KLEIN, ABER DIVERS
Auf der 73. Berlinale gibt es zwar nur 24 Filme aus Lateinamerika zu sehen, dafür ist das Themenspektrum umso größer
Tótem Der Film der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés geht als einziger Kandidat aus Lateinamerika im Berlinale-Wettbewerb an den Start (Foto: Limerencia)
Die Lateinamerika Nachrichten werden wie auch in den Vorjahren zahlreiche lateinamerikanische Filme auf der Berlinale rezensieren. Die Rezensionen erscheinen in den kommenden Wochen auf unserer Homepage!
Normalität ist vermutlich eines der Dinge, nach dem sich die Veranstalter*innen der Berlinale und mit ihnen viele Filmemacher*innen rund um den Globus in den vergangenen drei Jahren am meisten gesehnt haben. Die Pandemie hat ihren größten Schrecken mittlerweile verloren, Spuren hinterlassen haben die vergangenen Jahre aber dennoch. Die Auswirkungen (vor allem finanzieller Art) behinderten spürbar den Output der cineastischen Produktion. Vielleicht mag das ein Grund sein, warum es dieses Jahr aus Lateinamerika einige Filme weniger in das Programm der Berlinale geschafft haben. Etwas schade ist, dass im Wettbewerb nur der mexikanische Beitrag Tótem laufen wird. Regisseurin Lila Avilés erzählt darin aus der Perspektive eines Mädchens, wie eine Überraschungsfeier für ihren Vater aus dem Ruder läuft und die Brüche innerhalb der Familie offenlegt.
In der avantgardistischen Sektion Encounters finden sich mit Adentro mio está bailando (Argentinien) und Eco (Mexiko) zwei Dokumentationen über Klezmer-Musik bzw. das Leben im peripheren ländlichen Raum. Gut besetzt ist die beim Publikum beliebte Sektion Panorama mit vier Filmen: In El Castillo (Argentinien) bekommt eine ehemalige Hausangestellte ein verfallenes Landhaus in der Einöde vererbt. Propriedade (Brasilien) folgt der Großgrundbesitzerin Teresa, deren Landgut von revoltierenden Arbeiter*innen besetzt wird. Ein junger Soldat kommt in Heroico (Mexiko) in einer brutalen Militärakademie an seine Grenzen. In der Doku Transfariana (Kolumbien) nähern sich eine ehemalige trans*-Sexarbeiterin und ein FARC-Rebell im Gefängnis einander an. Und in The Eternal Memory (Chile) dokumentiert Regisseurin Maite Alberdi die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes.
Aus Chile kommt auch der Schriftsteller und Regisseur Antonio Skármeta, der in Aufenthaltserlaubnis aus dem Berliner Exil heraus mit anderen Dissidenten das Ende mehrerer Autokratien feiert. Der Film läuft in der Sektion Forum Special, zusammen mit A Rainha Diaba (Brasilien), einem Film über die Königin der Gangster von Rio de Janeiro zur Zeit der Militärdiktatur. Zur gleichen Zeit spielt auch El Juicio (Argentinien), eine dreistündige packende Dokumentation über den Gerichtsprozess 1985, der die größten Verbrecher der argentinischen Militärjunta (1976-83) ins Gefängnis brachte. Ein weiterer Dokumentarfilm (wie El Juicio aus der Sektion Forum) ist Llamadas desde Moscú (Kuba), der kubanische Migrant*innen in Moskau zur Zeit des Beginns des russischen Angriffskriegs ab 24. Februar 2022 gegen die Ukraine begleitet. Der einzige Film in der regulären Sektion Forum ist El rostro de la Medusa (Argentinien). Dort wacht eine Frau eines Tages mit verändertem Gesicht auf.
Kakteen, magischer Realismus und queere Geschichten
Die Jugendfilm-Sektion Generation (2022 gewann dort die Doku Alice aus Kolumbien den Hauptpreis) hat mit acht die meisten Filme aus Lateinamerika zu bieten. Adolfo (Mexiko) ist der Name eines Kaktus, der auf magische Weise das Leben zweier Jungen verändert. In Desperté con un sueño (Argentinien) muss ein junger Schauspieler den Traum von der Theaterkarriere vor seiner Mutter verheimlichen. Magischen Realismus gibt es in Infantaria (Brasilien), einer Geschichte über drei Teenager auf einer Geburtstagsparty in der Natur, zu sehen. Hummingbird (USA) durchtanzt mit den Migrantinnen Beba und Silvia lange Sommernächte in Texas an der Grenze zu Mexiko. In Ramona (Dominikanische Republik) kontaktiert die 15-jährige Camila aus wohlhabender Familie schwangere Teenagerinnen, um sich auf eine Schauspielrolle vorzubereiten.
Queere Geschichten erzählen Mutt (USA), eine Coming-of-Age-Story aus New York über die Latin-trans*- Person Feña und Almamula (Argentinien), wo der Teenager Nino vor homophoben Angriffen in ein Haus in einem Wald flüchtet, in dem ein Monster wohnt. Schließlich behandelt der Generation-Kurzfilm Antes de Madrid (Uruguay) die Abschiedsnacht von Micaela mit ihrem Freund Santiago, bevor sie nach Spanien zieht. Gespannt darf man auch auf den Kurzfilm As miçangas (Brasilien; Berlinale Shorts) mit Schauspielstar Karine Teles sein, in dem zwei Frauen sich in ein Ferienhaus zurückziehen, um eine medikamentöse Abtreibung durchzuführen.
Überraschenderweise sind diesmal auch in der Sektion Perspektive Deutsches Kino zwei je 30-minütige Filme aus Deutschland, aber mit starkem Lateinamerika-Bezug zu finden: In El secuestro de la novia sorgt der Hochzeitsbrauch der Brautentführung bei einem deutsch-argentinischen Paar für Schwierigkeiten. Und das Kurzmusical Ash Wednesday behandelt Polizeiwillkür und Rassismus in einer Favela am letzten Karnevalstag.
Alles in allem ist die Auswahl an lateinamerikanischen Filmen diesmal mit 24 Beiträgen etwas kleiner als zuletzt. Das sehr diverse Themenspektrum sollte aber trotzdem wieder für ein tolles und interessantes Berlinale-Kinoerlebnis made in Latinoamérica sorgen.
Die Lateinamerika Nachrichten werden wie auch in den Vorjahren zahlreiche lateinamerikanische Filme auf der Berlinale rezensieren. Die Rezensionen erscheinen in den kommenden Wochen auf unserer Homepage!