an. Die damals formulierte realistische Ästhetik war jedoch ziemlich konfus und vereinfachend, denn sie war vom wissenschaftlichen Positivismus geprägt, dem Glauben, daß Wissenschaft sich ausschließlich an Tatsachen orientiert. So konnte sie die Besonderheiten des ästhetischen nicht erfassen, und ästhetische Fragen wurden mit erkenntnistheoretischen Fragen verwechselt. Der Anspruch des Realismus, und stärker noch des Naturalismus, eine Quelle der empirischen Erkenntnis über menschliches Leben zu sein, wurde durch die Entwicklung der Sozialwissenschaften logischerweise überholt.
Auch Lukács’1 Versuche, den Realismus vor dem theoretischen Bankrott zu bewahren, erwiesen sich, trotz ihres soliden philosophischen Fundamentes, als unfruchtbar. Hauptsächlich weil er versuchte, die Verwicklungen der Avantgardebewegung in das literarische System des 20. Jahrhunderts zu leugnen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Der „Sozialistische Realismus“ wurde offizielle ästhetische Kategorie des Stalinismus. So war er nicht nur starre Vorschrift, sondern gar die Ausrede für die plumpesten Zensurmaßnahmen.

Das Gespenst des Sozialistischen Realismus

Seitdem existiert eine verständliche Angst davor, in die oben beschriebenen Fehler zurückzufallen. Das ästhetische Fundament politischer Literatur war schwer erschüttert.
Der sartreanische Engagement-Begriff (1948) war ein Versuch, diesen Zustand zu überwinden, er führte aber eigene Unzulänglichkeiten mit sich. Sartre steht so für eine, wenn auch verschleierte, Intoleranz gegenüber nicht-engagierten künstlerischen Äußerungen, und verurteilt diese implizit, einige wie die Lyrik sogar prinzipiell.
In seinem Buch teorías del realismo literario trägt der Spanier Darío Villanueva einiges zu dieser Diskussion bei. So kann eine auf das Politische ausgerichtete Ästhetik begründet werden, die nicht gleich in ideologische Leibeigenschaft, Vorschrift oder Verpflichtung zum persönlichen Engagement verfällt. Villanueva spricht nicht von einem „genetischen“ Realismus, der sich darum bemüht die Realität wahrheitsgetreu nachzuahmen, sondern von einem „intentionalen“ Realismus. Er meint damit eine Art und Weise, mit der Sprache zu spielen, die die LeserInnen durch den Aufbau des Textes in das Geschehen gewissermaßen miteinbezieht. Die Aufgabe des Realismus ist dann nicht mehr, die Wirklichkeit wahrheitsgetreu abzubilden, sondern LeserInnen mit literarischen Mitteln auf die sie umgebende Wirklichkeit zu verweisen, und ihnen dadurch einen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus zu ermöglichen. Auf diese Weise wird Villanueva dem Spiel zwischen formaler Erneuerung und Wirklichkeitsbezug gerecht, das die traditionellen Realismustheorien übersehen hatten.

Die Banalisierung des Magischen Realismus

Aus dieser Perspektive läßt sich der „Magische Realismus“, oder die Ästhetik des Real-Wunderbaren, als echter Realismus begreifen. Nämlich als ein neuer Realismus, der uns unbekannte Dimensionen der Wirklichkeit der periferen Länder eröffnet, die zu erkennen die Romanciers des 19. Jahrhunderts außerstande waren: Die Koexistenz verschiedener Zeitigkeiten innerhalb ein und desselben sozialen Raumes.
Dieses ästhetische Paradigma erschöpft sich momentan. Die Verstädterung auch des kulturellen Lebens verlangt offensichtlich andere ästhetische Mittel als das Real-Wunderbare, das ja ursprünglich, wie bei García Márquez Hundert Jahre Einsamkeit, in der dörflichen Sphäre oder in der Wildnis (z.B. Die verlorenen Spuren von Alejo Carpentier) angesiedelt ist. Aber auch eine gewisse Banalisierung im Literaturbetrieb selbst ist für diesen Niedergang verantwortlich. Denken wir nur an die Werke von Laura Esquivel2, Salman Rushdie und andere Nachahmer, denen das Real-Wunderbare ein gefundenes Fressen war, um ihre Bestseller auf den Markt der Kulturgüter zu werfen. So ist das Real-Wunderbare heute zu einem Synonym für Exotismus geworden und damit zu einer neuen Form der Verschleierung von Wirklichkeit und nicht deren Enthüllung.
Dessen ungeachtet zeigt das Beispiel des Real-Wunderbaren, wie eine künstlerische Praxis aus ästhetischer Sicht innovativ sein und sich gleichzeitig auf Dimensionen der Wirklichkeit beziehen kann, die besonders die Welt des Politischen betreffen. Die Möglichkeiten für eine ästhetische Praxis dieser Form sind noch keinesfalls erschöpft. Ich wage sogar, gegen die Proklamierer des Todes der Kunst zu behaupten, daß sie sogar unerschöpflich sind, und zwar einfach deshalb, weil die Realität unerschöpflich ist. Dennoch meine ich, daß die Organisationsstrukturen literarischer Institutionen diese Möglichkeiten erheblich behindern und den Verlust an Schlagkraft und Originalität der lateinamerikanischen post-boom-Literatur in einem Großteil erklären.
In den 60er und 70er Jahren gab es für die Literatur die Möglichkeit, ästhetische Qualität und Engagement unter einen Hut zu bekommen. Denn die Mittelschichten mit Zugang zur ästhetisch orientierten Kultur identifizierten sich erstaunlich weitgehend mit den Projekten der Linken, egal ob diese nun reformistisch oder revolutionär waren.
Heutzutage, in den 90ern, spiegeln die Neuerungen auf dem Gebiet der literarischen Produktion zumindest teilweise, wichtige Veränderungen der Ansprüche der KulturkonsumentInnen wider. Diese veränderten Ansprüche erklären stärkere Abhängigkeit der Schriftsteller gegenüber den ökonomischen Imperativen des Buchmarktes.
Literatur spielt eine immer nebensächlichere Rolle bei der Erweiterung des Horizontes der LeserInnen und wird immer mehr zu einem Markt sozial prestigeträchtiger Güter. Kurz gesagt: Niemand liest, um seine Weltsicht zu erweitern, sondern man konsumiert Bücher, um zu einer bestimmten sozialen Klasse zu gehören.

Verlust des Engagements

Es ist nicht verwunderlich, daß der Verlust des politischen Engagements heute besonders spürbar ist. Das Bedürfnis, die künstlerische Freiheit gegenüber einigen um des Engagements willen begangen Exzessen zu verteidigen, hat zum anderen Extrem geführt: man zelebriert die narzistische Flucht vor der Wirklichkeit und in einigen Fällen schlicht und ergreifend die persönliche und soziale Verantwortungslosigkeit. Hier tut eine Erklärung not. Ich denke keinesfalls, daß eine Literatur, die vor allem den innermenschlichen Dimensionen des Realen nachgeht, notwendigerweise eine narzistische Flucht vor der Wirklichkeit darstellt. Im Gegenteil: in Gesellschaften, die unter totalitärer Herrschaft leiden oder gelitten haben, ist das Einfordern eines individuellen Bereiches eine dringende politische Verpflichtung. Auf der anderen Seite ist eine „anklagende“ Literatur, die sich auf Klischees und Gemeinplätze stützt, ein eindeutiges Beispiel für eine Verschleierung der Wirklichkeit.
Die aktuelle Krise der Paradigmen und die postmoderne Mode hat nun denjenigen Ideen Geltung verschafft, die die Unzugänglichkeit des Wirklichen, die Verantwortungslosigkeit und die narzistische Flucht ins Ich proklamieren. All diese Ideen verkaufen sich deswegen, weil sie der Selbstgefälligkeit einer Leserschaft schmeicheln, die sich mit einer verwirrenden und unverständlichen Welt konfrontiert sieht.

Neue Utopien

Auf der anderen Seite halte ich es für illusorisch, den Optimismus von früher und vor allem den Glauben an die „großen Erzählungen“3 wiederbeleben zu wollen. Dieser Glaube hat sich in Lateinamerika in einer geradezu mystischen Gewißheit von einer nahenden Umwälzung der sozialen Ordnung geäußert. Es gibt objektive Gründe, warum dieser Glaube eine Illusion ist. Aber gerade die Anerkennung dessen verlangt eine Neudefinition der Beziehung zwischen Literatur und Politik, oder wenn man so will des Engagement-Begriffs selbst.
Ich glaube, daß Engagement in der Literatur heute nicht bedeuten kann, sich in den Dienst der Utopien und der „großen Erzählungen“ zu stellen. Dies schließt aber keinesegs eine bestimmte utopische Dimension des Engagements für das Wirkliche aus, wenn es wahrhaftig erfahren wurde. Ich halte es, zumindest als Kritiker, für vernünftig zu erwarten, daß uns die Literatur auf das Wirkliche verweist. Literatur soll uns das Wirkliche in seiner unerwarteten Dimension präsentieren, die uns zu dem Anderen führen, zu dem, was wir selbst nicht sind. Da das Politische eine wichtige Komponente des Wirklichen ist, können wir hoffen, daß es eine Literatur gibt, die uns auf das Politische verweist, allerdings nicht in seine konventionellen Form, sondern auf neue Dimensionen, die unser Verständnis vom Politikmachen erweitern und erneuern. Gleichzeitig fühle ich mich als Kritiker dazu verpflichtet, zu bestimmen, wann ein Werk oder eine schriftstellerische Mode mir die Wirklichkeit verschleiert oder mir eine bequeme Fluchtmöglichkeit bietet.
Karl Kraus4 pflegte zu sagen, es verlange nicht nur formale Fertigkeiten sondern auch moralische Größe, ein Künstler zu sein. Hier sind wir bei der klassischen Unterscheidung zwischen Rhetorik und Poetik. Der Rhetoriker ist der Wortgewandte, der das Wort aber letzlich nur als Instrument benutzt, um einen schönen Schleier über die Lüge zu legen, und Hörer- oder LeserInnen zu verführen. Dichter zu sein erfordert Geschicklichkeit, aber das ist nicht alles. Es verlangt eine Wahrhaftigkeit im Ausdrucks, so daß sich die Wirklichkeit bei der Lektüre des Werkes offenbart. Die moralische Größe des Dichters liegt im künstlerischen Engagement für die Wirklichkeit. Das ist der einzige Weg, wie das Gespenst der Belanglosigkeit in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur gebannt werden kann.
Übersetzung: Markus Müller

Der Autor ist Professor für Literatur an der Universidad Centroamericana in San Salvador, El Salvador und Leiter der vom salvadorianischen Bildungsministerium herausgegebenen Zeitschrift Cultura.

Anmerkungen:
1Georg Lukács (1885-1971). Marxistischer Literaturhistoriker und Philosoph. Erarbeitete die Grundlagen einer marxistischen Ästhetik.
2Laura Esquivel veröffentlichte den Bestseller Como agua para chocolate (dt. „Bittersüße Schokolade“) der auch verfilmt wurde.
3Hiermit sind die großen Ideologien wie Kommunismus, Liberalismus etc. gemeint. Deren Ende sah der französische Philosoph Jacques Derridà bereits 1978 und läutete damit die Debatte um das „Postmoderne Wissen“ ein.
4Deutscher Schriftsteller (1874-1936). Gründer der Zeitschrift „die Fackel“.

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